Selbstporträts von Lucian Freud in London

Mehr Kreatur als Mensch

05:40 Minuten
Von Friedbert Meurer · 24.10.2019
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Zum ersten Mal sind jetzt in London alle Selbstporträts von Lucian Freud in einer Schau zu sehen. Die Royal Academy zeigt über 50 Gemälde und Zeichnungen, die Einblick in Psyche und Entwicklung eines der bedeutendsten Porträtmaler des 20. Jahrhunderts geben.
Ein nackter alter Mann ist auf der großformatigen Leinwand zu sehen. Lucian Freud hatte die Angewohnheit, sich zu seinem 40., 50. oder hier dem 70. Geburtstag selbst zu malen. Die Schultern hängen leicht herab, das Fleisch ist schlaff, der Körper ist unansehnlicher geworden im Vergleich zu früher. Freud malte andere und sich selbst schonungslos offen.

Die Veränderungen des alternden Körpers

In seinem Atelier legte er Spiegel aus, um sich selbst aus unkonventionellen Perspektiven entdecken zu können. Mal zeichnete er seine Nasenflügel akribisch, dann auf dem Gemälde, als er 70 war, seine Genitalien.
Kurator Jasper Sharp berichtet, dass sich Lucian Freud ausdrücklich wünschte, dass diese Ausstellung mit den Selbstportraits nicht vor seinem Tod gezeigt wird:
"Spielt hier Exhibitionismus eine Rolle? - Natürlich. Hier steht ein 70 Jahre alter Mann, der völlig nackt ist, mit Pinsel und Palette in den Händen. Aber Lucian Freud war sich bewusst, was er von anderen Modellen erwartete, für die es extrem anstrengend war. Für ihn war es da nur fair, dass er sich selbst auch der gleichen genauen Überprüfung unterzog, die sie erfahren mussten."
Bei den späteren Gemälden trug Lucian Freud die Farbe so dick auf, dass die Bilder schon fast Skulpturen gleichen. Er befindet sich bei den Selbstportraits auf der Suche nach sich selbst, hält unerbittlich die Veränderungen an seinem Körper fest.

Die Rolle des berühmten Großvaters

Natürlich liegt immer wieder die Vermutung nahe, dass Lucian von seinem Großvater Sigmund Freud beeinflusst war. Sie gingen zusammen 1933 ins Exil nach London, der Enkel war damals elf Jahre alt. Im Katalog ist ein Foto aus dem Jahr 1938 zu sehen mit Sigmund Freud in der Mitte, wie er rechts Lucian und links einen Cousin in den Arm nimmt.
Lucian bewunderte seinen Großvater, der Name half ihm auch in den Anfangsjahren. Aber gibt es wirklich eine Verbindung zwischen Psychoanalyse und der Kunst des Enkels? Jasper Sharp hegt Zweifel: "Das anzunehmen ist natürlich unvermeidlich, wenn Sie die Selbstportraits als Selbstanalysen nehmen. Lucian Freud verbrachte die meiste Zeit damit, dass seine Modelle vor ihm auf der Couch lagen. Das ist natürlich sehr ähnlich dem, was sein Großvater tat. Lucien wollte unter die Oberfläche der Haut schauen. Aber es hat viele Versuche gegeben, diese Parallele darzustellen. Niemand hat das bisher wirklich auf den Punkt bringen können."
Lucian Freud hatte nur eine kurze Phase, in der er surrealistisch malte und zeichnete. "Stillleben mit grüner Zitrone" von 1947 ist ein Beispiel aus dieser Zeit. Aus der Zitrone wächst ein großes Blatt heraus, von hinten links lugt der Maler selbst ganz leicht um die Ecke. Es wirkt, als wollte sich der junge Mann verstecken.

Eine grenzenlos faszinierende Persönlichkeit

Freud holte sich dann seine Anregungen aus dem Leben. Bei einem Streit schlug ihm ein Londoner Taxifahrer das Auge blau. Oder die ungezählten Frauenaffären, 40 Kinder soll Freud gezeugt haben. Er war direkt und extrem unkonventionell, erinnert sich Jasper Sharp, dessen eigener Großvater ein Nachbar von Lucian Freud war:
"Er liebte die Provokation. Er mochte nichts, was nicht etwas Giftiges in sich hatte. Er hatte auch etwas Giftiges, aber auf eine wunderbare Art und Weise. Er war ein Agent Provokateur. Er lehnte es ab, sein Leben nach den Regeln anderer zu führen. Er war selbstbezogen und zu einigen Menschen ziemlich garstig, aber niemals zu mir. Er hatte Aura und Charisma fast wie ein Tier. Wie er sich bewegte und schaute, mehr eine Kreatur als ein Mensch. Das war grenzenlos faszinierend."
Die Ausstellung lässt die Kompromisslosigkeit spüren, die Freud lebte und mit der er auch etliche seiner Frauen behandelt haben dürfte. Der Kritiker des "Guardian" unkt schon, dass die #MeToo-Bewegung bei Lucian Freud viel zu finden und auszusetzen hätte.

Gnadenlos ehrliche Kunst

Auf dem Gemälde "Hotel Bedroom" aus dem Jahr 1954 sieht man im Vordergrund seine damalige Frau Caroline Blackwood. Sie scheint geweint zu haben, er aber blickt kalt am Fenster stehend auf sie herab.
Um diese Zeit begann Lucian Freud seine Maltechnik zu ändern. Statt präziser feiner Linien malte er jetzt leicht verschwommene Konturen, aber immer noch gegenständlich. Von seinen Selbstportraits sagte Lucian Freud einmal: "Ich akzeptiere das nicht, was ich an mir sehe, und hier fängt das Problem an".
Man könnte hinzufügen: Hier fängt auch seine Kunst an. Sie tut weh wie ein Fausthieb aufs Auge und ist gnadenlos ehrlich.

Lucian Freud - The Self-portraits
27. Oktober 2019 - 26. Januar 2020
Royal Academy of Arts, London

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