Seiffen im Erzgebirge

Im Weihnachtsland ist diesmal alles anders

10:44 Minuten
Weihnachtlich beleuchtet präsentiert sich der Ort Seiffen im Erzgebirge.
Weihnachtlich beleuchtet präsentiert sich der Ort Seiffen im Erzgebirge. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Von Alexandra Gerlach · 17.12.2020
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Das Erzgebirge ist im Corona-Advent hart von der Pandemie getroffen. Märkte und Bergmannsaufzüge sind abgesagt, Musiker können nicht gemeinsam proben, die Touristen bleiben weg. Die Gemeinschaft im Weihnachtsland leidet.
Das kleine Dorf Seiffen gilt als das erzgebirgische Spielzeugmacher- und Weihnachtsdorf schlechthin. Entlang der engen Hauptstraße liegen vis-à-vis Dutzende Geschäfte, die geschnitzte und gedrechselte Bergmänner, Engel, Schwibbögen, Pyramiden, Nussknacker und vieles mehr anbieten. Jedes Jahr kommen Zigtausende Besucher hierher, um erzgebirgische Holzkunst einzukaufen und das besondere Flair unterhalb der kleinen Bergmannskirche zu genießen.
"Man muss ja ein bisschen raus. Ist ja durch Corona alles zu, und nun müssen wir sehen, wie wir durchkommen." – "Na, mal was Anderes sehen, ein bisschen bummeln, schauen: Weihnachtsgeschäfte."
Auf einem kleinen Hügel oberhalb der Seiffener Hauptstraße hat der Holzspielzeugmacher Christian Werner seine Manufakturwerkstatt. Er ist einer der letzten sogenannten Reifendreher in Deutschland und stellt Figuren und Spielzeugtiere für Pyramiden, Schwibbögen und andere typisch erzgebirgische Weihnachtsdekorationen her.
Christian Werner ist geschätzt Anfang 60, dunkelhaarig, groß, schlank und trägt eine dicke Zimmermannscordhose, Wollpullover sowie auf dem Kopf eine bunte lange Wollzipfelmütze. Er nimmt mich mit in seine kleine Werkstatt an die Drehbank.
"Da haben wir hier eine Baumscheibe, die können wir anschlagen, dann wird Werkzeug dazu genommen. Dann kann das losgehen, das Zerspanen beginnt. Und dann nach und nach wird das Geräusch feiner."
Während sich die eingespannte Holzscheibe dreht, legt der Reifendreher das scharfe Messer an und schneidet ein Profil in das Holz. Wie tief er dieses setzt und wie lange er das Schneidwerkzeug ansetzen muss, um das gewünschte Profil zu erreichen, bleibt sein Geheimnis.
"Als ich das Reifendrehen gelernt habe, da gab es überhaupt keine Vorlagen. Die haben das Holz an die Drehbank angeschlagen und Schafe gedreht. Mal waren die ein bisschen größer, mal kleiner, dünner oder dicker. Heute geht das nicht mehr. Wir müssen ja unsere Ware listen, fotografieren, sodass der Kunde weiß, was er bestellt, und dann muss das natürlich auch so kommen."
Normalerweise reist Christian Werner im November mit seinem Sohn Andreas in die USA, wo sie auf einem deutschen Weihnachtsmarkt ihr künstlerisches und handwerkliches Können zeigen und dann auch erfolgreich exportieren. Doch 2020 ist alles anders. Das Coronavirus hat die Jahresplanung auf den Kopf gestellt.
"Wir haben jetzt sogar im Juli, August, wo wir noch nie was verkauft haben, doch auch Umsätze gemacht. Ich kann mich nicht beklagen!"
Der Reifendreher Christian Werner aus Seiffen bei seiner Arbeit.
Der Reifendreher Christian Werner aus Seiffen bei seiner Arbeit.© Deutschlandradio / Alexandra Gerlach
Anders als in der Reifendreher-Manufaktur geraten die eher industriell produzierenden erzgebirgischen Betriebe unter Druck. Es fehlen schon das ganze Jahr die Bustouristen, die normalerweise zu Hunderten und manchmal zu Tausenden das malerische Dorf und seine Läden fluten.
Davon profitierte immer auch das "Hotel Erbgericht" in der Ortsmitte. Hier treffe ich auf den Hotelier Ronny Weiss, der seit zehn Jahren mit seiner Frau und knapp 50 Mitarbeitern das traditionsreiche große Haus betreibt. Am 1. November mussten sie das Hotel zum zweiten Mal binnen Jahresfrist auf unbestimmte Zeit schließen.
"Jetzt trifft uns das besonders hart. Wir machen 40 Prozent des Jahresumsatzes nur in diesen beiden Monaten. Wir gehen jetzt teilweise in Kurzarbeit. Also wir richten uns ein auf länger."

