Seidel: Gewaltbereite Gruppen haben vieles gemeinsam

Moderation: Joachim Scholl · 16.01.2008
Der Geschäftsführer der Initiative Schule ohne Rassismus, Eberhard Seidel, meint, dass es mehr Gemeinsamkeiten zwischen rechtsradikalen und gewaltbereiten ausländischen Jugendlichen gebe, als diesen lieb sei. Während die einen ihr Feindbild aus nationalistischen Kategorien speisten, sei es bei den anderen die Religion, um sich abzugrenzen.
Joachim Scholl: Kaum ein Tag vergeht ohne neue Stimmen, neue Spekulationen und Einsprüche zum Thema der Jugendgewalt. Wir wollen ein wenig praktische Ordnung in die Thesenhaftigkeit der Debatte bringen mit Eberhard Seidel, Verfasser von Publikationen wie "Unsere Türken. Annäherung an ein gespaltenes Verhältnis" oder "Marschiert die Jugend nach rechts?", eine Schrift über Rechtsradikalismus und Jugendgewalt. Eberhard Seidel ist Geschäftsführer der Initiative Schule ohne Rassismus in Berlin, jetzt im Studio. Guten Morgen! Willkommen im Radiofeuilleton, Herr Seidel!

Eberhard Seidel: Guten Morgen!

Scholl: Ich vermute, dass jemand, der wie Sie tagtäglich direkten Umgang mit Jugendlichen hat, diese Debatte der letzten Woche mit gemischten Gefühlen verfolgt?

Seidel: Ja, vor allem mit Erstaunen, weil ich nicht feststellen kann, dass irgendetwas Neues unter der Sonne passiert bezüglich dieses Themas. Es sind im Prinzip die identischen Diskussionen, die auch schon vor 15 Jahren geführt wurden, mit den gleichen Argumentationen, mit den gleichen Horrorszenarien, mit den gleichen Zuspitzungen.

Scholl: Welche konkreten Punkte, die derzeit diskutiert werden, jetzt egal, ob sie aktuell sind oder eigentlich auch nicht, sie sind eigentlich immer virulent gewesen in den letzten Jahren, welche Punkte halten Sie aus Ihrer Sicht momentan für relevant und produktiv auch für die Diskussion und Entwicklung der Problematik?

Seidel: Es fällt natürlich schwer, was Produktives bei dieser Diskussion festzustellen, das erst mal muss ich wirklich zu Eingang sagen. Allerdings ist es immer gut, über die Situation, Lebenssituation, von Jugendlichen zu sprechen, wenn man denn die Perspektive hat, bei Problemlagen auch nach Lösungen nach zu suchen und nach Perspektiven, wie besser mit der Situation umgegangen wird. Es gibt sicherlich einen positiven Aspekt, dass heute noch mal über den Inhalt und das Wesen und den Charakter von Jugendstrafrecht diskutiert wird. Und was mich besonders erfreut, dass natürlich nicht nur die Zuspitzungen aus dem Kreis der üblichen Verdächtigen durch die Medienlandschaft geistern, sondern so etwas wie ein Aufstand der Anständigen in der Diskussion im Moment ja auch zu verzeichnen ist. Dass ja gestern beispielsweise über 1.000 Vertreter der Jugendgerichte oder Staatsanwaltschaften, der Sozialarbeiter zu Wort gemeldet haben, um eben gegen diese Polarisierungen und die unsinnigen Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, zu protestieren. Und das ist ein gesellschaftlicher Fortschritt, den ich sehr positiv wahrnehme.

Scholl: Der "Spiegel" hat die jungen Männer in der letzten Woche als gefährlichste Spezies unserer Zeit herausgestellt und damit an eine Kontroverse vor zwei Jahren geknüpft, die Gunnar Heinsohn und Peter Sloterdijk damals mit ihren Thesen zum Zorn der jungen Männer veröffentlicht hatten. Frank Schirrmacher hat gestern diese jungen Migranten-Männer auf so wörtlich - Feindpfad - erspäht gegen die Mehrheit der Deutschen. Ja, Sie lächeln schon. Sind das so soziokulturelle Feuilletonismen, oder sind da Motive angesprochen, die Sie in Ihrer Arbeit, Herr Seidel, bei Ihrem Umgang mit Jugendlichen auch wahrgenommen haben? Stichwort: Junge Männer.

