Serie "Frieden" auf Arte

Der Mythos von der Schweizer Neutralität

14:38 Minuten
Ein Mann hält mit ängstlichem Gesichtsausdruck einem Uniformierten ein amtliches Dokument entgegen.
"Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf Geschichte", sagt Petra Volpe, die Autorin der Serie „Frieden“. © SRF / Sava Hlavacek
Petra Volpe im Gespräch mit Patrick Wellinski · 27.03.2021
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Die Schweiz war während des Zweiten Weltkriegs mitnichten eine neutrale Nation. Petra Volpe zeigt in ihrer TV-Serie „Frieden“ auf, wie eng Schweizer mit Nazis auch nach dem Krieg kooperierten.
Patrick Wellinski: Frau Volpe, ihre Serie "Frieden" spielt im Frühling 1945, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeigen durch das Schicksal einer Gruppe vor allem junger Figuren die Genese der Schweizer Nachkriegsordnung. Wie sah denn die Situation im Frühling 1945 in der Schweiz aus, was war das für ein Land damals?
Petra Volpe: Das war auf jeden Fall ein nicht annähernd so zerstörtes Land wie Deutschland oder auch Frankreich. Die Schweiz ist sehr unberührt geblieben vom Krieg. Viele Flüchtlinge, wenn man so Flüchtlingsberichte liest aus der Zeit, die kamen in die Schweiz und die hatten das Gefühl, sie sind im Paradies. Die Märkte waren voll mit Menschen, es sah alles sehr unberührt aus. Natürlich gab es auch Armut in der Schweiz, man hatte nicht genug zu essen und so, das ist schon nicht so, dass alles rosig war. Aber im Vergleich mit der extremen Zerstörung in ganz Europa rundherum und mit allen Displaced People, die überall unterwegs waren, mit der zerstörten Infrastruktur auch in Deutschland, wenn man sich so die Statistiken anguckt, dann kann man schon sagen, dass die Schweiz eine fast unberührte Insel geblieben ist.

"Das ganze Raubgut der Nazis, in Devisen umgesetzt"

Wellinski: Es herrscht ja dieser Mythos vom neutralen Land, aber die Menschen waren nicht immer so neutral, das sehen wir ja in Ihrem Film. Sie gehen auch mit diesem Mythos der neutralen Schweiz recht hart ins Gericht. War das auch eine Art Plan, als Sie die Serie konzipiert haben?
Volpe: Ja, das hat sich einfach bei den Recherchen rausgestellt, dass diese Neutralität in der Tat ein Mythos ist. Ich meine, das ist bis heute ein Begriff, der viel diskutiert wird in der Schweiz, wie neutral ist ein Land, das auch Waffen herstellt für andere Länder, wie neutral ist ein Land, das starke Wirtschaftsbeziehungen hat zu Ländern, die Krieg führen. Und das war natürlich ein riesiges Thema während dem Krieg, das wussten auch die Leute, dass die Schweiz sich halt herausgehalten hat. Aber wenn man halt genau hinguckt, merkt man, dass die Schweiz eigentlich der wichtigste Wirtschaftspartner für Deutschland war, die Schweiz war sehr wichtig für das Beschaffen von Devisen.
Es gibt Leute, die sagen, dass ohne die Schweiz, die Deutschland mit Devisen versorgt hat, um die Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten, hätte der Krieg nicht so lange gedauert. Man hat quasi das ganze Raubgut, was die Nazis vor allem im Osten und überall, wo sie konnten, zusammengeraubt haben, das hat man in der Schweiz in Devisen umgesetzt. Das war ein sehr wichtiger Partner für Deutschland. Deswegen fiel natürlich nach dem Krieg für die Schweiz der wichtigste Wirtschaftspartner weg und sie standen ziemlich mit dem Rücken gegen die Wand. Und ich würde auch nicht von den Leuten sprechen, es gab schon eine sehr starke Bewegung, die gegen die Nazis war in der Schweiz. Aber die Politik hat sehr klar eine Politik betrieben, die mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet hat.

