Seenotrettung im Mittelmeer

"Wir sollten uns nicht auf einen Emotionsdiskurs fokussieren"

Italiens Innenminister Matteo Salvini in einer Fernsehdiskussion in Rom.
Wenn die Italiener sagen, sie wollen nicht mehr gerettete Flüchtlinge aufnehmen, stünde das im Konflikt mit grundlegenden Menschenrechten, betont der Politologe Gary Schaal. © imago / Samantha Zucchi
Gary Schaal im Gespräch mit Shanli Anwar · 21.07.2018
Bei der Seenotrettung im Mittelmeer warnt der Hamburger Politologe Gary Schaal davor, sich von Emotionen leiten zu lassen. Stattdessen sollte man sich auf eine rechtliche Debatte konzentrieren. Die Weigerung Italiens stehe mit grundlegenden Menschenrechten im Konflikt.
Italien weigert sich, aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge aufzunehmen – auch nicht im Zuge der EU-Mission "Sophia". Das sei mitleidslos und hartherzig, sagte der Politologe und Emotionsforscher, Gary Schaal von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg im Deutschlandfunk Kultur. Die Weigerung Italiens stehe mit grundlegenden Menschenrechten im Konflikt.

Fragen von Recht und Moral

"Emotionen können uns leiten, wohin wir gehen sollen, aber sie haben nicht die wirkliche moralische Qualität", sagte der Wissenschaftler, der auch das Bundesverteidigungsministerium berät. "Menschen wissentlich ertrinken zu lassen, hat eine ganz andere Qualität. Wir sollten uns nicht auf einen Emotionsdiskurs, sondern auf einen rechtlichen, menschenrechtlichen Diskurs fokussieren, und dann ist klar, das ist kein Verhalten, das man tolerieren sollte politisch."

Das Interview im Wortlaut:

Shanli Anwar: Italien droht, will nicht mehr aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge aufnehmen. Fünf Wochen hat die EU, um eine neue Strategie zu finden für ihre EU-Marinemission "Sophia". Falls es keine Lösung gibt und Italien wirklich die Rettungsmission der EU im Mittelmeer stoppt, dann wäre das, emotional gesehen, eine harte Nachricht, wenn man an das Schicksal von Flüchtlingen denkt, die nach dieser Entscheidung ertrinken könnten.
Doch welche Rolle spielt das Emotionale, in diesem Fall das Mitleid, als Begründung in der Europäischen Flüchtlingspolitik? Über diese Frage wollen wir mit Politikwissenschaftler und Emotionsforscher Gary Schaal sprechen von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er berät auch das Bundesverteidigungsministerium im Bereich maritime Sicherheit und Digitalisierung. Guten Morgen, Herr Schaal!
Gary Schaal: Guten Morgen, Frau Anwar!
Anwar: Sollte Mitleid eine Kategorie, nach der wir die Flüchtlingspolitik ausrichten?
Schaal: Ich bin überzeugt davon, dass Emotionen wichtig sind, auch in der Flüchtlingspolitik, aber Mitleid ist die falsche Emotion, um darauf Politik basieren zu lassen, denn es gibt ein besseres Gefühl, nämlich Mitgefühl, um darauf Flüchtlingspolitik basieren zu lassen.
Rettungswesten liegen an Bord eines Schiffes zum Trocknen. 
Angesichts der Einsätze im Mittelmeer bleibt kaum Zeit, um die Rettungswesten wieder zu trocknen. © imago stock&people
Anwar: Wie unterscheiden Sie das denn?
Schaal: Mitleid hat ganz viel damit zu tun, dass man punktuell mit einem anderen leidet, weil sein Leid einen ergreift, und immer ist der andere handlungsohnmächtig. Mitgefühl ist umfassender und geht nicht nur auf das Leid der anderen ein, sondern nimmt ihre Gesamtsituation mit, und Mitleid ist punktuell Mitgefühl, nimmt den gesamten Zeitraum mit ein.
Anwar: Also wie würde dann Mitgefühl im Bezug auf die Flüchtlingspolitik aussehen?
Schaal: Ich kann das kurz zeigen: Das Mitleid haben wir für Personen, die im Mittelmeer sind, die vielleicht in Gefahr sind zu ertrinken, aber damit entmündigt man sie natürlich auch. Auf der anderen Seite, das Mitgefühl würde die gesamte Situation berücksichtigen, also auch die politische Situation, die ökonomische Situation in ihren Heimatländern, und die Frage, inwieweit die Person handlungsmächtig und vor allem auch frei war zu handeln.
In der ganzen Diskussion, die im Augenblick geführt wird, ist die Frage, sind Geflüchtete auf dem Mittelmeer sozusagen handlungsmächtig gewesen, waren sie freiwillig in der Entscheidung, diesen Weg zu gehen, ja oder nein, während man dort sagen kann, ja, sie haben sich dazu entschieden, können sie natürlich die Situation in ihren Heimatländern vor Ort nicht persönlich verändern. Das heißt, in dem Augenblick, in dem man den Blick richtet von dem Leid auf dem Meer hin zu dem Leid, das sie überhaupt dazu bewegt hat, in die Flucht zu gehen, hat man eine ganz andere Begründung für die Politik, die dann kommen mag.