Vielfalt in Gefahr

Sein Betrieb sei gut aufgestellt, sagt Hotelier Weiss. Er ist dankbar für die staatlichen Hilfen, insgesamt jedoch macht er sich Sorgen um den Fortbestand der gastronomischen Infrastruktur, nicht nur im Erzgebirge.
"Uns droht deutschlandweit und hier in der Region die gastronomische Vielfalt abhanden zu kommen. Der kleine Gasthof um die Ecke, die kleine Berghütte, wo man auf der Wanderung oder während der Mountain-Bike-Tour etwas trinken oder essen kann: Das macht ja wirklich den Tourismus aus."
Ein Schild weist auf die Maskenpflicht im Ortskern von Seiffen hin.
Maskenpflicht im Ortskern von Seiffen: In Sachsen gelten angesichts hoher Infektionszahlen nahezu flächendeckend strenge Coronaregeln.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
Von Seiffen bis nach Schneeberg sind es gut 70 Kilometer. Die Fahrt führt durch viele kleine Dörfer, über bewaldete Hügel und Senken mit Viehweiden. Schneeberg war lange Zeit Garnisonsstadt und bis vor einigen Jahren ein relativ großer Bundeswehrstandort. Hier lebt Landesbergmusikdirektor Jens Bretschneider. Er ist gebürtiger Schneeberger mit Leib und Seele. Dem Virus zum Trotz hat er auch in diesem Jahr versucht, die Laienmusiker der verschiedenen Bergmannskapellen zusammenzuhalten.
"Ehrlicherweise muss man sagen, wir haben zwar für bestimmte Anlässe geübt, aber immer im Hinterkopf: Mal sehen, ob es wirklich stattfindet. Im Grunde hat nicht einer der Anlässe stattgefunden. Selbst unser Jubiläumskonzert musste ausfallen. Und das Einzige, was jetzt tatsächlich noch stattfindet, ist das Turmblasen – und das ist für uns auch etwas ganz Besonderes."

Paraden im Bergmannshabit

Wie ergreifend eine Bergparade und das große gemeinsame Abschlusskonzert der teilnehmenden Bergmannskapellen ist, habe ich mehrfach in Annaberg-Buchholz erleben dürfen. Der Anblick der unterschiedlichen, in Bergmannshabit gekleideten Paradeteilnehmer ist beeindruckend. Die mit Tressen verzierten Uniformen der Musiker und die aufwendig gestickten Standarten der Traditionsvereine leuchten dann festlich im fahlen Winterlicht. Dicht an dicht stehen die Menschen fast andächtig auf dem gepflasterten Platz unterhalb der imposanten Sankt Annenkirche. Mittendrin steht dann auf einem Podest der Landesbergmusikdirektor Jens Bretschneider und gibt den Takt an.
"In Annaberg hatten wir schon alles, wir hatten auch schon fast minus 20 Grad Kälte, als wir uns mit dem Orchester aufgestellt hatten. Und als es losging mit dem ersten Schlag auf die große Trommel, ist das Trommelfell gerissen, wir haben dann natürlich trotzdem gespielt, aber es klang anders als sonst. Und dann hat es wunderschön geschneit, aber auch schon Bindfäden geregnet."
Jens Bretschneider ist auch Chefdirigent des Sächsischen Landesbergmusikkorps in Schneeberg: ein großes Orchester mit über 60, darunter vielen jungen Laienmusikern und einem breiten Portfolio von Pop über Swing bis zur bergmännischen Marschmusik. In diesem Jahr wäre der 55. Geburtstag zu feiern gewesen, doch das Jubiläumskonzert wurde – wie so vieles – wegen Corona abgesagt.
Musiker bergmännischer Traditionsvereine auf dem Gelände der Fundgrube Anna und Schindler in Schneeberg im Erzgebirge.
Musiker bergmännischer Traditionsvereine haben auf dem urigen Gelände der Fundgrube Anna und Schindler in Schneeberg Aufstellung genommen.© picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Was bedeuten die Einschränkungen in der Pandemie für das Orchester, das sich weder treffen, noch gemeinsam üben, noch auftreten kann? Und wie lange hält so ein Orchester die Pause aus?
"Wir haben das noch nie probiert. Aber dieses Vierteljahr war schon schwierig. Weil die Sehnsucht da ist, endlich einmal wieder selbst spielen zu können, mal mit einem richtig vernünftigen Orchester, einem Klangkörper. Wenn ich daran denke, auch so die emotionale Seite, wie mir die Gänsehaut stand, als wir das erste Mal wieder spielen konnten, und das ging ja nicht nur mir so."

