Sehnsucht nach Frieden

Von Godehard Weyerer · 12.12.2007
Die alljährliche Woche der großen Ehrungen begann auch in diesem Jahr wieder mit dem Friedensnobelpreis, der diesmal ganz dem Klimaproblem gewidmet war. Vor 80 Jahren erhielt der Deutsche Pazifist Ludwig Quidde diesen hohen Preis für sein Streben nach Versöhnung zwischen den Nationen, zwischen Frankreich und Deutschland. Die erlebte Quidde zu Lebzeiten nicht mehr.
"Es muss sein eine Welt, die zusammengehalten ist durch die Grundsätze des Rechts an Stelle der alten Grundsätze der Gewalt. Es hat gesiegt die Idee des Pazifismus, der heute sich beugen müssen auch die, die ihn aufs schärfste bekämpft haben."
(Rede Ludwig Quiddes im Provisorischen Nationalrat Bayerns, 17. Dezember 1918)

Ludwig Quidde gehörte zu den Optimisten, diesen unverbesserlichen Optimisten, die an den Sieg des Pazifismus glaubten. Doch der Krieg ist immer noch unter uns. Kräftig spukt er in den Köpfen der Mächtigen und noch kräftiger in den Köpfen derer, die gerne mächtig werden wollen.

Der Friedensnobelpreis wurde Ludwig Quidde am Nachmittag des 10. Dezember 1927 im Auditorium des Osloer Nobel-Instituts verliehen. Alles sei "glücklich verlaufen", schrieb er abends an seine Frau Margarethe, die aus München nicht mitgereist war.

"Meine Antwort auf die Laudatio des Vorsitzenden des Nobel-Komitees, des Professors der Rechte an der Universität Oslo, Frederik Stang, ist zum Teil in leichtem Ton scherzhaft, zum Teil ernsthaft und ein wenig pathetisch gewesen und soll sehr gefallen haben. So versichert unter anderem unser Gesandter."

Als Ludwig Quidde vor 80 Jahren gemeinsam mit Ferdinand Buisson in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm,

"für sein pazifistisches Lebenswerk und für seine Beteiligung an der deutsch-französischen Verständigung",

da war bereits abzusehen, dass der Versöhnungspolitik zwischen Frankreich und Deutschland keine große Zukunft beschieden war. Dafür hatten sich auch die Politiker Stresemann und Briand eingesetzt, die im Jahr zuvor den Friedensnobelpreis erhalten hatten. Geholfen hat es nichts. Was folgte, waren Machtergreifung, Aufrüstung und erneuter Krieg. Ludwig Quidde hatte in seinem Nobelvortrag den Lauf der Dinge vorausgesehen.

Ein solches Ergebnis würde dazu führen, dass eine Bewegung, die den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und die Lossagung von den Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages fordert, in Deutschland übermächtig werden würde. Was sich daraus weiter ergeben würde, brauche ich nicht auszumalen. An eine Befriedung Europas wäre auch im günstigsten Fall lange nicht zu denken."

Holl: "Man kann sagen, dass diese Worte Quiddes eine gewisse seherische Kraft hatten. Denn 1933 kommt es im Zeichen des neuen Regimes unter Hitler zur kräftigen Aufrüstung und zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. ... Das ist sicher ganz klar und deutlich von Quidde erkannt worden."

Wie kam Ludwig Quidde zum Pazifismus? Der Bremer Historiker und Quidde-Biograf Karl Holl spricht von einem Erweckungserlebnis.

"Manch einer mag sich an dem Anblick berauschen, so weit geht's bei mir nicht. Im Gegenteil, mich hat das Bild mit Trauer und Ekel erfüllt, nicht wegen des Loses der Gefallenen und Verwundeten."

Holl: "Ein Besuch eines Panoramas, das ein Gefecht in jenem Krieg 70/71 darstellte, das Gefecht von St. Privat, das ein fürchterliches Gemetzel gewesen ist."

