Sehnsucht nach dem mythischen Kindheitsland

07.04.2009
In den letzten Jahren hat der Schriftsteller Peter Handke zahlreiche Reisen nach Serbien unternommen und war mit seiner Haltung z.B. zum ehemaligen serbischen Präsidenten Milosevic mehrfach angeeckt. Serbien wie auch vorher Jugoslawien sind jedoch für Handke eher poetische als politische Größen, Metaphern für ein mythisches Kindheitsland. Dem spürt er nun in dem kosovarischen Dorf Velika Hoca nach, wo eine serbische Minderheit ein trauriges Dasein fristet.
Dieses neue kleine Büchlein von Peter Handke trägt den Untertitel "Eine Nachschrift", und dieser Untertitel ist in vielerlei Hinsicht interpretierbar. Es ist vor allem ein Blick zurück. Die Zukunft ist noch nicht ganz eingetreten, aber schon klar erkennbar. Handke ist noch einmal in eine serbische Enklave im jetzt selbständigen Kosovo gefahren. Die albanische Bevölkerungsmehrheit hat sich den selbständigen Staat "Kosovo" erkämpft, und die verbliebenen, versprengten serbischen Minderheiten werden von internationalen Schutztruppen verteidigt und bewacht. Das Dorf Velika Hoca im Süden des Kosovo ist völlig isoliert, vom albanischen Nachbardorf auf gespenstische Weise getrennt, und es scheinen nur noch ein paar Alte dort zu leben.

Bei Peter Handkes "Nachschrift" handelt es sich auch um eine Nachschrift zu seinen im Lauf der letzten Jahre unternommenen Serbien-Exkursionen. Sein Text ist nicht von Polemik oder von Wut geprägt, sondern von Trauer und Melancholie. Handkes "Serbien" war schon immer weniger eine politische als eine poetische Größe, es löste die ebenso poetische Größe "Jugoslawien" ab, nachdem der Vielvölkerstaat aufgehört hatte zu existieren.

Jugoslawien - das war für Handke ein mythisches Kindheitsland, es war das Land seiner Mutter, die der slowenischen Minderheit in Kärnten angehörte. Es war für den jungen Handke eine Vision der Freiheit. Er hat schon früh ein Erweckungserlebnis auf einer adriatischen Insel beschrieben und in seinen Büchern mehrfach diese Sphäre wieder aufgenommen.

Der Zerfall Jugoslawiens ist für Handke der Zerfall dieses Raums phantasierter Kindheit und Literatur, und Serbien, als das international verfemte Bruchstück dieses alten Jugoslawiens, bewahrt für Handke eine alte Sehnsucht.

In Velika Hoca ist diese Sehnsucht in einigen Restbeständen noch vorhanden: der Schuster, der kein Schuster mehr ist, die vertrocknenden Weinberge, die nicht mehr bewirtschaftet werden, das Brot, das nicht mehr in den alten Backöfen gebacken wird. Die leeren Stühle aus dem alten Kino, die jetzt in einer Art Kneipe stehen, beschwören die alte mythische Zeit des Miteinanders herauf. In der Kneipe, einem Blechcontainer, sitzen nur ein paar wenige Alte, und sie nennen sie "Rambouillet", nach dem Ort, an dem die letzten internationalen Jugoslawienbeschlüsse gefasst worden sind.

Handke gibt sich auf den ersten Seiten selbst die Anweisung, nur hinzuhören und eine Reportage zu schreiben, wie ein Journalist. Doch er merkt bald, dass er mit den Leuten in Velika Hoca nicht journalistisch umgehen kann. Unter der Hand wird sein Text eine poetische Schilderung des Vergangenen und Verfallenden. Von serbischem Nationalismus findet sich hier nichts. Das Massaker, das die Serben im bosnischen Srebrenica anrichteten, wird genauso benannt wie das Unrecht, dem sich die serbische Minderheit im Kosovo ausgesetzt sieht.

Velika Hoca ist ein verlorener Ort. Es ist nur merkwürdig, dass alle Kuckucke, die in Nord- und Mitteleuropa kaum noch zu hören sind, in und bei Velika Hoca versammelt zu sein scheinen. Doch niemand brütet die fremden Eier aus, und auch die Metapher der "fremden Nester" taugt nicht mehr.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Peter Handke: Die Kuckucke von Velika Hoca
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
99 Seiten, 12,90 Euro