Sehnsucht nach einem anderen Tibet

15.10.2009
Birken und hohe Berge, Wiesen und weidende Rinder, eine Quelle und ein mächtiger Yak, und dazu der Dorfbub, der in den Sommerferien zusammen mit dem Dorfdeppen die Herden hütet. So idyllisch beginnt der neue Roman von Alai. So stellte sich der Städter im Rokoko die Schäferwelt vor, träumt der Westen von Tibet; fern der Moderne, nahe dem Märchen.
Doch schon nach wenigen Seiten bricht die historische Zeit in die Traumzeit einer tibetischen Kindheit ein. Die Tante des Dorfbuben wird öffentlich zur Schau gestellt. Sie muss ein Feuer auf dem Dorfplatz anzünden und sich beschimpfen lassen: sie sei reich und hinterhältig. – Es ist die Zeit der Kulturrevolution in Tibet, Mitte der 60er-Jahre, als der Autor selbst, 1959 im tibetischen Grenzland geboren, noch ein Kind war.

Alai erhielt in China den wichtigsten Literaturpreis (Mao-Dun). Sein erster Roman "Roter Mohn" war ein Bestseller und galt auch in Deutschland als "großer Wurf". Alai ist Chefredakteur der wichtigsten Science-Fiction-Zeitung in China. Und er gehört auch zu den 100 auserwählten Autoren, die das Pekinger Ministerium für Presse und Publikation auf die Frankfurter Buchmesse schickt. Wie ist das möglich? – Ein kritischer Tibeter als Amtschinese? Nun, Alai schreibt auf Chinesisch. Die traditionellen Tibeter mögen das nicht. Sie wollen die Imitation der alten tibetischen Verse. Und in seinem Erstling kritisierte Alai das alte, das feudalistische Tibet. "Roter Mohn", dieser köstliche Schelmenroman, ist auch eine Satire auf das rückwärtsgewandte Tibet.

In seinem neuen Roman "Ferne Quellen" hat die Tante dem Dorfdeppen Salz zugesteckt, diesem Außenseiter, der von allen Dörflern gemieden wird, weil er Schuppen im Gesicht hat. Der Naturbursche zieht sich in die Berge zurück, wo er die Pferde hütet und sich sehnt nach einer Zeit, als die tibetischen Nomaden noch zu einer fernen, heißen Quelle ritten. Wo Frauen und Männer nackt und in Feststimmung miteinander badeten.

Dieses Fernweh überträgt der Dorfdepp auf den Dorfbuben. Und der erzählt nun die Kindheitsgeschichte aus der Perspektive eines älteren Mannes, der inzwischen Schriftsteller geworden ist. Die Intrige des Romans ist schnell erzählt. Der Dorfbub und spätere Erzähler hängt an diesem Dorfdeppen namens Gongba. Er überbringt ihm das Salz der Tante. Sein Freund Tschampa verrät die Tante.

Dieser falsche Freund wird später Parteisekretär. Aus den fernen Quellen will er eine Attraktion für Touristen machen. Er lässt alles zubetonieren. Die Touristen kommen nicht und zurück bleibt eine Investitionsruine. Der Dorfbub wird Fotograf. Er erfüllt sich die Sehnsucht seiner Kindheit, reist an die Quelle und wendet den Blick ab. Der Dorfdepp wird in seiner Hütte verbrannt. Allein sein Schädel warnt die Leser im Geäst eines Kirschbaums.

Aus dem Dorfidyll wird ein Desillusionsroman. Der Kindheitstraum von Ferne und Freiheit mit dem Sinnbild der heißen Quelle wird durch den Fortschritt und die Parteiwirtschaft zubetoniert. Der alternde Erzähler erinnert sich mit Wehmut an seine Herkunft. Alai scheut nicht vor kitschigen Naturbildern zurück. Aber er hat eine Erzählkraft, die einen in Bann zieht. Er findet immer wieder neue Wendungen, schlägt mit der Figur von Gongba auch eine Brücke zum Fantastischen und Magischen. Und vor allem: Er zerstört trotz aller Enttäuschungen über die Parteiwirtschaft nicht die Sehnsucht nach einer anderen Welt, in seinem Fall, nach einem anderen Tibet.

Alai verknappt und verdichtet seine Beschreibungen. So entsteht ein Gebilde, das man als poetischen Realismus bezeichnen könnte. Realistisch in den Szenen der Zerstörung, poetisch, ja schön und erhaben in den Szenen der Sehnsucht.

Besprochen von Ruthard Stäblein

Alai: Ferne Quellen
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann
Unionsverlag, Zürich 2009
160 Seiten, 14,90 Euro