Seenotrettung

Die Sea-Watch 4 sticht in See

06:54 Minuten
Das Seenotrettungsschiff Sea-Watch 4 wird am 11. August 2020 beladen.
Das Seenotrettungsschiff Sea-Watch 4 wird am 11. August 2020 beladen. © imago images / Agencia EFE
Phlipp Hahn im Gespräch mit Axel Rahmlow · 15.08.2020
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Die Sea-Watch 4 bricht auf, um vor der libyschen Küste Seenothilfe zu leisten. Im Notfall kann das Schiff 900 Menschen versorgen. Doch die libysche Küstenwache könnte Schiffbrüchige und Retter in Gefahr bringen, sagt Einsatzleiter Philipp Hahn.
Axel Rahmlow Laut der UN-Organisation für Migration versuchen in diesem Jahr wieder deutlich mehr Menschen über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, die meisten davon in Booten, die man nicht mal als seetauglich beschreiben kann. Seit Januar haben demnach fast 17.000 Menschen versucht, Italien und Malta zu erreichen. Vor einem Jahr waren es bis hierhin knapp 5.000.
Weil sich die EU nicht einig ist, wie geholfen werden muss, sind es vor allem privat organisierte Schiffe, die Seenothilfe leisten. Heute macht sich Sea-Watch 4 auf den Weg.
Der Einsatzleiter der Sea-Watch 4 heißt Philipp Hahn. Herr Hahn, wie weit sind Sie denn?
Philipp Hahn: Das Besondere an dem Einsatz ist es, Rettungen vor der libyschen Küste durchzuführen. Das macht es erforderlich, dass wir verschiedene Einrichtungen auf dem Boot installieren. Das haben wir die letzten sechs Wochen gemacht. Und jetzt, glauben wir, sind wir startklar.
Rahmlow: Was heißt das, Sie hoffen es? Wovon hängt das ab?
Hahn: Bis zum letzten Moment sind immer noch verschiedene Sachen zu organisieren und ranzuschaffen. Zuletzt standen wir vor der Schwierigkeit, noch Wasser tanken zu müssen. Das klingt einfach, aber tatsächlich müssen wir ja rund 60.000 Liter Wasser an Bord haben, damit wir, wenn wir Menschen an Bord nehmen, diese auch versorgen können.
Und das hat uns tatsächlich noch Schwierigkeiten bereitet. Jetzt sind wir gerade dabei, die Schläuche zu legen und die Tanks noch vollzumachen.

Wenn viele Menschen gleichzeitig fliehen

Rahmlow: Das Schiff soll 300 Menschen versorgen können, im akuten Notfall sogar 900. Was sind Ihre Erwartungen, wann wird es soweit sein?
Hahn: Wir können da auch auf die Erfahrungen der letzten Mission unseres anderen Schiffs, der Sea-Watch 3, zurückgreifen. Dort war es tatsächlich so, dass wir in dem Moment, in dem wir im Einsatz waren, schon mit der Situation konfrontiert waren, dass mehrere Boote an unterschiedlichen Orten die Flucht gewagt haben.
Und das ist auch das Einsatzszenario, dass in dem Moment, wo eine Gutwetterphase herrscht, sich tatsächlich mehrere Boote gleichzeitig auf den Weg machen. Das ist auch das, was wir über unsere Suchflugzeuge beobachten können.
Rahmlow: Wie ist die Stimmung bei Ihnen an Bord? Sie werden höchstwahrscheinlich Leben retten, aber Sie werden höchstwahrscheinlich auch in einigen Fällen zu spät kommen.
Hahn: Das ist tatsächlich etwas, worauf wir uns vorbereiten müssen. Wir versuchen, uns mit psychologischen Trainings und mit Gesprächsrunden darauf vorzubereiten, dass wir womöglich in die Situation geraten, dass wir entweder zu spät kommen, dass Menschen bereits ertrunken sind oder dass, während wir retten, die sogenannte libysche Küstenwache aufkreuzt und die Rettung verunmöglicht oder uns alle sozusagen in Gefahr bringt, weil Menschen in Panik geraten, ins Wasser springen und alles Mögliche in solchen Situationen geschehen kann. Wir versuchen, uns darauf vorzubereiten. Aber ganz ehrlich, so richtig hundertprozentig vorbereiten kann man sich natürlich auf so etwas nicht.

Banden, die von der EU mit Geld versorgt werden

Rahmlow: Sie haben jetzt von der sogenannten libyschen Küstenwache gesprochen, Herr Hahn. Wie schätzen Sie die ein?
Hahn: Wir haben jetzt seit fünf Jahren Erfahrung in der Seenotrettung vor der libyschen Küste. Wir haben unser Projekt gestartet als eines, bei dem wir als Sea-Watch im Prinzip die Situation dort dokumentieren und beobachten wollten, um Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Seitdem sind die europäischen Staaten nicht bereit, tatsächlich ein Seenotrettungsprogramm aufzusetzen, wie es nötig wäre.
Die Staaten versagen dabei, eine faire Verteilung der Menschen in Europa zu gewährleisten. Und anstelle dessen unterstützen sie eine libysche Küstenwache, die keine Küstenwache ist. Es ist keine Polizei im klassischen Sinne. Dafür bräuchte es einen Rechtsstaat, der die Polizei flankiert. Dafür bräuchte es ein Land, das demokratisch regiert ist.
Das Land ist im Bürgerkrieg, und entsprechend sind es dort im Grunde genommen Banden, die von der Europäischen Union mit Material und mit Geld versorgt werden, um Menschen daran zu hindern, Sicherheit in Europa zu erfragen, also ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Sie werden dort auf dem Wasser in einer Notsituation zurückgedrängt und in Lager zurückgebracht, die jeglicher Beschreibung spotten.

Sea-Watch 3 wurde festgesetzt in Italien

Rahmlow: Diejenigen Menschen, die es zum Beispiel auf Ihr Schiff schaffen, die können sich auch nicht sicher sein, dass sie irgendwann an Land gehen können. Auch Sie müssen damit rechnen, dass Sie irgendwann festgesetzt werden. Ein anderes Schiff von Ihnen ist in Italien festgesetzt, die Schiffe von anderen privaten Organisationen sitzen ebenfalls fest. Wie lange, glauben Sie, eigentlich fahren zu können?
Hahn: Sie haben vollkommen recht. Unsere Sea-Watch 3, unser Boot, wurde in der letzten Mission festgesetzt. Ich war auf dem Schiff. Wir konnten 211 Menschen an Land bringen und wurden daraufhin von den italienischen Behörden unter fadenscheinigen Begründungen festgesetzt.
Da werden dann irgendwelche technischen Mängel herangezogen, um eine weitere Fahrt zu verhindern. Wir rechnen damit, dass es durchaus zu einem ähnlichen Szenario kommt, wenn wir mit unserem Schiff nach Italien kommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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