"Sie sterben und leiden ja nicht für eine Sache, die ihnen hoch und heilig sein sollte, sondern da waren verschiedene Figuren, denen die Rachsucht, der Hass, die Lust zu morden so recht auf dem Gesicht geschrieben stand."

Holl: "Das Panorama, das er in Berlin sehen konnte, ein Rundbau, Panoramen waren damals die übliche Form einer massenwirksamen Darstellung solcher Großereignisse, wenn man will ein Kinoersatz der damaligen Zeit."

"Dass der Mensch da Taten begehen kann, ohne Gewissensbisse zerstörend in fremdes Glück und Leben einzugreifen, und dass dieses Verbrechen Pflicht ist, das ist das Furchtbare für mich."

Holl: "Dieses Bild hat ihn sehr ergriffen, darüber hat er seiner Frau berichtet, dass für ihn es ein bewegendes Ereignis gewesen sei und er von Krieg seither nichts mehr halten könne, der Krieg sei im Grunde ein menschenunwürdiger Vorgang."

Pazifisten haben es schwer. Als Idealisten gelten sie, als weltfremde Gutmenschen, die kneifen, wenn es ernst wird, die nicht bereit sein, für ihre Überzeugungen ihr Leben zu opfern.

Ludwig Quidde hätte sich dagegen verwahrt - in aller Form und Deutlichkeit. Der Versöhnung über die Grenzen der Nationalstaaten widmete er sein Leben; Abrüstung und internationale Schiedsgerichte sollten es möglich machen. Man erreicht das Mögliche nicht, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. Ludwig Quidde zählte in seiner Zeit sicherlich zu denen, die herausfielen aus der breiten Masse. Ein Vordenker, ein Mann, der sich dem zivilisatorischen Fortschritt verschrieben hatte.

Die Sehnsucht nach Frieden ist so alt wie der Überdruss an kriegerische Gräuel. 1795 veröffentlichte Immanuel Kant seinen philosophischen Entwurf "Zum ewigen Frieden".

"Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden."

Der Appell des großen Philosophen aus Königsberg fruchtete nichts. Der Pazifismus scheiterte an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nationalismus, Hass und der Wunsch nach Vergeltung trieben die Menschen in Deutschland in die Arme der Nationalsozialismus.

Heute, über 60 Jahre nach der totalen Niederlage, lässt sich sagen, dass die kritische und offene Auseinandersetzung mit der eigenen kriegslüsternen Vergangenheit zu einem gehörigen Maß an demokratischem Selbstverständnis geführt hat; die zivilisatorische Läuterung ist ein großes Verdienst der kollektiven Vergangenheitsbewältigung.

Sternstein: "Das ist eine Erfahrung aus der Geschichte, dass Krieg und Gewalt nichts wirklich gelöst haben, sondern aufs Ganze gesehen die Situation nur verschlechtert haben."

Wolfgang Sternstein, Friedensaktivist aus Stuttgart.

"Ich glaube, dass das bloße Nein Sagen zu Krieg und Gewalt nicht ausreicht. Wir brauchen etwas Besseres, wir brauchen eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung."

Wer etwas verändern will, muss die herrschende Politik in Frage stellen. Der bloße Glaube an die Friedfertigkeit versetzt noch keine Berge. In gewaltfreien Aktionen sieht Wolfgang Sternstein eine geeignete Methode, Gewalt und Hass, Unterdrückung und Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen. Seine Vorbilder: Mahatma Gandhi und Martin Luther King.

Sternstein: "Leider hat der Pazifismus in Europa darin versagt, eine solche konstruktive Alternative zu entwickeln und ist deswegen auch nicht mehr gewesen als eine zwar respektable, aber unbedeutende Randerscheinung. Man kann die Geschichte Indiens oder der USA nicht schreiben, ohne die Namen Gandhi oder King zu erwähnen. Man kann aber die Geschichte Europas schreiben, ohne den Pazifismus zu erwähnen."