Seidel: Na ja, vielleicht zu dem "Spiegel"-Titel: Die jungen Männer, die gefährlichste Spezies der Welt. Man kann diese Debatte führen und diese Thesen auch diskutieren. Es wird nur problematisch, wenn man das verknüpft wie der "Spiegel" mit dem Übertitel "Migration der Gewalt" und damit ein Konnex hergestellt wird, der sich natürlich nur mit einem Teil von jungen Männern in diesem Land beschäftigt. Das halte ich für falsch. Dass junge Männer, egal, in welcher Gesellschaft, zu welchen Zeiten, historisch, am ehesten bereit sind, in gesellschaftlichen Krisensituationen oder von ihnen als solche empfundenen Krisensituationen bereit sind, auch auf das Mittel der Gewalt, sei es jetzt im Kollektiv, sei es jetzt individuell, zurückgreifen, das ist bekannt. Das ist nicht zu leugnen. Womit das zu tun hat, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, ob man das als anthropologische Konstante betrachtet von Menschen oder auch als ein Ergebnis von Sozialisationen, von Männlichkeitsbildern, das ist natürlich eine wichtige Diskussion, die geführt werden muss. Ich würde dem so einfach widersprechen, einfach zu sagen, die jungen Männer sind die gefährlichste Spezies dieser Welt, weil man muss doch immer noch mal auch eine Antwort auf die Frage geben, warum denn nicht nur eine überwiegende Mehrheit, sondern 99 Prozent der jungen Männer eben nicht auf das Mittel der Gewalt zur Durchsetzung ihrer individuellen Strategien zurückgreifen. Junge Männer auf Feindpfad, die These von Herrn Schirrmacher. Ich habe das gelesen und habe mich gewundert und mich gefragt, was diesen Mann umtreibt. Ich kann es auch salopp formulieren und sagen: Das ist ein Text hingeschrieben, nachdem man stimulierende Substanzen zu sich genommen hat. Ich möchte es mal wirklich so frech formulieren. Man könnte diese These vertreten. Leider muss man wahrscheinlich sagen: Nein, es ist in einer ganzen Serie von Artikeln, die sich mit Migration, mit muslimischen jungen Männern in Deutschland beschäftigt. Und wenn Herr Schirrmacher beispielsweise zu Abschluss des Artikels sagt, dass junge Ausländer verbunden mit Fundamentalismus am nächsten an der Ideologie dran sind, die im 20. Jahrhundert praktisch für die ganzen Verwerfungen in Europa dazu beigetragen hat, damit meint er ja Faschismus oder Stalinismus, dann ist es ein Überziehen einer Wahrnehmung eines gesellschaftliches Problems, dass ja in der Tat junge Migranten-Männer überdurchschnittlich an Gewaltkriminalität beteiligt sind, eine Überziehung, die mich zu dieser saloppen Eingangsbemerkung eben treibt.

Scholl: Die Debatte um die Jugendgewalt. Im Studio ist Eberhard Seidel von der Initiative Schule ohne Rassismus. Erzählen Sie uns, Herr Seidel, ein wenig von Ihrer Initiative. Wie sieht Ihre Arbeit bei Schule ohne Rassismus ganz konkret aus?

Seidel: Die Arbeit von Schule und Rassismus sieht so aus, dass wir ein Netzwerk von Schulen in Deutschland sind, die sich in einer Selbstverpflichtung, nämlich Schüler und auch Lehrer und auch das technische Personal in eine Selbstverpflichtung dazu erklärt haben, verpflichtet haben, gegen jede Form von Diskriminierung an der Schule eben vorzugehen. Nicht nur gegen Rassismus, wie der Name nahelegt, sondern gegen jede Form von Diskriminierung, das meint beispielsweise Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität, Themen wie Antisemitismus, oder aufgrund des Geschlechts. Und für uns ist es überhaupt keine Frage, ob die problematischen Haltungen von Jugendlichen deutscher Herkunft oder nichtdeutscher Herkunft ausgeübt werden, da gibt es für uns keinen Unterschied. Uns ist schon immer klar gewesen, dass Jugendliche deutscher Herkunft als auch nichtdeutscher Herkunft in der Lage sind zu diskriminieren. Aber wir wissen auch, dass alle Gruppen auch in der Lage sind, was Wirksames, Konstruktives dagegen zu unternehmen. Und unser Anliegen ist es, diese Jugendlichen, die eben diese negativen Entwicklungen in der Gesellschaft nicht bereit sind zu tolerieren und hinzunehmen, die bewusst etwas dagegensetzen wollen, in ihrer Arbeit zu unterstützen.

Scholl: Inwieweit begegnen Sie denn in Ihrer Arbeit Gewalt von Jugendlichen, sei es von ausländischen Jugendlichen oder deutschen Jugendlichen? Sie haben sich auch intensiv mit rechtsradikalen Jugendlichen beschäftigt. Die fallen jetzt in der Debatte immer sozusagen, als Gegenposition werden die jetzt immer gewertet. Wie erleben Sie das in Ihrer Realität?

