Seenotretter Sea-Eye 4

"Es ist für keinen garantiert, dass er rausgefischt wird"

08:29 Minuten
Ein Mann wird von der Seenotrettung SEA EYE vor der Küste von Libyen im Mittelmeer an Bord des Schiffes geholt, 2019.
So geht Rettung: Ein Mann wird 2019 von der Sea-Eye vor der Küste Libyens im Mittelmeer an Bord des Schiffes geholt. © picture alliance / Sea Eye / AP Photo / Pavel D. Vitko
Von Silke Hasselmann · 16.04.2021
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500 Menschen starben laut Uno-Flüchtlingshilfe in den ersten neun Monaten 2020 im Mittelmeer. Sea-Eye ist eine der nicht-staatlichen Rettungsorganisationen, die Menschenleben retten wollen. Dabei soll ein neues Schiff noch bessere Dienste leisten.
Am Alten Hafen Süd 3 von Rostock geschäftiges Treiben: Etliche junge Männer und Frauen in Latzhosen und Arbeitsmontur wuseln auf den Decks des Schiffes Sea-Eye 4 und am Kai umher. Sie bringen Bohrmaschinen, Fräsen, Sackkarren zum Einsatz. Letzte Handgriffe vor dem Ablegen, erzählt ein junger Mann. Er stellt sich mir als Jonas vor und ist hier zuständig für die Coronatests.

Nur mit Coronatest an Bord

Während er das Wattestäbchen für meinen Nasenabstrich aus der Verpackung nestelt, sagt er: "Es arbeiten viele Menschen hier auf dem Schiff, und wir versuchen, das Risiko einer Infektion so gering wie möglich zu halten. Deswegen werden alle, bevor sie an Bord dürfen, mit einem PCR-Test getestet. Und bei Gästen, die in die Nähe von Leuten kommen, die an Bord arbeiten, machen wir einen Schnelltest. Und das haben wir bisher sehr erfolgreich geschafft."
"Bisher gab es keinen einzigen Fall?"
"Kein einziger Fall."
"Und das, obwohl Sie hier schon wie lange liegen?"
"Fünf, sechs Monate. Und ja – seitdem kein einziger Fall."

Warten auf den ersten Einsatz

Während wir auf das Testergebnis warten, erfahre ich, dass Jonas 27 Jahre alt ist und von allen hier "Bohne" genannt wird. Er arbeitet jetzt im dritten Jahr bei dem Seenotrettungsverein "Sea-Eye", der 2015 in Regensburg gegründet wurde und bislang drei Schiffe betrieben hat – darunter die "Alan Kurdi". Seit vier Wochen hilft Jonas hier auf der Rostocker Werft mit, das im vorigen Jahr gekaufte vierte Schiff klar zu machen für den ersten Rettungseinsatz im Mai.
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Vorbereitungen in Rostock: Die Sea-Eye 4 wird für den Mittelmeereinsatz vorbereitet. © Deutschlandfunk Kultur / Silke Hasselmann
Der gebürtige Bayer, dessen T-Shirt ihn als einen Kämpfer gegen Faschismus ausweist, wird mit an Bord gehen: "Der erste Grundgedanke war: Ich habe ja eine medizinische Ausbildung gemacht und dachte: 'Ich muss etwas tun. Ich kann mir das nicht länger angucken, dass Menschen fliehen müssen und auf dem Weg sterben potenziell.' Und dann sollte ich wenigstens das tun, was ich kann. Und Seenotrettung kann ich ganz gut. Ich habe ’ne Ausbildung beim Rettungsdienst gemacht. Ich bin Notfallsanitäter. Und deswegen kann ich das auch ganz gut, den Überblick zu behalten, den Funkverkehr zu überwachen. Das passt ja gut zusammen. Und natürlich: Nach der Rettung an sich helfe ich auch im medizinischen Team mit."

Mission: Schiffbrüchige Geflüchtete retten

Zweimal ist Jonas schon auf eine solche Mission im zentralen Mittelmeer vor der libyschen Küste gefahren. Einmal holten sie 15 und beim zweiten Mal 150 Menschen an Bord, um sie dann nach Italien beziehungsweise Malta zu bringen. Europa stehe in der Pflicht zu helfen, weil es für die alten kolonialen Strukturen in Afrika und Asien verantwortlich sei, doch die Politiker versagten kläglich und schauten lieber zu, wie Menschen ertrinken, sagt Jonas.
Dann reden wir über die Kehrseite, nämlich inwieweit die Arbeit der selbsternannten Seenotretter das kriminelle Geschäft der Schleuser befeuert und Menschen zusätzlich reizen könnte, sich auf die lebensgefährliche Mittelmeerroute zu begeben.
Ob Seenotretter das Geschäft der Schleuser befeuern? Jonas quittiert die Frage mit einem bitteren Lachen: "Ja, das ist völliger Unsinn. Nur weil hier rechtskonservative und populistische Parteien so was behaupten, heißt das noch lange nicht, Menschen fliehen einfach so, weil sie gerade denken: 'Och...hat mein Nachbar gemacht. Das könnte ich auch machen!' Also, wenn man betrachtet, wie viele Menschen dieses Jahr schon gestorben sind: Schon über 300 auf dem zentralen Mittelmeer. Ich glaube, die Abschreckungswirkung wäre da. Es gibt einfach keine Alternativen. Die Menschen entscheiden sich nicht: 'Ach, jetzt ist gerade Sea-Eye 4 oder die Sea-Eye 2 draußen – jetzt fahren wir los!', sondern die Menschen werden getrieben und müssen dann losfahren."
Doch wer treibt die Menschen dann im konkreten Fall auf die Schiffe und sagt, sie müssten losfahren?
Jonas beantwortet diese Frage so: "In dem speziellen Fall sind es dann Schleuser. Ich glaube, da ist ein guter Geschäftszweig entstanden. Aber ganz ehrlich? Selbst wenn! Wenn keiner mehr übers Mittelmeer fliehen würde, dann wäre ich wahrscheinlich auf der Landroute und würde dort die Menschen unterstützen, fertig!"