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte voller Kriege. Überall auf der Welt und bis in unsere Tage. In Asien. In Europa. In Amerika. Der Friede gedeiht nur zwischen sterbenden Völkern, meinte hierzu der kolumbianische Philosoph Nicolas Gomez Davila. Wodurch und wie konstituiert sich dagegen Frieden? Alfred H. Fried, österreichischer Pazifist, Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft und Friedensnobelpreisträger 1911, stellt diese Frage in den Mittelpunkt seiner pazifistischen Programmatik.

Wer eine Folge beseitigen will, muss zunächst ihre Ursache beseitigen. Und wer eine neue wünschbare Folge anstelle einer anderen gezeitigt sehen will, muss anstelle der einen Ursache jene andere setzen, die die gewünschte Folge hervorbringen kann."
(Alfred H. Fried: Was ist ursächlicher Pazifismus? (1908/1916),

Solange Völker und Nationen Interessenskonflikte ausschließlich unter Anwendung von Gewalt austragen, ist Krieg notgedrungen die Folge. Werden Konflikte gewaltfrei bearbeitet, herrscht dauerhafter Friede. Oder, um mit Immanuel Kant zu sprechen "ewiger Friede":

"Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden ist. Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen. Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand, er muss also gestiftet werden. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein."

Münkler: "Zunächst einmal glaube ich, Pazifismus ist ein ungemein schwieriger Begriff, weil darunter ganz unterschiedliche Positionen subsumiert sind."

Herfried Münkler, Historiker und Politologie-Professor an der Humboldt-Universität Berlin.

Münkler: "Was wir heute haben, ist eine andere Form, in der verhandlungsunwillige und verhandlungsunfähige Akteure eine Rolle spielen, in der wir es auch nicht wissen, mit welchen Rationalitäten wir es zu tun haben, sodass also der Gebrauch von Gewalt eher ein Polizeicharakter inzwischen hat als der klassischen militärischen Gewalt, etwa wenn wir von humanitären militärischen Interventionen sprechen. Kurzum: Der Pazifismus hat die Orientierung auf Frieden bedingungslos gemacht, aber er hat dabei selten im Auge gehabt, auf welche Verhältnisse er das genau anwendet. Das erklärt auch, warum er so viele Probleme in der Verwirklichung hat."

Ludwig Quidde wäre ein Leben fern aller Sorgen beschieden gewesen. Sein Vater, ein erfolgreicher Kaufmann aus Bremen, hatte dem Sohn zur Hochzeit 800.000 Reichsmark vermacht. Er wurde aber kein Geschäftsmann, sondern machte als Wissenschaftler Karriere. Als wohl reichsten Historiker im wilhelminischen Deutschland bezeichnet ihn sein Biograf Karl Holl. Und in seiner zuversichtlichen Weltsicht als beharrlich und geradezu unbeirrbar.

Holl: "Bis zu dem Punkt, dass man, wenn man die Dokumente liest, daran zweifelt, ob dieser Optimismus auch so begründet war, wie er sich das vorstellte. Er war ein lebensbejahender Mensch, der den heiteren Seiten des Lebens nicht abhold war. Ein Mann, der rational zu argumentieren vermochte und das auch von seinen Partnern erwartete. ... Ein Mann, der sehr viel Bildung besaß, der Historiker war, und der unter anderen Umständen hätte Karriere machen können, wenn er nicht in gewisser Weise riskant gelebt hätte - vor allem beginnend mit dem Caligula."

"Oderint dum metuant" - "mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten", zählte zum bevorzugten Wortschatz des berüchtigten römischen Kaisers Caligula. Mit dieser furchteinflössenden Widmung schmückte auch der junge Kaiser Wilhelm II. seine Porträt-Fotos und ließ sie in großer Zahl verteilen.

"Als ich im Jahre 1889 in Hertzbergs Geschichte des römischen Kaiserreichs die Seiten las, die von Gajus Caesar Caligula handeln, fielen mir sehr überraschende Parallelen zu Tagesereignissen und zu Beobachtungen an dem im Vorjahr zur Regierung gelangten jungen Kaiser Wilhelm auf."

