Sehnsucht nach Gerechtigkeit

26.02.2013
Der chinesische Nobelpreisträger Mo Yan schildert die Geschichte eines moralischen Tiefpunkts: Er erzählt von der Ohnmacht der einfachen Leute gegenüber den Handlangern der Kommunistischen Partei und von nicht enden wollendem Leid.
Anfangs wird die Hebamme Gugu von allen geliebt und verehrt. 1953 übernimmt sie die Zuständigkeit für den Bezirk Gaomi, und die Leute sehen in der wohltätigen Frau einen Mensch gewordenen Bodhisattva. Doch als 1963 die Geburtenzahlen explodieren, führt die Kommunistische Partei erste Kampagnen zur Geburtenplanung durch. Gugu entwickelt sich zur unnachgiebigen Kontrolleurin: Sie zwangssterilisiert Frauen, jagt Schwangere und nimmt Abtreibungen sogar noch im siebten Monat vor. Rund 2.000 Aborte gehen über die Jahre auf ihr Konto. Die parteitreue Kommunistin lässt keine Frau entkommen und verkündet stolz, dass das Plansoll an Kindern in ihrem Bezirk niemals überschritten wird. Die Leute sind entsetzt, verängstigt und nennen den ehemaligen Bodhisattva nun einen Todesdämon.

Auch die Frau des Erzählers Renner fällt Gugu zum Opfer. Die Hochschwangere stirbt bei der Abtreibung ihres zweiten und also unerlaubten Kindes. Renner aber nimmt seiner Tante Gugu das Desaster nicht übel. Er willigt sogar ein, anschließend ihre Assistentin zu heiraten, die am Tod seiner ersten Frau mitschuldig ist.

Der Roman "Frösche" ist die Geschichte eines moralischen Tiefpunkts. Er führt die Ohnmacht der einfachen Leute gegenüber den Handlangern der Kommunistischen Partei vor, und er schildert anhand krepierender Mütter und durchdrehender Väter nicht enden wollendes Leid.

In diesem Sinne nimmt Mo Yan Maos Yan’an-Rede – in der dieser unter anderem die Darstellung der kleinen Leute und ihrer Probleme in der Literatur forderte – auf heute bereits wieder subversive Weise ernst. Fürs Abkalligrafieren dieser Despotenrede wurde Mo Yan letztes Jahr weltweit kritisiert. (Mo Yans klammheimlich rebellische Seite beleuchtet übrigens auch die druckfrische und ausgesprochen kluge Aufsatzsammlung zu Mo Yans Werk "Chinas subversive Peripherie". Hrsg. Von Ylva Monschein. Projektverlag, 264 Seiten, 17,80 Euro.)

Doch auch die kleinen Leute sind bei Mo Yan nicht durchweg gut. Denunziation, Käuflichkeit und Charakterschwäche gibt es auch unter Hinterwäldlern und Landeiern, wie Mo Yan die burlesken Figuren aus seiner Heimat Gaomi nennt. Der Erzähler selbst ist dafür ein gutes Beispiel. Indem er die Assistentin seiner Tante heiratet, geht er mit dem System ins Bett.

Außerdem entschuldigt er die Untaten seiner im Alter doch noch selbstkritisch gewordenen Tante bis in die Gegenwart; das ist im Roman das Jahr 2008. Sie habe doch nur im Sinne der Partei gehandelt. Die Crux besteht jedoch darin, dass eine Vorgabe der Kommunistischen Partei Chinas ein Befehl, keineswegs aber ein moralischer Maßstab ist. Und genau davon erzählt Mo Yan in diesem – sehr gut übersetzten, aber etwas zu ausufernden – Roman auf schnurrige und doch erschütternde Weise. Die Sehnsucht der Figuren nach Recht und Gerechtigkeit ist groß, bleibt aber unstillbar. Sie kulminiert am Ende in der verzweifelten Suche einer halbverrückten Frau, die ihr Kind verloren hat, nach Richter Bao. Er ist der Salomon der klassischen chinesischen Literatur und der Einzige, der in ihren Augen überhaupt noch Recht sprechen kann. Die Frau findet ihn nicht.

Besprochen von Katharina Borchardt

Mo Yan: Frösche. Roman
Aus dem Chinesischen von Martina Hasse
Hanser Verlag, München 2013
508 Seiten, 24,90 Euro
Mehr zum Thema