Wellinski: Wie sah denn Ihre Recherche zu dem zeithistorischen Umfeld konkret aus, weil als Filmemacherin müsste man ja sagen, rein filmisch konnten Sie nicht wirklich Bezug nehmen, weil so filmisch ist diese Zeit vom Schweizer Kino nicht wirklich bearbeitet.
Volpe: Genau, sie ist überhaupt wenig bearbeitet die Nachkriegszeit. Es gibt Serien und Filme vor dem Krieg, auch in Deutschland während dem Krieg, aber diese wirklich spannende Zeit, die sogenannte Stunde Null, die natürlich keine Stunde Null ist, aber es wurde halt auch so genannt, da liegt ja auch eine Form von Sehnsucht drin, man will einen Neuanfang, man will das hinter sich lassen, was natürlich ein totaler Trugschluss ist, dass das möglich ist, die ist halt wenig bearbeitet. Und das hat mich schon auch erstaunt, ich habe auch gemerkt, ich habe überhaupt gar nichts darüber gewusst, das kam bei uns im Schulunterricht gar nicht vor. Und es war eine absolut formative Zeit auch für Europa und auch für die Weltordnung heute, was auch in Israel und Palästina passiert, das hat sehr viel mit dieser Zeit und unmittelbar nach dem Krieg zu tun. Da hat es mich hingezogen. Und ich habe auch gemerkt, ein Grund, dass da nicht so viel drüber gesprochen wird, weil da sind auch ganz schön viele unrühmliche Dinge passiert.
Während dem Krieg konnte man natürlich gut erklären in der Schweiz, warum man so gehandelt hat, es ging schon auch darum, das Land zu erhalten, man hatte wirklich Angst auch vor Hitler und man irgendwie versucht, sich durchzuwurschteln und zu überleben. Aber nach dem Krieg, wo diese Gewalt aufgehört hat, wo die unmittelbare Gefahr eigentlich nicht mehr da war, hätte man natürlich viele Möglichkeiten gehabt, anders zu entscheiden oder wirklich auch mal innezuhalten und zu überlegen, was bedeutet das alles und was bedeutet das für die Zukunft unseres Landes und wie verhalten wir uns jetzt. Was ist jetzt das korrekte Verhalten.

"Diese Generation wollte alles anders machen als die Eltern"

Wellinski: Zentral in der Serie sind ja vor allem junge Figuren, da ist Clara, die in einem Heim für KZ-Flüchtlinge arbeitet, ihr Ehemann, der die Tuchfabrik der Familie übernehmen solle und ihr Schwager, der als Nazijäger an der Bürokratie des Landes scheitert. Das sind ja alles Menschen in ihren Zwanzigern – wieso denn dieser Blick auf die Zeit durch die Augen dieser jungen Leute vor allem?
Volpe: Ich glaube, die stehen halt metaphorisch auch für diesen Neuanfang, diese Generation wollte auch alles anders machen als die Eltern, die wollten einen Neustart, die waren froh, endlich leben zu können, endlich loszulegen, die waren voller Elan, Idealismus, voller Träume, die sahen das auch als Chance, dass jetzt so etwas Neues losgeht. Ich fand, das ist auch sehr universell, dass es immer diese Generationen gibt oder immer diese Momente gibt in der Geschichte oder in der eigenen Biografie, wo man denkt, ich werde alles anders machen als meine Eltern, und man dann merkt irgendwie im Laufe des Lebens, dass man es überhaupt nicht anders macht oder dass, um es wirklich anders zu machen, muss man halt einen sehr ehrlichen und harten Blick auf die Vergangenheit werfen und sich mit der Vergangenheit und mit den vorherigen Generationen auseinandersetzen, um sich auch aus gewissen Strukturen und Mustern lösen zu können. Und der Blick nach vorne alleine reicht nicht.
Wellinski: Wie habe Sie denn diese Figuren erarbeitet? Sind das zusammengeführte Biografen oder sind das völlig neu erdachte Lebensläufe?
Volpe: Alle Figuren sind eigentlich Amalgame und sind inspiriert von realen Figuren und sind, klar, auch Kunstfiguren, aber es sind viele Stücke, die in so eine Figur eingeflossen sind. Und ich glaube, da fand die größte Fiktionalisierung statt, die Begebenheiten, wie das Geld in der Schweiz versteckt wird, wie die Schweizer Politik Kriegsverbrechen geschützt hat, das basiert alles auf Recherchen und wahren Begebenheiten, aber die Figuren habe ich quasi konstruiert aus anderen Figuren, um auch eine gewisse erzählerische Freiheit zu haben.

