Sehnsucht nach früher

"Vorwärts in die Vergangenheit!"

Verleger Götz Kubitschek
Götz Kubitschek, Vordenker der Neuen Rechten, auf einer Protestveranstaltung im Februar 2018. © picture alliance/dpa/Patrick Pleul
Von Arno Orzessek · 29.08.2018
Die Vordenker einer reaktionären Wende in Politik und Gesellschaft entfalten mit ihren Ressentiments Wirkung. Der US-Politologe Mark Lilla besteht in seinem Buch "Der Glanz der Vergangenheit" auf einer Unterscheidung von Reaktionären und Konservativen.
Vor 2500 Jahren bemerkte der Vorsokratiker Heraklit, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Was für das Verständnis historischer Prozesse bedeutet: Nichts wird jemals wieder genau so sein, wie es einmal war. Gegen diese Einsicht lässt sich kaum vernünftig argumentieren.
Der Sehnsucht nach Wiederherstellung eines früheren Zustands der Welt oder zumindest der Gesellschaft, in der man lebt, tut das jedoch keinen Abbruch. Und fast immer geht die rückwärtsgewandte Sehnsucht einher mit einer unsachlichen Verklärung des Status quo ante.
Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Anfang des Fragments "Die Christenheit oder Europa", das der Frühromantiker Novalis 1799 geschrieben hat.

"Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte..."

Wenn man "Europa" durch "Deutschland" ersetzt, könnte dieser Satz von dem islamophoben AfD-Rechtsaußen und beurlaubten Geschichtslehrer Björn Höcke stammen.
1000 Jahre Deutschland – ich gebe euch nicht her!" – lautet ein Seufzer Höckes, der Geschichtskitsch mit völkischem Denken vermischt.
Mit weit größeren globalen Konsequenzen verfolgt wiederum US-Präsident Donald Trump seine leitende Idee "Make America great again". Allerdings sind die angeblich guten alten Zeiten als solche gar nicht der wichtigste Grund ihrer Verherrlichung. Erst das Missbehagen an der Gegenwart, am Tempo nicht nur des technischen Wandels und an der Unberechenbarkeit der Zukunft lässt die Vergangenheit zum Sehnsuchtsort werden.

Rückzug in die Vergangenheit

Im Privaten zieht das seit Längerem harmlose Nostalgie nach sich. Sie drückt sich hierzulande in gebrauchten Kleidern, Mid-Century-Möbeln, Vinyl-Schallplatten, Schrebergärten, Zeitschriften à la "Landlust" und sonstigen Retro-Trends aus.


Wer sich dagegen in der politischen Sphäre für alte Ordnungen, abgehangene Konzepte und stabile Traditionen stark macht, hat eine Sehnsucht nach Vergangenem, die ernster zu nehmen ist als Retro-Moden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla besteht in seinem Werk "Der Glanz der Vergangenheit" auf einer harten Unterscheidung von Konservativen und Reaktionären.
Für Lilla sind Reaktionäre, anders als vorsichtig reformwillige Konservative, genauso radikal wie Revolutionäre – nur dass sie sich auf der Zeitachse in die entgegengesetzte Richtung orientieren.
Mark Lilla: Der Glanz der Vergangenheit, im Hintergrund eine Statue des Philosophen Socrates in der Panepistimiou Strasse in Athen 
"Der Glanz der Vergangenheit" von Mark Lilla© Hintergrund: Imago/Andreas Neumeier Cover NZZ Libro

"Der reaktionäre Geist ist ein schiffbrüchiger Geist. Wo andere den Strom der Zeit fließen sehen wie eh und je, meint der Reaktionär die Bruchstücke des Paradieses zu erkennen, die an ihm vorbeischwimmen. Der Revolutionär sieht eine strahlende Zukunft, die den anderen verborgen ist, und dieses Bild beflügelt ihn. Der Reaktionär denkt sich immun gegenüber den modernen Lügen, sieht die Vergangenheit in all ihrer Glorie, und auch ihn beflügelt ein Bild."

"Vorwärts in die Vergangenheit!" – das ist laut Lilla der Leitsatz aller Reaktionäre, die er "politische Nostalgiker" nennt.
In diesem Sinne erscheint es plausibel, dass Lilla in Osteuropa – zumal in Ungarn unter Orban und Russland unter Putin – eine straff reaktionäre Politik am Werk sieht. Auch die neo-osmanischen Tendenzen der Politik des türkischen Präsidenten Erdogan gehören in diese Kategorie.

Fundamentalistische Muslime und ihr Goldenes Zeitalter

Am entschiedensten aber glauben laut Lilla heute fundamentalistische Muslime an ein verlorenes Goldenes Zeitalter, das für sie mit dem historischen Wirken Mohammeds zusammenfällt.
Aus ihrer Sicht, so Lilla, ist durch den modernen Säkularismus, Individualismus und Materialismus ein neues Heidentum entstanden, gegen das man nicht weniger streng vorgehen müsse wie einst der Prophet gegen das alte Heidentum.

"Er machte keine Kompromisse. Er gab sich nicht liberal. Er wollte keine Demokratie. Er strebte nicht nach Entwicklung. Er sprach Gottes Wort und gab sein Gesetz weiter, und wir (die Muslime) müssen seinem heiligen Beispiel folgen. Sobald dies getan ist, wird das glorreiche Zeitalter des Propheten wiederkehren und mit ihm seine Gefährten. Inschallah."

Björn Höcke und der nationalistische Flügel der AfD, der politische Islamismus, die Hard-Core-Evangelikalen in den USA und Vladimir Putin in Moskau – verbindet sie alle ein reaktionärer Geist?
Tatsächlich klafft zwischen Ideen- und Realgeschichte, zwischen Idealtypen und den konkreten Menschen im bunten Leben immer eine Differenz. Lillas Verdienst liegt darin, das Augenmerk auf die Intensität der Überzeugungen zu lenken, die Reaktionäre unterschiedlicher Couleur quasi zu Blutsverwandten der Revolutionäre macht.

Für Revolutionäre liegt das Ziel in der Zukunft

Beide unterstellen der Geschichte wider alle vernünftige Erkenntnis ein ideales Ziel. Für Revolutionäre liegt das Ziel uneingelöst in der Zukunft, für Reaktionäre in einer glänzenden Vergangenheit, deren Wiederkehr sie anstreben.
Ihre Phantasie von einem paradiesischen Retropia fällt ungerührt hinter Heraklits Erkenntnis zurück, man könne nicht zweimal im selben Fluss baden. Politische Nostalgie von dieser Sorte, so pointiert es Lilla, "offenbart eine Form magischen Denkens im Hinblick auf die Geschichte".
Weil aber gerade Vernunft, Aufklärung und Freiheitsstreben von den Reaktionären für den misslichen Geschichtsverlauf mitverantwortlich gemacht werden, dürfte ihnen dieser Vorwurf schnuppe sein.
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