Ludwig Quidde nutzte diese Analogie und verfasste eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn. Er schrieb über Caligula, aber zielte auf den deutschen Kaiser ab. Die Grenzen zwischen textkritischer Edition althistorischer Quellen und einer sarkastischen Schilderung Wilhelms II. und seiner Zeit verwischte Ludwig Quidde derart geschickt, dass er wegen Majestätsbeleidigung nicht belangt werden konnte.

Holl: "Es gab dann wenig später einen Anlass, als der Kaiser für eine Gedenkmünze für seinen Großvaters warb. Quidde fand das unangemessen, war für ihn ein weiteres Beispiel für die völlige Verkennung kaiserlichen Aufgaben. Er hat das ironisiert und gesagt, wenn es eine Münze für Wilhelm den Großen, so sollte die Münze genannt werden, geben soll, muss es logischerweise auch ein Wilhelm den Kleinen geben. Das wurde als Majestätsbeleidigung betrachtet. Der Staatsanwalt griff zu und die Folge war eine dreimonatige Gefängnisstrafe für Quidde in München-Stadelheim."

Am 25. März 1894, Quidde war zwei Tage zuvor 36 Jahre alt geworden und somit ein Jahr älter als Wilhelm II., erschien das Pamphlet. Anders als noch ein Jahr zuvor, als er eine Anklageschrift über den Militarismus im Deutschen Reich anonym verfasste, zeichnete er diesmal mit seinem vollen und korrekten Namen.

"Wochen auf Wochen vergingen, ohne dass sich irgend etwas rührte. In keiner Zeitung eine Besprechung, auch nicht die kleinste Notiz. Niemand traute sich, das heiße Eisen anzufassen."

Der konservativen Kreuzzeitung blieb es überlassen, darüber zu berichten; sodann nahm der Skandal seinen Lauf.

Als Historiker hat Ludwig Quidde nach der Caligula-Streitschrift so gut wie nichts mehr veröffentlichen können. Er wechselte in die Politik. Parallel dazu verlief sein pazifistischen Engagement. 1894 Eintritt in die von Bertha von Suttner mitbegründete Deutsche Friedensgesellschaft, 1901 deutscher Vertreter im internationalen Friedensbureau in Bern, 1907 der erste von ihm organisierte Weltfriedenskongress, 1914 Wahl zum Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft. Unermüdlich arbeitete Ludwig Quidde für die Friedensbewegung, organisierte Konferenzen, baute Kontakte aus, war um die deutsch-französische Aussöhnung bemüht.

Auch Alfred Nobel, der Dynamitfabrikant, nahm für sich in Anspruch, für den Frieden und gegen den Krieg zu arbeiten, als er zur Feder griff und an Bertha von Suttner schrieb, die Mitbegründerin der Deutschen Friedensgesellschaft.

"Meine Fabriken werden vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende machen als Ihre Kongresse: An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde werden vernichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden."

Die von Alfred Nobel angebotene Stelle als Privatsekretärin hatte Bertha von Suttner als junge Frau ausgeschlagen, ebenso sein Ansinnen, sich an ihn zu binden.

Aber beide blieben zeitlebens in engem Briefkontakt bis zum Tod Alfred Nobels am 10. Dezember 1896. 1905 erhielt Bertha von Suttner den Friedensnobelpreis. 1927 Ludwig Quidde.

Sternstein: "Ich bin der Überzeugung, dass dieser Hass und diese Gewalt aus der Welt geschafft wird, wenn sich Menschen finden, die bereit sind, es hinzunehmen ohne Hass und Vergeltung."

Wolfgang Sternstein, der Friedensaktivist aus Stuttgart, bekennender Christ und Verfechter einer gewaltfreien und somit gerechten Weltordnung - frei von Hass und Vergeltung.

