Selahattin Demirtaş: "Morgengrauen"

Plädoyer für die Zukurzgekommenen

Das Buch "Morgengrauen" hat Selahattin Demirtas im Gefängnis geschrieben.
Das Buch "Morgengrauen" hat Selahattin Demirtas im Gefängnis geschrieben. © imago / Penguin Verlag
Von Ingo Arend · 16.10.2018
Selahattin Demirtaş ist die Hoffnung der Opposition in der Türkei, er sitzt im Gefängnis. Jetzt hat er ein Buch geschrieben. In "Morgengrauen" beschreibt er kunstvoll das Leben der kleinen Leute zwischen Doppelmoral, Tradition und staatlicher Willkür.
"Ich fühle mich nur in einer Welt zuhause, wo es Wolken, Vögel und Menschentränen gibt." Den Satz schrieb Rosa Luxemburg, als sie von 1916 bis 1918 in der Festung Wronke bei Posen in Schutzhaft saß. Ihre "Briefe aus dem Gefängnis" gelten bis heute als Beleg für das ungewöhnliche poetische Feingefühl einer gefürchteten Revolutionärin.
Briefe aus dem Gefängnis hat Selahattin Demirtaş nicht aus Edirne geschrieben. Wegen angeblicher "Terrorpropaganda" sitzt der Co-Vorsitzende der "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) seit November 2016 in einem Hochsicherheitsgefängnis im äußersten Westen der Türkei in Untersuchungshaft.
Demirtaş, geboren 1973, hat zwölf kurze "Storys" veröffentlicht. Doch an Qualität, Stil- und Sprachempfinden können es die literarischen Gehversuche des charismatischen Politikers, der als einzige Hoffnung der Opposition in der Türkei gilt, durchaus mit den Briefen der deutschen Arbeiterführerin aufnehmen.

Faszinierender Blick auf den Armeleute-Alltag

Politische Botschaft destillieren diese Geschichten eher indirekt. Schon durch das soziale Milieu, in dem Demirtaş sie ansiedelt. Ausnahmslos spielen sie in der Welt der kleinen Leute: Handwerker, Pizzaboten, Busfahrer oder Garküchenbesitzer. Der inhaftierte Politiker hat einen faszinierend genauen Blick für den Armeleute-Alltag in seinem Land.
Als Abrechnung mit dem System Erdoğan lassen sich seine Storys aber kaum lesen. Auch wenn eine, während einer Demonstration zu Unrecht verhaftete Putzfrau am Ende einer Story droht: "Warte Ankara". Der Name des Präsidenten, der den ungeliebten Widersacher ins Gefängnis brachte, fällt nicht ein einziges Mal.

Starke Symbolik und ungewöhnliche Perspektiven

Demirtaş zielt auf’s Grundsätzliche: Den Atavismus und die Doppelmoral der türkischen Gesellschaft. In der dem Buch den Titel gebenden Story wird die junge Schneiderin Seher (das türkische Wort für Morgengrauen) nach einer Vergewaltigung von ihrem Bruder hingerichtet. Die Pistole legt dem Jungen ihr Vater in die Hand, der kurz zuvor ein Bordell besucht hat. Nicht umsonst hat Demirtaş sein Buch "allen misshandelten und ermordeten Frauen" gewidmet.
Trotz politischer Untertöne sind seine Geschichten keine Kampfprosa. Das zeigt sich nicht nur in der lapidaren Erzählweise seiner Protagonisten, über die meist ein unverschuldetes Unglück hineinbricht. Sein literarisches Geschick demonstriert er auch in der Symbolik und den ungewöhnlichen Perspektiven.

Flucht aus der Sicht einer Meerjungfrau

Den Widerstand gegen die Anmaßungen der Staatsgewalt schildert er als Streit eines Spatzenpärchens mit vier "Staatsvögeln". Mit den beiden unterhält er sich, während sie vor seinem Gefängnisfenster in Edirne ein Nest errichten. Seine Flucht aus Syrien schildert das Mädchen Mina aus der Sicht einer Meerjungfrau, die seit einer Woche auf dem Grund des Mittelmeers liegt.
Demirtaş‘ belletristischer Erstling ist keineswegs von so "bescheidener Natur", wie er selbst im Nachwort schreibt. Seine Storys sind ein kunstvoll verschlüsseltes, subtil erzähltes Dokument der Menschenliebe und der Moral, ein Plädoyer für die Zukurzgekommenen. Und für die Welt der Rosa Luxemburg wäre ein Politiker, der "die Sprache der Vögel" spricht, der ideale Präsident.

Selahattin Demirtaş: "Morgengrauen"
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Penguin Verlag, München 2018
144 Seiten, 16 Euro

Mehr zum Thema