Politik mit Gefühlen

Anwar: Wobei die Fluchtursachen, die kann man visuell nicht so stark festhalten. Denken wir zurück an September 2015, das Foto des drei Jahre alten syrischen Jungen Alan Kurdi, der tot am Strand von Bodrum lag. Da hatte man ja schon das Gefühl, dass ein starkes Mitleid oder Mitgefühl in der Bevölkerung entstanden ist, das sich dann doch auch auf die Politik übertragen hat.
Schaal: Das habe ich damals auch gehofft. Das Problem ist, unser Mitgefühl, unsere Empathiefähigkeit ist beschränkt. Sie ist zeitlich beschränkt, sie ist räumlich beschränkt, und vor allem, sie richtet sich auf einzelne Personen. In dem Augenblick, in dem man einzelne Personen leiden sieht, dann sind wir mitgefühlig.
Auf der anderen Seite, wenn man dann aus einzelnen Menschen eine Gruppe macht oder vielleicht sogar eine Flut oder einen Tsunami, dann schafft man es, auf einer rhetorischen Ebene unser Mitgefühl, vielleicht sogar unser Mitleid zu diesen Menschen zu reduzieren, und deshalb gibt es hier nicht nur Politik auf Basis von Emotionen, sondern es ist auch Politik mit Gefühlen. In dem Augenblick, in dem man aus einem Individuum eine Gruppe macht oder eine Masse und aus sozusagen dem allgemeinen Mitgefühl Mitleid, verändert man den gesamten politischen Diskurs. Das, was wir im Augenblick gerade erleben, ist dann Politik, die mit Emotionen Politik macht.
Seenotrettung von Bootsflüchtlingen vor der libyschen Küste.
Der Einsatz solcher Rettungsinseln hilft die Gefahr kurzzeitig zu überbrücken. © imago / JOKER /Alexander Stein
Anwar: Vergangene Woche kamen auch sehr große Emotionen ins Spiel bei der Debatte, als es um den Pro-Contra-Artikel der "Zeit" ging, der thematisierte ja die private Seenotrettung, wurde auch heftig angegriffen, da wurde vor allem die vermeintliche Mitleidslosigkeit angegriffen. Für Sie nachvollziehbar?
Schaal: Auf der einen Seite kann ich den Vorwurf ein klein wenig verstehen, der Mitleidslosigkeit. Auf der anderen Seite tut man immer so, als wenn unsere Emotionen total isoliert werden. Mitleid ist nicht das einzige Gefühl, das wir haben. Ein anderes Gefühl, auch in Bezug auf Italien und vielleicht die italienische Bevölkerung, ist zum Beispiel das Gefühl von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit.
Das wurde ja auch in dem Diskurs thematisiert, und auch Gerechtigkeits- oder Ungerechtigkeitserfahrungen sind ganz starke emotionale Treiber, und in dem Augenblick, in dem man die Komplexität unseres emotionalen Haushaltes berücksichtigt und sagt, ja, natürlich sind wir mitleidig, gefühlvoll, wenn wir dieses Leid sehen, auf der anderen Seite gibt es auch noch ein anderes Gefühl, und auch das ist berechtigt. Dann kommen wir zu einer besseren Diskussion. Das Problem ist nur, in welchem Verhältnis stehen die beiden Gefühle zueinander.
Anwar: Man könnte ja auch sagen, wenn man so will, gab es fehlendes politisches Mitleid in der EU mit Ländern eben wie Italien oder auch Griechenland, wo die Mehrheit der Flüchtlinge ankommen, oder?
Schaal: Mitleid … Emotionen sind ja immer sehr punktuell. Keiner von uns ist quasi dauererregt, wenn es darum geht, sehr intensive Emotionen zu haben, und dieses Mitleid, das man für Geflüchtete hat, kann nicht die Basis von Politik sein, weil sie zu episodisch ist.
Anwar: Ich meine die Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen in der EU, die würden sich wahrscheinlich auch mehr Mitgefühl wünschen in dieser Debatte.
Schaal: Ich glaube, Mitgefühl, sagen wir, mit mehr Mitgefühl, aber dieses Mitgefühl muss umgesetzt in etwas, das beständiger ist, und das wären verbindliche, rechtliche Abkommen, an denen man sich dann orientieren muss, da die Emotionen zu wechselhaft sind, und das wäre die politische Strategie, damit umzugehen. Emotion als Begründung von Politik auf der einen Seite, aber nicht immer wieder punktuell, sondern das Ganze in Recht überführen, sodass Sie eine sichere Grundlage von Handeln haben.

Italiens Entscheidung

Anwar: Wir berichten den ganzen Morgen immer wieder auch in den Nachrichten. Jetzt haben die Italiener diskutiert, und offenbar wird es jetzt fünf Wochen geben, in denen noch mal über die EU-Marinemission "Sophia" diskutiert wird. Was nehmen wir mal jetzt an, wenn die Italiener wirklich sagen, sie wollen nicht mehr gerettete Flüchtlinge aufnehmen, wenn es da jetzt so kommen sollte, kann man dann diese Entscheidung als hartherzig oder eben auch mitleidslos kritisieren?
Such- und Rettungsmission im Mittelmeer vor der libyschen Küste. Zu sehen sind zwei Schlauchboote mit Menschen an Bord. 
Über die Rettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer ist eine politische Debatte entbrannt, bei der bisher keine Lösung in Sicht ist. © PA/dpa/picture alliance
Schaal: Mitleidslos und hartherzig auf jeden Fall. Ich halte sie quasi für im Konflikt stehend mit grundlegenden Menschenrechten. Das ist das Wichtigere. Emotionen können uns leiten, wohin wir gehen sollen, aber sie haben nicht die wirkliche moralische Qualität.
Menschen wissentlich ertrinken zu lassen, hat eine ganz andere Qualität. Wir sollten uns nicht auf einen Emotionsdiskurs, sondern auf einen rechtlichen, menschenrechtlichen Diskurs fokussieren, und dann ist klar, das ist kein Verhalten, das man tolerieren sollte politisch.
Anwar: Politikwissenschaftler und Emotionsforscher Gary Schaal von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg über die europäische Seenotrettung und über die Frage, wie viel Mitleid verträgt da die Politik. Danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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