Selbstorganisierte Fahrradkuriere

Durch Berlin strampeln für das Kollektiv

12:01 Minuten
Fahrradkurier Simon Richter steht mit seinem Lastenrad auf einem Bürgersteig in Berlin.
Fahrradkurier Simon Richter auf seinem Lastenrad mag Adrenalin: "Noch besser wär‘s mit dem Rennrad." © Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Von Thilo Schmidt · 23.03.2020
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Fahrradkurier-Firmen übernehmen für gewöhnlich wenig Verantwortung für ihre Fahrer. Darum organisierten sich vor zehn Jahren einige Kuriere als Kollektiv. Selbständig sind sie auch dort, aber es fühlt sich besser an.
Simon Richter steuert sein zweirädriges Lastenrad zwischen Autos und Lkw hindurch, auf jeder Seite vielleicht eine Handbreit Platz. Nutzt jede Lücke, die sich auftut auf den überfüllten Straßen Berlins. Ampeln haben nur "beratende Funktion", wie er sagt: "Boah, ich liebe das, so zwischen den Autos durch! Da steigt der Adrenalinpegel. Schade jetzt, mit dem Lastenrad, da ist halt links und rechts nicht so viel Platz. Noch besser wär's mit dem Rennrad."
Gerade hat er zwei Kisten frisches Popcorn von einer Manufaktur in Friedrichshain zu einer Filmproduktionsfirma in Schöneberg gefahren. Schneller und umweltfreundlicher als per Fahrradkurier geht das nicht in Berlin. "Klar, man muss schon eine Affinität mitbringen. Und ich glaube, wenn man gern Sport macht, wenn man auch auf Adrenalin steht, dann ist das auf jeden Fall das Richtige."

Kurierkollektiv im kleinen Ladenlokal

Ich dachte, ich sei gut trainiert auf dem Rad, aber ich habe Mühe, Simon zu folgen. Führe er jetzt Rennrad, wie er es tut, wenn er nichts Großes zu transportieren hat, ich hätte keine Chance.
"Manchmal ist auch so der Wurm drin. Der Kunde ist nicht da, der Verkehr ist dumm, einer hat dich halb angefahren", berichtet Simon. Dann greift er zum Funkgerät. "Doppel sieben. Kam hier in der Sekunde noch rein: Von der Tauentzien in die Bismarck, also eine Lastenradtour auch, so eine Kiste da vom Ästhetikum, mach die doch bitte mal zuerst." – "Alles klar, mach ich", sagt Simon dem Disponenten und berichtet dann weiter: "Naja, jedenfalls akkumulieren sich dann manchmal so blöde Sachen. Und dann fährst du sieben, acht, neun Stunden, und das ist aber die ganze Zeit scheiße, dann fängt es noch an zu pissen, und … ach!"
Zurück in Friedrichshain, in der Zentrale des Fahrwerk Kurierkollektivs in einem kleinen Ladenlokal. Ein halbes Dutzend Fahrerinnen und Fahrer, alle im typischen Outfit – enge, elastische Hosen, zwei bis drei Schichten obenrum, scharen sich um den Disponenten am Funkgerät.

Geschäftsführer pro forma

Das Kurierkollektiv wurde vor zehn Jahren von Fahrradkurieren gegründet, die ihre Arbeitsbedingungen verbessern wollten. Hier sind alle gleichberechtigt. Es gibt zwar einen Geschäftsführer, aber mehr oder weniger nur pro forma. Denn das deutsche Recht sieht solch ein Kollektiv eigentlich nicht vor.
"Prinzipiell ist es im Kurierbusiness immer so, dass man selbständig ist. Also bei anderen Kurierbuden verdient man definitiv mehr. Aber was die soziale Komponente betrifft – dadurch, dass wir hier alle gemeinsam arbeiten, ist hier eine ganz andere Kultur. Es entsteht keine Konkurrenz zueinander. In anderen Firmen ist es so, vor allem bei den Kurieren, dass man sich gegenseitig die Aufträge abjagt. Und das passiert hier zum Beispiel gar nicht."

Sie tun es für das Kollektiv

Auch die Kuriere hier sind selbständig, werden aber nach Stunden bezahlt und nicht pro Auftrag. Simon sagt, die Kuriere hier fahren trotzdem so, als würden sie nach Auftrag bezahlt – aber sie tun es für das Kollektiv. "Wir strampeln für uns selber, und wir zahlen uns auch Krankengeld. Und jedesmal, wenn man sich selber krank meldet beim Kollektiv, dann muss man sich darüber im Klaren sein, dass die anderen für einen mitstrampeln."
Überraschend: Der Krankenstand beim Fahrwerk Kurierkollektiv, das ist Simons Eindruck, ist nicht höher als anderswo. "Was aber auch nicht unbedingt gut ist", sagt er. "Ich glaube, alle Kollektive haben so ein bisschen das Problem des sich selber Verbrauchens, was öfter mal vorkommt, weil die Verantwortung gefühlt eine andere ist."