Seidel: Wir haben in unserer Arbeit natürlich sehr viel auch mit Gewaltphänomenen zu tun. Der Entschluss von Schulen und von Schülern, sich unserem Projekt anzuschließen, hat in der Regel auch einen Hintergrund, dass es problematische Entwicklungen im Schulumfeld oder in der Schule selbst gegeben hat, dass es zu Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen kam, und dann die Schüler sagen: Wir müssen aktiv was dagegen unternehmen. In dieser Form haben wir damit zu tun. Schulen, die unserem Netzwerk angeschlossen sind, sind auch immer wieder Ziel von Angriffen von rechtsextremen Jugendlichen, dass das Schild beschädigt wird oder Schmierereien an den Schulen auftauchen, in dieser Form immer wieder mit zu tun. Und natürlich auch die Klagen beispielsweise von Jugendlichen, die sich beschweren, die in Ostdeutschland beispielsweise leben, dass sie mit ihren eher zivilgesellschaftlichen Einstellungen immer wieder auch den Angriffen von rechtsextremen Jugendlichen ausgesetzt sind. Wir haben aber auch beispielsweise mit schwulen Schülern zu tun, die hier in Kreuzberg in Berlin sich darüber beklagen, dass sie von Jugendlichen mit türkischer Herkunft häufig angemacht werden, beleidigt werden. Das sind Formen, mit denen wir zu tun haben. Und unsere Perspektive ist da nicht zu rufen, wir müssen das Strafrecht verschärfen, sondern zu gucken, wie kann man Diskussionen, aber auch Maßnahmen, auch Aktivitäten in Gang setzten, die präventiv dazu beitragen, die Konflikte möglichst zu minimieren.

Scholl: Das ist ganz interessant, was Sie jetzt ansprechen, die Diskriminierungsmechanismen jetzt, sagen wir, bei der einen Gruppe und der anderen Gruppe. Merkwürdigerweise konvergiert das hier. Die "ausländischen Migranten" jetzt in Anführungszeichen genauso wie die rechtsradikalen Jugendlichen, sie stürzen sich sozusagen homophob vielleicht auf Schwule. Das ist so eine Art von gemeinsamer Machokultur auf eine Weise. Gleichzeitig diskriminieren sie natürlich einander. Ein Rechtsradikaler schimpft auf die Ausländer. Ein "ausländischer", jetzt in Anführungszeichen, aggressiver Jugendlicher sagt eben: Ihr Scheiß-Deutschen!

Seidel: Ich halte die Diskussion, die auch bei Schirrmacher anklingt, natürlich für völligen Unsinn, zu glauben, es gebe einen Unterschied zwischen deutschen Jugendlichen und nichtdeutschen Jugendlichen, sondern da gibt es mehr Gemeinsamkeiten, als wahrscheinlich beiden Gruppen recht ist bezüglich eines Männlichkeitsbildes, einer übersteigerten Männlichkeit, auch in der Konstruktion von Feindbildern. Der einzige Unterschied besteht vielleicht darin, dass die Feindbilder bei deutschen Jugendlichen entlang völkischer, nationalistischer Kategorien gebildet werden. Und beispielsweise bei einem türkisch- oder arabischstämmigen Jugendlichen eher zurückgegriffen wird auf das Thema Religion, um einen Abgrenzungsmechanismus herzustellen zu anderen Jugendlichen, denen man dann auch in der Feindseligkeit begegnet. Es ist ein Prozess, der bei, und das muss man auch klar sehen, die Jugendlichen, über die wir sprechen, sind in der Regel tatsächlich die Verlierer dieser Gesellschaft. Sie sind randständige Jugendliche, die wenig Möglichkeit haben, in einer anderen Form an gesellschaftlichen Prozessen und am Reichtum zu partizipieren und die auf Religion oder Nationalismus als letzte Ressource zurückgreifen zur Identitätsbildung. Und das führt natürlich dann auch in der weiteren Ebene zu Verwerfungen. Und dann gibt es schlichtweg die ganz einfache Kriminalität, Gewaltkriminalität. Und jeder Gewaltkriminelle legitimiert seine Handlung ja beispielsweise für sich und braucht eine Legitimation. Und bei vielen Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft: Ich kenne viele Sprüche schon seit Jahren, dass Räuber, Handtaschenräuber, beispielsweise nicht einfach nur eine Handtasche rauben, sondern es für sich legitimieren, das sei eine Nazi-Oma. Das ist ziemlich offensichtlich, was für Mechanismen dem zugrunde liegen.

Scholl: Eberhard Seidel, ich danke Ihnen, von der Initiative Schule ohne Rassismus in Berlin. Danke schön für Ihren Besuch und das Gespräch und alles Gute für Ihre weitere Arbeit!

Seidel: Dankeschön!