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Fußball-Reportage für Sehbehinderte
"Bitte kein Märchen!"

Leidenschaft, Freude, Frust - diese Emotionen haben alle Fußballfans, auch Sehbehinderte. Damit sie wissen, was auf dem Spielfeld passiert, gibt es speziell für ihre Bedürfnisse in allen Bundesliga-Stadien Live-Reporter. Die Zuhörer haben genaue Vorstellungen von der perfekten Reportage.

Von Mathias von Lieben | 28.03.2016
    Live-Reporter helfen blinden und sehbehinderten Fußballfans, Bundesligaspiele mitzuverfolgen.
    Live-Reporter helfen blinden und sehbehinderten Fußballfans, Bundesligaspiele mitzuverfolgen. (picture alliance/dpa - Peter Steffen)
    Englische Woche in der Fußball-Bundesliga. Und Leverkusen-Fan Gerhard Stoll fiebert wie immer intensiv mit:
    "Och komm, das ist doch jetzt uninteressant. Absoluter Quatsch, die Diskussion. Och Gott!"
    Emotionen pur, Frust ablassen. Ein ganz normales Fußballspiel also. Doch Gerhard Stoll sieht das Spiel und den Ball gar nicht. Er ist blind. Seit 35 Jahren. Trotzdem ist er seit 16 Jahren bei jedem Spiel im Stadion. Sein erstes Mal? Die Partie gegen die Spielvereinigung Unterhaching im Jahr 2000 - das Meisterschaftstrauma der Leverkusener bis heute. Seitdem fiebert er an jedem Spieltag mit dem Verein – und er weiß auch, warum:
    "Man geht zum Spiel, das Adrenalin steigt und steigt und steigt. Man ist im Stadion und dann kann man den Emotionen freien Lauf lassen."
    Alle Erstligisten bieten die Live-Reportage für Sehbehinderte an
    1999 gab es in Leverkusen die erste Live-Reportage für Sehbehinderte. Im Zuge der WM 2006 zogen einige Vereine nach. Mittlerweile gibt es das Angebot in allen Stadien der ersten und in 16 der zweiten Liga. Ab der kommenden Saison sollen auch die zwei letzten Klubs nachziehen. Sogar einige Dritt- und Viertliga-Vereine machen mit. Und: das Angebot wird genutzt. Zwischen zehn und 20 Plätze werden pro Verein für Sehbehinderte angeboten. Die Auslastung liegt im Schnitt bei 90 Prozent. Tendenz steigend, so Arne Stratmann, Referent Fanangelegenheiten der DFL.
    "Die Erst- und Zweitligisten haben den Service schon lange im Angebot - und der wird mehr und mehr genutzt. Und im Gegensatz zu Rollstuhlfahrern ist das tatsächlich ein Punkt, der erst in den letzten Jahren richtig in Fahrt gekommen ist."
    Zu Beginn haben sich die Reporter und Nutzer eigenständig organisiert – ein loser Zusammenschluss. Jetzt haben die "Aktion Mensch", der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt, die Bundesliga-Stiftung und die Deutsche Fußball Liga ein neues Kompetenzzentrum für Sehbehinderten- und Blindenreportage gegründet. Mehr Sensibilisierung für das Thema Inklusion und die losen Strukturen bündeln: Das ist das Ziel, sagt der Leiter des Zentrums, Björn Naß.
    Vernetzung noch verbesserungswürdig
    Leider sind einige Blindenreporter nicht so gut vernetzt in ihren Vereinen und laufen so ein bisschen unter dem Radar. Daran hakt es noch, und das bekannter zu machen, ist unser Ziel."
    Einmal im Jahr gibt es Schulungen für die Reporter. Mitte Januar fand ein Seminar mit 93 Teilnehmern statt. Auch an der Sporthochschule Köln hat es 2011 schon einen Workshop gegeben. Der Grund: Die Qualität der Reportagen muss ein gewisses Niveau erfüllen. Nicht jeder kann 90 Minuten lang ein Spiel kommentieren.
    Denn: Wenn der Reporter schweigt, ist der Nutzer tatsächlich blind. Eine große Herausforderung. Durch die Geräuschkulisse im Stadion entsteht ein Bild, das die ehrenamtlichen Reporter wie Philipp Wegmann in Leverkusen auflösen müssen:
    "Ich würde sagen, im Gegensatz vor allem zur Radioreportage ist es eben so, dass man immer verortet. Man soll immer auf Ballhöhe sein, man soll keine unwichtigen Fakten runterrattern, sondern soll wirklich schauen, dass man immer das beschreibt, wo der Ball gerade ist. Wenn der Ball langweilig zwischen den beiden Innenverteidigern hin und her gespielt wird, dann soll man auch genau das sagen. Damit eben auch die Sehbehinderten und die Blinden genau wissen, das war ein kack Spiel, denn sie haben sich nur den Ball hin- und her gespielt. Also am wichtigsten: immer nah am Ball bleiben."
    Zwei Reporter wechseln sich beim anstrengenden Job ab
    Eine kognitive und physische Meisterleistung. Ein Team besteht deshalb immer aus zwei Reportern, die sich alle zehn bis 15 Minuten abwechseln. Der Kommentar kommt meist über Funk, entweder von der Pressetribüne oder direkt aus dem Block der Sehbehinderten. Die bekommen vor dem Spiel einen kleinen Empfänger mit Kopfhörern. Eine Antenne verstärkt das Signal. Finanziert wird das aus einem DFB-Fördertopf, von der "Aktion Mensch" oder durch direkte Vereinszuschüsse.
    Das Angebot wird kontinuierlich erweitert. Neben einem barrierefreien Bundesliga-Reiseführer gibt es jetzt noch die neue Homepage Blindenreportage.de – ebenfalls barrierefrei. Dort finden die Sehbehinderten und andere Interessierte wichtige Infos zu Spieltagen und Reportern und gelungene Kommentarschnipsel zum Nachhören.
    Klare Vorstellung von der perfekten Reportage
    Für Gerhard Stoll ist die Blindenreportage die einzige Möglichkeit, die Spiele seines Lieblingsvereins zu verfolgen. Von der perfekten Reportage hat er deswegen auch eine ganz klare Vorstellung.
    "Das Fußballspiel ist wie ein Buch. Und jeder Pass, jeder Freistoß, jede Ecke, jeder Abstoß ist ein Satz aus diesem Buch. Und das muss man vorlesen. Und da möchte ich, dass man das so vorliest, wie es ist. Da kann man gerne einen Krimi draus machen, da freue ich mich drauf. Aber bitte kein Märchen."