Unabhängigkeit wichtig

Das Kollektiv, sagt ein anderer Fahrer, will auch dem üblichen kapitalistischen Wirtschaften etwas entgegenstellen. Denn die Arbeitsbedingungen im Logistikgeschäft sind meist knallhart. Die Kuriere sind oft scheinselbständig – ohne Absicherung im Krankheitsfall, ohne Rentenvorsorge.
Trotzdem ist gerade bei Fahrradkurieren die Unabhängigkeit selbstgewählt, sagt Axel Kronbügel von der Gewerkschaft Verdi. "Da haben sie die Schnauze voll von den Hierarchien, von dem Chef, der mir sagt, ob ich nach links fahren soll oder nach rechts oder geradeaus. Und als Selbständiger kann ich endlich mal sagen: Ich fahre jetzt in eine Richtung, in die ich will. In der Selbständigkeit hab ich dann das Gefühl: Ich kann entscheiden und ich bin, auch auf zwei Rädern, Käpt’n im Straßenverkehr."
Für die Gewerkschaften sind die Fahrradkuriere kaum erreichbar, dabei wären sie gut beraten, sich zu organisieren, sagt Kronbügel. Für konventionelle Kurierfirmen indes sei es ein Riesengeschäft, selbständige Fahrer loszuschicken.
"Sie reduzieren sich nur auf die Auftragsvergabe. Aller anderen dazugehörigen arbeitsrechtlichen Fragen können sie sich entledigen", erläutert der Gewerkschafter. "Sie müssen keine Personalabteilungen beauftragen, die ihre Versicherungsfragen klären müssen, nein! Sie können ganz klar sagen: Du kommst zu mir, du bist bei mir selbständig, du sorgst für dich selber, und du kriegst von mir nur einzig und allein die Aufträge, die zur Erfüllung deiner Tätigkeit benötigt werden. Und das ist für die Firma finanziell hoch lukrativ!"

Wenig Netto vom Brutto

Halbwegs lukrativ ist es auch für die Fahrer, zumindest auf den ersten Blick. Denn, es klang schon an: Wer selbständig ist, muss alle Sozialabgaben selbst tragen, und vor allem die Kosten für Kranken- und Rentenversicherung gehen ins Geld. Da bleibt am Ende nicht viel Netto vom Brutto.
"Jedes, aber auch wirklich jedes Unternehmen, das fahrradbasierte Zustellung hat – aber auch Lkw und Pkw – sucht Leute, um den Job machen zu können. Kuriere werden von allen Firmen gesucht. Sofort, wenn einem das nicht gefällt, höre ich dort auf – das geht ja bei Selbständigen problemlos, und dann fange ich woanders neu an."

Zweiter Versuch

Kreuzberg, Oranienstraße. In einem vietnamesischen Restaurant wartet Stefano Lombardo auf eine Bestellung. Stefano fuhr früher mit dem Fahrrad für Deliveroo Essen aus. Als Deliveroo sein Deutschlandgeschäft einstellte, gründete Stefano mit anderen Fahrern einen eigenen Lieferservice: "Kolyma2".
"Als wir im August angefangen haben, sind die Bestellungen über Messenger- oder Whatsapp-Signal reingekommen. Und wir haben die Bestellungen an die Restaurants per Anruf mit Telefon weitergeleitet. Und die Bestellungen an die Fahrer gingen in Whatsapp-Gruppen", erinnert sich Stefano.
Doch schon nach wenigen Wochen versank das Kollektiv im Chaos und stellte den Betrieb wieder ein – und startet nun mit einem anderen Konzept neu durch. "Heute Abend sind so vier Restaurants online. Und nächste Woche werden es schon so sieben sein."
Der Neustart soll besser klappen, und "Kolyma2" will sich besser organisieren. Das soll so funktionieren: An Werktagen Mittagessen in Büros liefern. Und ansonsten: Nicht an sieben Abenden warten, bis Restaurantbestellungen eintrudeln – sondern nur am Wochenende.

