Sehnsucht nach Freiheit

Rezensiert von Ulrike Ackermann · 17.01.2010
Seyran Ates sieht in der Sexualität die gravierendste Kluft zwischen dem Westen und der muslimischen Welt. Nach Ansicht der Autorin braucht "der Islam eine sexuelle Revolution", um die Zeitmauer zur Moderne zu durchbrechen.
Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, fordert die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates in ihrem jüngsten Buch. Sie zählt zu den wenigen Islam-Dissidentinnen, die nicht nur den Islamismus kritisieren, sondern unerschrocken auf die großen Probleme hinweisen, die der Islam mit den westlichen Bürger- und Freiheitsrechten hat.

Dafür zahlte sie in der Vergangenheit bereits einen hohen Preis: Nachdem sie bedroht, zusammengeschlagen und angeschossen wurde, gab sie zeitweise ihre Tätigkeit als Anwältin auf. Mit ihrer neuesten Streitschrift berührt Seyran Ates einen äußerst wunden Punkt: die Sexualität. Ob Individuen ihre Sexualität selbstbestimmt leben können oder eben nicht, darin sieht sie die gravierendste Kluft zwischen dem Westen und der muslimischen Welt.

Als Ates 1969 aus der Türkei nach Deutschland kam erlebte sie selbst einen großen Kulturschock. In ihrer Kindheit und Jugend begleitete sie als ständige Mahnung das Wort "ayip": unanständig. Ein anständiges Mädchen hatte die strikte Geschlechtertrennung zu beachten, hatte schamvoll mit dem eigenen Körper umzugehen und durfte sich nicht mit Jungs treffen. Mit 18 Jahren verließ sie ihr zu Hause:

"Ich wollte einfach frei sein. Frei leben, denken und fühlen. So fing meine sanfte sexuelle Revolution an."

Auch sie hatte anfangs innerlich zu kämpfen: im Gepäck die Prüderie und Sexualfeindlichkeit ihrer türkischen Sippe und zugleich ihre eigene Sehnsucht nach Freiheit. Die sexuelle Selbstbestimmung, nämlich das Recht einer jeden Frau und eines jeden Mannes, ihre Sexualität unabhängig von ihrer Religion frei entfalten zu können, stand für sie fortan auf der Agenda.

"Wenn die islamische Welt wirklich und wahrhaftig an einer Demokratisierung ihrer Gesellschaften interessiert ist, geht das nur über die Anerkennung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, was eng mit der sexuellen Selbstbestimmung der Frauen verbunden ist ... Die religiös begründete Sexualmoral hindert sie daran, eine moderne demokratische Gesellschaft zu schaffen."

In Absetzung zum sogenannten "unmoralischen Westen" hat die Sexualität im Islam nur in der Ehe ihren erlaubten Raum, flankiert vom Jungfrauenkult, Zwangsheiraten, der Verhüllung der Frauen in Kopftuch, Tschador und Burka, der strikten Geschlechtertrennung und der Ächtung der Homosexualität. Dem Mythos von der Sinnenfreudigkeit des Islam hält Seyran Ates entgegen:

"Wenn überhaupt so gilt dies nur für Männer. Ihnen ist es laut Koran erlaubt, bis zu vier Frauen zu ‚besitzen’, und im Paradies werden sie dann angeblich auch noch von 72 Jungfrauen erwartet. Aber ist das ein Beweis für Sinnenfreude, wenn es immer nur um die Lust einer der beiden am Sex Beteiligten geht?"

In einigen islamischen Ländern werden Frauen, die außerhalb der Ehe ihre Sexualität leben, bis heute ausgepeitscht, gesteinigt oder getötet. Aber auch hier bei uns wollten Brüder die Ehre der Familie retten, als sie ihre Schwestern wegen ihres westlichen Lebenstils ermordeten. Man erinnere sich nur an die 23-jährige Kurdin Hatun S. in Berlin und die 16-jährige Afghanin Morsal O. in Hamburg.

Seyran Ates ist fest davon überzeugt, wenn der Islam die Zeitmauer zur Moderne durchbrechen will, muss dort ebenso wie Ende der Sechzigerjahre im Westen eine sexuelle Revolution stattfinden und müssen die Geschlechterverhältnisse neu gestaltet werden. Auch dies war das Ergebnis eines langwierigen komplexen gesellschaftlichen Prozesses. Fiebrig las man hier damals Wilhelm Reichs "Sexuelle Revolution". Breitenwirkung erlangte der Tabubruch dann mit den Aufklärungsfilmen Oswald Kolles. Rückblickend sagt Ates:

"Die sexuelle Revolution von 1968 hat im Westen die gesamte Gesellschaft aus den Angeln gehoben, alte Autoritäten entmachtet und die Gesellschaftsordnung verändert. Der repressive Umgang mit Sexualität und die damit einhergehende unerträgliche Doppelmoral wurden entlarvt und öffentlich angeprangert. Man sprach laut aus, was allen bewusst war, dass nämlich die sexuelle Lust sich nicht entfalten kann, solange die Religion als Sitten- und Moralwächter auftritt."

Verglichen damit beschert der Islam den Frauen wahre Abgründe der Unfreiheit: solange die Jungfräulichkeit der Töchter für Ehre und Anstand der Familie steht, solange Ehen arrangiert werden, Frauen ihren Kopf und Körper verhüllen müssen, weil sie ansonsten schutzlos der Triebhaftigkeit der Männer ausgeliefert seien.

Es verwundert nicht, dass der Männlichkeitswahn, entstanden aus der religiös begründeten Geschlechterhierarchie und der übertriebenen Sexualisierung auch in Gewalt mündet. Doch nicht nur den Frauen, so Ates, sondern auch den Männern werde durch religiöse Vorschriften letztlich die Erotik, das Intime und Persönliche am Sex geraubt.

In den westlichen Gesellschaften hat die in zähem Kampf auf den Weg gebrachte Gleichberechtigung der Geschlechter den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt beschleunigt. Der Islam verhindert aber gerade diese Entwicklung, so Ates:

"In muslimischen Gesellschaften zeigt sich in vielen Bereichen, dass die Geschlechtertrennung und die damit einhergehende permanente Sexualisierung des gesellschaftlichen Lebens Stillstand und mangelnden Fortschritt bedeuten. Denn der Umgang der Geschlechter miteinander, im Privaten wie im Öffentlichen, prägt eine Gesellschaft, ist ein Maßstab für Toleranz und Demokratie.

Für eine wirkliche Entwicklung in Richtung Moderne, in Richtung Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter müssten die muslimischen Politiker und die religiösen Führer begreifen, dass Politik und Religion zu trennen sind und dass eine funktionierende Zivilgesellschaft nur dann entstehen kann, wenn archaische Lebensmodelle überwunden, wenn die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft nicht länger zu Menschen zweiter Klasse, zu Bediensteten und Sklavinnen der Männer degradiert werden."

Der Impuls zu dieser Veränderung muss aus der Mitte der islamischen Gesellschaft kommen, in den einzelnen Ländern – wie sich inzwischen in Iran zeigt – ebenso wie in den im Westen verstreuten muslimischen Communities. Getragen von liberalen und säkularen Muslimen, die so wagemutig sind wie Seyran Ates. Denn dissidente Kreativität befördert die Freiheit allemal!


Seyran Ates: Der Islam braucht eine sexuelle Revolution’, Ullstein Verlag
Berlin