Wellinski: Die Figur der Clara scheint mir auch eine Geschichte der Emanzipation zu sein, auch im Heim sind es dann vor allem Frauen, die sich für die KZ-Flüchtlinge einsetzen. Und Sie haben ja schon mit "Die göttliche Ordnung" einen Film gemacht über die Geschichte des Frauenwahlrechts in der Schweiz. Findet das hier in der Figur der Clara eine Art Fortsetzung?
Volpe: Ja, auf eine sanfte Weise. Die war natürlich noch weit entfernt davon, sich Feministin zu nennen, oder so, das wusste die gar nicht, was das ist. Clara ist auch eine recht naive Figur und eine sehr bürgerlich behütete Tochter, die das Leben kennenlernt, die ein Coming of Age erlebt und in Berührung kommt mit der Realität. Aber sie ist auch auf ihre Art, sie emanzipiert sich aus der Familie heraus und trifft eine für sich moralische Entscheidung und entscheidet auch, nicht den Weg der Mutter zu gehen, die irgendwie in Bitterkeit stecken geblieben ist. In dem Sinne ist es auf so einer privaten Ebene definitiv eine Befreiungsgeschichte. Und ich könnte mir schon vorstellen, dass Clara dann so in zehn, 20 Jahren auch beim Feminismus ankommt oder anfängt, sich für Frauenrechte zu interessieren bewusst. Da ist sie, glaube ich, als Figur noch nicht in der Geschichte.

"Viele haben auch Brücken zum Heute geschlagen"

Wellinski: Die Serie wurde ja im November letzten Jahres mit einem großen Rahmenprogramm auch im Schweizer Fernsehen gezeigt. Die Reaktionen waren auch sehr spannend, weil die Sicht auf die Geschichte wurde auch von einigen Historikern angegriffen. Wie haben Sie die Reaktion empfunden?
Volpe: Ich habe die Reaktionen als durchweg positiv empfunden, ich habe unglaublich viele Anschreiben gekriegt, auch persönlich über Facebook und von Leuten aus dieser Generation oder von Kindern der Kriegsgeneration, die über ihre Eltern geschrieben haben. Ein Mann ist mir in Erinnerung geblieben, der erzählt hat, sein Vater sei an der Grenze gestanden und hätte wirklich auch jüdische Flüchtlinge nicht reinlassen dürfen und das hätte ihn ein Leben lang beschäftigt. Und die Kinder haben erst bei seinem Tod verstanden, was das für ein Trauma war und dass er sich bisher nie davon befreien konnte, was er da tun musste, und ein schlechtes Gewissen hatte eigentlich bis zum Ende seines Lebens.
Die negativen Reaktionen, ich habe gar nicht so viele. Es gab einige, aber irgendwie insgesamt war eher so eine Dankbarkeit da bei den Leuten, dass diese Geschichte erzählt wird und dass es eine Art neue Sicht auf die Geschichte gibt. Die Leute haben alle geschrieben, die wussten nicht, dass die Schweiz das gemacht hat. Und das ist interessant. Und viele haben auch Brücken zum Heute geschlagen, weil das Grundthema der Serie, Moral oder Menschenleben versus Profit, ist etwas, was uns heute genauso beschäftigt wie vor 50 Jahren und 100 Jahren. Und vor dem Krieg, nach dem Krieg, das sind immer die großen Fragen.

"Freut mich, dass viele Lehrer die Serie zeigen wollen"

Wellinski: Das ist auch etwas, was ihren Kollegen Peter Imhoff in seiner Dokumentation "Das Boot ist voll" interessiert hat, wie die Schweiz damals mit Flüchtlingen umgegangen ist und was er jetzt für Gedanken hat, wenn er die Flüchtlingskrise von 2015 sich angesehen hat. Was ich spannend finde, ist auch: Ihre Serie wird ja in Deutschland sicherlich so rezipiert werden wie damals "Unsere Mütter, unsere Väter", da ist das ja schon im Titel, unsere Mütter, unsere Väter. Eine Serie, die ja bis heute noch Gegenstand diplomatischer Verwicklungen ist, eine Serie aber auch, die die Frage stellt – genauso wie "Frieden" –, was kann so eine Serie eigentlich noch leisten? Wie sieht das für Sie als Filmemacherin und auch Autorin dieser Serie aus, ist es eine fiktionalisierte Annäherung an Geschichte, geht es da ums Öffnen, Verarbeiten, Erklären?
Volpe: Ich glaube, es geht um vieles. Was mich besonders freut, dass sich viele Lehrer melden und die Serie in der Schule zeigen wollen. Und dann denke ich, das ist ein riesiger Fortschritt, weil solche Serien habe ich in der Schule nicht gesehen und ich hatte eine idealisierte Schweiz im Geschichtsunterricht vermittelt bekommen, eine Schweiz, die tapfer und neutral die Grenzen verteidigt hat und gegen die Nazis war. Und in den 50er-Jahren wurde ja auch wirklich eine sehr bewusste PR-Aktion der Schweiz gestartet, um dieses Image der Schweiz aufzupolieren, weil nach dem Krieg standen sie vor den Alliierten nicht besonders gut da, man wusste schon, wie sehr die Schweiz eben auch das Geld nicht aufgeben wollte im Vergleich zu anderen Ländern, die sehr bereit waren, dieses Geld, was geraubt wurde, auch wieder zurückzugeben. Da war die Schweiz sehr geizig und sehr protektiv.
Und ich glaube, das ist sicher ein Fortschritt, dass so etwas im Geschichtsunterricht behandelt wird, dass es eine Diskussion auslöst, dass die Menschen sich noch mal für diese Zeit interessieren und kritischer denken und hingucken. Und dann ist schon ein großer Schritt gemacht, wenn das eine Serie leistet, dass die Menschen neugierig auch werden noch mal auf eine Zeit. Ich glaube, Neugierde schärft ja nicht nur die Neugierde für die Vergangenheit, sondern man guckt dann vielleicht auch noch mal anders auf die Gegenwart. Und ja, das ist schon toll, wenn einem das passiert. Ich hatte den Eindruck, dass man in der Schweiz lange über die Serie gesprochen und spricht auch heute noch darüber. Und für uns ist es natürlich sehr spannend, jetzt zu gucken, wie kommt sie in Frankreich und in Deutschland an, weil das ist dann noch mal anders, wenn man im eigenen Land verarbeiten kann und wenn dann plötzlich von außen kommt, ach, ihr Schweizer, ihr wart ja auch nicht die Saubermänner, wie wir dachten, mal gucken, wie offen dann die Leute noch sind oder ob man plötzlich angegriffen wird auch.