Sternstein: "Erst dann werden sie aus der Welt geschafft, neutralisiert, so wie eine Säure eine Lauge neutralisieren kann und umgekehrt. Genau so denke ich mir, dass diese geheimnisvolle Kraft der Gewaltfreiheit imstande ist, den Hass, die Gewalt, die Erniedrigung, die Unterdrückung, die Ungerechtigkeit, die in der Welt ist, wieder aus der Welt zu schaffen. Uns ist das im christlichen Kulturkreis eigentlich gar nicht so unbekannt. Das Gebot der Feindesliebe, der Nächstenliebe, sind ganz ähnlich gelagert, was Gandhi gewaltfreie Aktion nennt. Es ist die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen, auch ohne zurückzuweichen. Das ist der ganz wesentliche Punkt. Das hat nichts zu tun mit feiger Unterwerfung unter den Tyrannen, sondern es ist eine Form des Widerstandes, eines Widerstandes ohne Gewalt."

Münkler: "Stell dir vor, es ist Massaker und keiner geht hin. Das war in gewisserweise die Umkehrung dieser früheren Formel, stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Damals war das gewissermaßen eine optimistische Perspektive. Jetzt ... war es Ausdruck der Gleichgültigkeit und Desinteresses, also einer zynischen Inhumanität."

Herfried Münkler, der auch Beiratsmitglied der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ist, hat den Begriff der "Neuen Kriege" kreiert. Der formalisierte, geregelte, konventionelle Krieg zwischen Staaten, wie wir ihn bis Ende des Kalten Krieges fürchteten, wurde abgelöst durch einen neuen Typus - ein Krieg ohne Kriegserklärung, ohne Regeln, ohne Sieger und Verlierer, ohne Friedensschluss. Aus Krieg wird ein "Konflikt", eine "militärische Auseinandersetzung", im günstigsten Fall eine "humanitäre Intervention".

Nachtwei: "Auf der anderen Seite heißt das nicht, diese schlimme Erfahrung mit Militärinterventionismus für Macht- und Ausbeutungsinteressen, dass es nicht auch militärische Interventionen geben kann, die tatsächlich sich der Friedenssicherung verpflichtet fühlen -und zwar im Rahmen der Vereinten Nationen. Allerdings, wenn es dann zu einem Militäreinsatz im Rahmen der Vereinten Nationen also zur Friedenssicherung kommt, dann wäre es naiv zu meinen, dass es nur um Friedenssicherung geht, sondern dann spielen auch wieder machtpolitische und Einflussinteressen von Teilnehmerstaaten mit."

Winfried Nachtwei, Mitglied des Deutschen Bundestages, abrüstungspolitischer Sprecher von Bündnis90/Die Grünen. Pazifismus, sagt er, habe es nach wie vor schwer und werde in der Politik kaum wahrgenommen. Andererseits: Die Zeiten für zivile Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung seien so gut wie selten.

"Und zwar weil sich in letzten Jahren immer deutlicher gezeigt hat, welche Grenzen auch Militäreinsätze haben, die den Anspruch von Friedensmission haben, also den Anspruch von Gewalteindämmung, Kriegs- und Gewaltverhütung. ... Allerdings, das ist das Problem dabei, die verbale Zustimmung zu ziviler Krisenprävention und Konfliktbewältigung ist viel, viel größer als die reale Unterstützung."

Ludwig Quidde war kein Friedensschwärmer, er verband politischen Realitätssinn mit starkem Nationalgefühl. Ludwig Quidde blieb dabei seiner großbürgerlichen Herkunft verhaftet. Dem Druck der Straße nachzugeben, wäre nicht seine Sache gewesen. Gegen eine konstitutionelle Monarchie hätte er wohl keine ernsthaften Einwände erhoben. Voller Stolz berichtete er von einem persönlichen Empfang beim Reichskanzler Bethmann-Hollweg. Er wollte mitreden in der großen Politik. Er wollte gehört werden. Und geriet ins Abseits.