Uranbergbau im Erzgebirge ist Geschichte

Der Sächsische Landesverband der Bergmanns-, Hütten- und Knappenvereine zählt 68 Vereine und insgesamt rund 3700 Mitglieder. Sie pflegen und betreiben Besucherbergwerke, haben bergmännische Orchester, pflegen bergmännische Traditionen, treten bei Bergparaden auf und versuchen, jugendlichen Nachwuchs zu gewinnen. So auch der gelernte Bäcker und Konditor Jürgen Brecheis.
Jahrzehntelang hat der 75-Jährige im Uranbergbau der Wismut als Kumpel gearbeitet. Inzwischen ist er längst im Ruhestand, die Wismut ist Geschichte. Er hat die Zeit genutzt, um neben und unter seinem Haus in Schneeberg auf kleinstem Raum einen Stollen nachzubauen, mit Originalzubehör und allem Drum und Dran.
In der reich mit Fotos, Urkunden und Bergmannsutensilien ausgestatteten heimeligen Steigerstube sitzt Ray Lätzsch, der Vorsitzende des sächsischen Verbandes für die Bergmanns-, Hütten- und Knappenvereine, an einem langen schmalen Holztisch bei Kerzenlicht.
"Sie müssen hier die Augen schließen und sich vorstellen, hier drinnen sind 15 bis 16 Bergleute, es ist abgedunkelt, es erklingt weihnachtliche Musik, es ist ein Geistlicher mit dabei, der eine Mettengebet spricht, es ist anheimelnd, draußen pfeift der Wind, es schneit vielleicht noch."

Das Vereinsleben bricht weg

Diese Gemeinschaft kommt den Vereinen gerade abhanden. Darüber hinaus haben die Absagen aller Bergparaden und Auftritte finanzielle und andere tiefgreifende Folgen, sagt Ray Lätzsch:
"Zum einen ist das gesamte Vereinsleben weggebrochen. Wir haben Workshops eingerichtet, wir sind an die Schulen gegangenen, wir haben Jugendliche gewonnen, das bricht natürlich auch weg. Ich sehe da auch die Gefahr, dass wir Jugendliche, die wir eben erst gewonnen haben, wieder verlieren."
Ein Räuchermännchen aus Seiffen im Erzgebirge, das dem Virologen Christian Drosten ähnlich sieht.
In der Werkstatt des Spielzeugmachers Tino Günther in Seiffen ist er der neue Star: der Virologen-Räuchermann.© picture alliance / dpa-Zentralbild / Hendrik Schmidt
Ideenreichtum und Flexibilität sind gefragt in dieser Coronakrise, das gilt auch für das Weihnachtsland Erzgebirge. Dort hatte der Seiffener Spielzeugmacher Tino Günther, wie er kürzlich im MDR-Fernsehen schilderte, im ersten Lockdown im Frühjahr eine zündende Idee:
"Was haben wir denn im ersten Lockdown gemacht? Fernsehen geschaut, wandern gegangen, Fernsehen geschaut. Da war klar, beim Fernsehschauen sprangen einem die Virologen ins Gesicht, und da war klar, wir müssen einen Virologen herstellen."

Ein Bestseller, dem der Kopf raucht

Spielzeugmacher Tino Günther schuf ein neues Räuchermännel, mit schlaksiger Figur, dem prägnanten Gesicht und wildem Wuschelkopf des Berliner Virologen und inzwischen berühmten Institutschef der Charité, Professor Christian Drosten. Jetzt könne er sich vor Anfragen kaum retten, sagt der Spielzeugmacher. Mitten in der Absatzkrise hat er einen Bestseller gelandet, in einer Ausführung passend zu den Hygiene-Anforderungen der Coronakrise:
"Es verbietet sich grundsätzlich, dass ein Virologe in der heutigen Zeit aus dem Mund raucht! Weil sie sich aber so viele Gedanken gemacht haben, die Virologen, deswegen raucht das Räuchermännchen aus dem Kopf."
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