Wellinski: Ich fand es sehr spannend zum Thema, wie eine fiktionalisierte Serie zumindest auch pädagogisch aufgearbeitet werden kann. Was Sie geschildert haben, ist ja die optimistische Variante. Ich frage mich aber auch häufig, inwiefern die Überzeugungskraft dieser perfekten Bilder – und die Serie verfügt über eine total moderne Bildersprache, sie ist sehr gut gemacht, sie sieht gut aus, sie ist sehr spannend –, inwiefern solche Serien, nicht nur "Frieden", auch so einen Blick auf die Geschichte verzerren können. Mir erzählen Hochschuldozenten, dass auch häufig historisches Wissen verzerrt ist durch fiktionalisiertes Wissen.
Im Still aus "Frieden" steht Klara zwei neuen Gästen im Heim für jüdische KZ-Überlebende gegenüber.
Zentrale Figuren in der Serie "Frieden" sind vor allem junge Figuren wie Clara, die in einem Heim für KZ-Flüchtlinge arbeitet.© SRF / Sava Hlavacek
!!Volpe:! Ja klar, aber ich finde, es gibt immer so einen Kanon oder so einen Anspruch, es gibt so die Leute, die sagen, wir vermitteln die wahre Geschichte. Und das ist auch schon eine Verzerrung. Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf Geschichte. Und ich finde, das Wichtigste ist, dass Geschichte am Leben gehalten wird, dass Geschichte immer wieder durchgearbeitet wird aus verschiedensten Perspektiven. Und klar, ich habe natürlich einen sehr hohen Anspruch an Wahrheit. Man kann eine fiktionale Geschichte erzählen und versuchen, sie so wahr wie möglich zu erzählen. Ich habe ja mit vielen Historikerinnen zusammengearbeitet, wir haben das schon sehr, sehr ernst genommen. Und ich glaube, es ist wichtig, dass Geschichten erzählen und die Geschichte erzählen, am Leben erhält.
Es gibt ja inzwischen auch sehr viele Holocaustleugner, wie geht man dagegen an? Alle verzerren die Geschichte, Geschichte wird immer verzerrt, wenn man sich der Geschichte annimmt. Die Hauptsache ist, man behält es am Leben, man erzählt weiter. Und das ist auch quasi das Plädoyer am Schluss der Serie, wo Herschel schreibt, unsere Geschichte sollte ausgelöscht werden. Und das genau versucht die Serie, dem entgegenzuwirken, dass das alles vergessen wird. Und dann kann man sich daran reiben, denn wenn es nicht da ist, dann kann man sich nicht daran reiben. Dann mache ich lieber etwas, wo jemand sagt, das ist verzerrt, dann kann ich mich damit beschäftigen und wir können uns reiben und streiten darüber, als dass ich es nicht erzähle, und es geht einfach irgendwann verschütt und es wird begraben und vergessen.

Die Serie "Frieden" läuft auf Arte und ist auch in der arte-Mediathek abrufbar.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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