Holl: "Auf der einen Seite haben wir den Traditionspazifismus a´la Quidde, der auf die persönliche Überzeugungskraft der Friedensbotschaft vertraut. Auf der anderen Seite haben Sie den im I. Weltkrieg heranreifenden radikaleren Pazifismus, der davon ausgeht, dass der Staat nicht nur in außenpolitischer Hinsicht Reformen vornehmen muss, sondern dass auch im Inneren durch sozial- und strukturpolitische Maßnahmen der Staat sich ändern müsste im demokratisch-republikanischen Sinn."

Diese radikalere Richtung innerhalb der Friedensbewegung blieb Ludwig Quidde zeitlebens fremd. Auch sonst war sein pazifistisches Engagement nicht immer konsequent. Als 1914 die kaiserlichen Truppen in Belgien einmarschierten und die Neutralität des kleinen Landes verletzten, schwieg Ludwig Quidde. Befürchtete er andernfalls Sanktionen gegen die Deutschen Friedensgesellschaft, deren Präsident er seit 1914 war? Oder glaubte er, Deutschland konnte nicht anders, als zu den Waffen zu greifen, so wie er 1871 die Annexion Elsass-Lothringens für rechtens hielt?

Auch den Versailler Vertrag lehnte Quidde ab, berichtet sein Biograf Karl Holl. Politisch unklug war es seiner Ansicht nach, den Besiegten in einem Maße zu bestrafen, dass er sich von der Strafe nicht zu erholen vermochte.

Holl: "Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt: Es war unter Quidde und seinesgleichen nicht ausgemacht, ob Deutschland überhaupt der alleinige Schuldige wäre. Drittens, da sprach er als Historiker, der sagte, solange die Archive nicht geöffnet sind und alle Dokumente nicht zugänglich sind, wage ich kein abschließendes Urteil. Diese drei Überlegungen ... die machen die Gesamtheit seiner Argumente wohl aus, die ihn in der Schuldfrage anders haben urteilen lassen als die radikalen Kräfte innerhalb der deutschen Friedensbewegung, die inzwischen ihren Mund aufmachten und sagten, dieser Friede ist gerecht."

Einem patriotischen Pazifismus fühlte sich Ludwig Quidde verpflichtet. Angriffskrieg lehnte er ab, im Verteidigungsfall hätte er eigenhändig zu den Waffen gegriffen. Die radikaleren Kräfte in der Deutschen Friedensgesellschaft hielten von einem patriotischen Pazifismus a la Ludwig Quidde ohnehin nicht viel. Anders als er unterschieden sie nicht zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg und verweigerten den Dienst an der Waffe kategorisch. Am Ende waren Ludwig Quidde und eine schwindende Gruppen von Gleichgesinnten isoliert. 1929 trat er als Präsident der deutschen Friedensgesellschaft zurück.

Holl: "Ihm folgten eine ganze Zahl ähnlich orientierter Mitkämpfer im Vorstand. Das war, wie ich finde, ein ziemlicher Aderlass. Es waren vor allem die Kräfte, die für den Zusammenhalt zwischen Pazifismus und den Weimarer Parteien SPD, Zentrum und die Linksliberalen in der DDP standen. Wenn man diesen Zusammenhalt preisgab, gab man sich wichtiger Einflussmöglichkeiten, mochten sie auch im Ergebnis noch so gering sein, wie sie tatsächlich waren. Aus Quiddes Sicht war es selbstmörderisch, was da geschah."

Ludwig Quiddes Lebensentwurf war gescheitert, sein zweiter. Nun, Anfang der 30er Jahre, stand er ohne Amt und Würden da. Über ihn, der die Friedenssehnsucht als Ethik einer kleinen hochmoralischen Elite verstand, war die Zeit hinweggegangen.

Böhnke: "Ummittelbar nach dem II. Weltkrieg, eigentlich infolge der Gründung der Vereinten Nationen und der Unesco, gab es eine Psychologisierung der Frage, warum passieren Kriege, warum machen Menschen so etwas."

Klaus Böhnke aus dem Vorstand des Forums Friedenspsychologie.