Per App beim zweiten Anlauf

Und auch nicht mehr über Telefon und Whatsapp. Stefano zeigt seine App, speziell für Kollektive entwickelt.
"Hier ist das Kurierinterface, wo ich so als Kurier die Aufträge bekomme, und hier, als Dispatcher, die Bestellungen, die beim Restaurant reinkommen. Und dann kann ich aus dem Disponenteninterface die Aufträge an den Fahrer rübergeben," erklärt Stefano.
Nur, warum kommt keine Bestellung heute?
"Wir sind so in einer Beta-Testphase. Das heißt, wir geben den Link zu unserem Portal und zur App nicht so öffentlich bekannt, sondern die möglichen Kunden, die Beta-Kunden, die müssen sich erstmal bei uns melden, und dann bekommen sie den Link."
Jetzt wird auch klar, warum wir seit einer Stunde ungestört ein Interview führen können. Das ist zwar alles ganz interessant, aber eigentlich wollte ich ja sehen, wie Stefano arbeitet.

Die Vorteile von Deliveroo

Es ist allerdings nicht so, dass Stefano, der Philosophie studiert hat, nicht wüsste, was harte Arbeit ist. Stefano schaukelt nicht nur Sushi und Pizza durch die Straßen, was gemeinhin einen eher gemächlichen Eindruck macht, er fährt auch gelegentlich für das Fahrwerk-Kurierkollektiv.
"Und über rote Ampeln, und so", necke ich ein wenig. "Nein, über rote Ampeln eher nicht. Das ist verboten!", kommt es zurück.
Aber, sagt er, man werde ja auch älter. Und irgendwann merke man das auch, und als Fahrradkurier erst recht.
"Und man muss bereit sein, unter jeglichen Wetterbedingungen zu fahren. Und einen Platten in fünf Minuten zu reparieren. Und man muss das machen. Bei Deliveroo hätte man einfach sagen können: Ja okay, ich hab einen Platten, ich mach Feierabend. Und man durfte dann Feierabend machen. Das war kein Problem. Oder so: Ja sorry, ich bin jetzt hingefallen, das Essen ist einfach so kaputtgegangen. Wenn das nicht irgendwie alle zwei Tage so passiert ist, hat man kein Problem bekommen."

Konsolidierter Markt

Aber Deliveroo gibt es nicht mehr. Und kurz zuvor hatte Lieferando bereits Foodora geschluckt. Und ist damit ziemlich allein auf weiter Flur, sagt Leonard Herrmann, der für Lieferando fährt und sich außerdem in der freien Gewerkschaft FAU engagiert.
"Die Sache ist: Lieferando ist gerade Marktführer hier in Deutschland, und Marktführer haben die Eigenschaft, nicht immer besonders beliebt zu sein. Weil sie sich einfach keine Mühe geben müssen."
Auch Lieferando beschäftigt viele selbständige Fahrer. Oftmals junge Leute, viele blieben nicht länger als drei Monate, bevor sie weiterziehen, sagt Leonard. "Also, das ist so das klassische Freiberufler-Modell. Das war auch bei Angestellten teilweise so, warum auch immer, dass dann Krankheiten nicht bezahlt wurden. Viele Leute sind halt jung, machen ihren ersten oder zweiten Job und haben sich über solche Sachen auch nie Gedanken gemacht."

Diffuse Arbeitswelt

Auch die freie Gewerkschaft FAU kann die Fahrradkuriere kaum davon überzeugen, sich zu organisieren. Das fängt schon damit an, dass Leonard Herrmann seine Kollegen nicht kennt. Manchmal erkennt er einen Kollegen beim Vorbeifahren an der Uniform, aber das war es meistens schon. "Ist halt 'ne komplett diffuse Arbeitswelt."
Auch Leonard sinniert mit Kollegen über die Gründung eines Kollektivs. Weit sind sie damit noch nicht gekommen.
Aber zumindest das Ziel ist klar. "Als angestellter Fahrer, wo ich nur mit der App interagiere, habe ich gar keinen Handlungsspielraum, ja? Wenn ich 'nem Kunden ein Essen 'ne Stunde zu spät liefere, dann sag ich dem: Tut mir leid, wenn du dich beschweren möchtest, musst du da und da anrufen. Sagen die mir: Ja, hab ich jetzt schon 'ne Stunde lang versucht, da geht keiner ran. – Im Kollektiv kann ich das einfach an der Tür klären. Das ist 'ne andere Vertrauensfrage."
Zurück im Friedrichshain, beim Fahrwerk-Kollektiv. Die Fahrer scharen sich wieder um den Disponenten.
Simon Richter schnallt sich seine Tasche um. Und wartet auf den nächsten Auftrag. "Ja, ich schalte jetzt meine Funke an, beziehungsweise wir sind ja gerade im Büro, dann frag ich den Disponenten, was er für 'ne Sendung fürs Lastenrad für mich hat. Und dann geht’s los."
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