"Ich würde aber davor warnen, dieses gleichzusetzen - das ist auch ein großes Anliegen der Friedenspsychologie - mit so etwas wie einem Aggressionstrieb. Der Mensch hat, das kann man aus der Forschung ganz eindeutig sagen, da gab es ja auch das sogenannte Sevilla-Statement zu Gewalt ..., wo ganz klar festgestellt wurde, dass man nicht davon sprechen kann, dass Krieg, einfach weil der Mensch von Hause aus aggressiv ist, stattfinden muss. Kriege kommen nicht zustande, weil sich aus einer biologischen Gesetzmäßigkeit etwas anstaut und irgendwann muss das raus und dann findet Krieg statt. Solch einen Mechanismus gibt es nicht. Menschen und menschliche Strukturen fördern oder hemmen Kriege. Wir brauchen keine Gentherapie gegen den Aggressionstrieb. Das wird Krieg nicht verhindern."

Wie ist es möglich, dass sich die Masse bis zur Raserei und Selbstaufopferung entflammen lässt? Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien? Aufgestaute Kränkungen und irrationale Feindbilder schüren Hass. Die vornehmste Aufgabe von Friedensstiftern wäre, die Menschen glücklich zu machen. Ludwig Quidde schaffte es nicht. War er denn selbst glücklich?

Seine Ehe war es zumindest nicht. Lange Jahre lebte das kinderlose Ehepaar getrennt. Margarethe, seine Ehefrau, in München; er zur Untermiete in Berlin. Der Sitz der Deutschen Friedensgesellschaft war von Stuttgart in die Reichshauptstadt verlegt worden. Charlotte Kleinschmidt hieß die Vermieterin in Berlin, Lotti die gemeinsame Tochter, von der die Ehefrau nichts wissen durfte. Dem großen Pazifisten fehlte der ruhende Pol einer funktionierenden Beziehung. 1933 verließ Ludwig Quidde rechtzeitig Deutschland und lebte bis zu seinem Tod in Genf- zunehmend vergessen. Seine Frau Margarethe war in München zurückgeblieben.

Der Bremer Historiker Karl Holl entdeckte Ludwig Quidde, sein Leben und sein Werk, Ende der 60er Jahre für sich. Während er in Genf in der Bibliothek des Völkerbundes die Akten der Deutschen Friedensgesellschaft studierte, knüpfte er Kontakt zu Charlotte Kleinschmidt, der Mutter der gemeinsamen, unehelichen Tochter. Zunächst vergeblich.

Holl: "Ein zweiter Versuch war erfolgversprechender. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass das Bundesarchiv in Koblenz den Nachlass ankaufen würde. Mutter und Tochter waren offenbar nicht in besten finanziellen Umständen, sodass die beiden Damen meine Andeutung, der Nachlass könne an die Bundesrepublik Deutschland verkauft werden, nach einigem Zögern nachgaben."

Karl Holl war bevollmächtigt, 10.000 Mark zu zahlen, falls sich im Nachlass ein bestimmtes Manuskript fand, eine unvollständig gebliebene Abhandlung über den deutschen Pazifismus im I. Weltkrieg. Ein Beamter des Bundesarchivs begleitete Karl Holl. Zur Übergabe erschien die Tochter, die Mutter nicht.

Holl: "In meiner Erinnerung waren es 10 bis 15 Kartons; die wurden per Taxi in ein Restaurant gebracht, wo wir uns verabredet hatten. Die Tochter war eine Weile anwesend, bis wir das Manuskript, das wir suchten, gefunden hatten. Dann verließ sie uns wieder und wir haben uns damit beschäftigt, die Kisten in den Lieferwagen einzupacken und nach Koblenz zurückzufahren."

Ludwig Quidde starb am 5. März 1941, wenige Tage vor seinem 83. Geburtstag, in Genf. Sein Leichnam wurde eingeäschert und auf dem Friedhof von Petit-Saconnex beigesetzt.