Ein "Weltenvagabund" als Kapitän

Jonas zeigt mir mein Testergebnis: Negativ. Und so darf ich mich Kapitän Christoph Kües nähern. Der blonde, schlanke Mann, der sich selbst "Weltenvagabund" nennt und seit 20 Jahren zur See fährt, kennt die Sea-Eye 4 noch als grün-lackierten Offshore-Versorger "Seehai", Baujahr 1972.
Im vorigen Jahr von Spenden gekauft und seitdem umgebaut, ist der Schiffsrumpf nun rot gestrichen, während der Bug samt Kommandobrücke in einem frischen Weiß erstrahlt. Mit 55 Metern Länge und elf Metern Breite ist dieses Schiff deutlich größer als die "Alan Kurdi", die er auch schon gefahren habe, sagt Christoph Kües. Seine Aufgabe, wenn endlich alle Zertifikate erteilt sind?

Von der Ostsee ins Mittelmeer

"Es geht erst mal darum, das Schiff ins eigentliche Missionsgebiet runterzubringen", sagt Kües. "Die erste Aufgabe wird sein, jetzt das Schiff hier erst mal herauszufahren. Es ist navigatorisch nicht so eine ganz einfache Sache. Es ist so ein bisschen die Situation, als wollte man ausparken auf einem Parkplatz, der ganz vollgestellt ist. Und dann muss ich es zunächst in die Ostsee bringen. Also ich bin auch schon gespannt."
In blauen Containern auf der Sea-Eye 4 sind die Sanitäreinrichtungen für die Geflüchteten untergebracht.
Alles bereit: In diesen blauen Containern sind die Sanitäreinrichtungen für die Geflüchteten untergebracht. © Deutschlandfunk Kultur / Silke Hasselmann
Etliche unbrauchbare Anlagen wurden ausgebaut, dafür eine Krankenstation eingerichtet. Das Schiff habe an Höhe und somit an Angriffsfläche für den Wind gewonnen, was den Treibstoffverbrauch erhöhen werde, aber den Anforderungen etwa der Italiener entspreche, sagt Christoph Kües und zeigt auf die gestapelten blauen Container auf dem Oberdeck – die Sanitäranlagen für die künftigen Geretteten.

Einsatzgebiet: Die Küste vor Libyen

Bis zu 16 Tage hat der Kapitän für die 2300 Seemeilen eingeplant, die auf der Jungfernfahrt von Rostock bis zum spanischen Zielhafen Burriana nördlich von Valencia zurückzulegen sind.
"Wir hoffen, wir können direkt reingehen in den Hafen. Es kann sein, dass wir auf Reede gehen müssen, zum Beispiel aus Quarantänegründen. Das muss mit den örtlichen Behörden abgeklärt werden. Dann wird ein Crew-Wechsel vonstattengehen. Das heißt, die Überführungsbesatzung wird partiell von Bord gehen, und es werden die Leute an Bord kommen, die für die eigentliche Mission vorgesehen sind. Das wird dann auch unser Startort sein, von wo aus wir Richtung Süden Richtung Libyen fahren, um ins eigentliche Einsatzgebiet zu kommen."
Die Versorgung von Schiff, Besatzung und später auch der aus dem Wasser geholten Menschen wird aus Spenden finanziert.

Die Stadt Greifswald ist Pate

2000 Euro kommen aus dem Stadthaushalt von Greifswald. Die vorpommersche Hansestadt gehört dem kommunalen Bündnis "Städte Sicherer Häfen" an und übernahm jetzt eine Patenschaft über die Sea-Eye 4.
"Großartig!", sagt Michael Wüstenberg, mit dem ich nun sprechen darf, bevor auch er an Bord geht und dann einer strengen Quarantäne unterliegt: "Ich war für lange Jahre in Südafrika in einer Mission tätig und die letzten zehn Jahre als Bischof im Hinterland. Seit drei Jahren bin ich wieder zurück in Deutschland."
Bischof em. Michael Wüstenberg (links) und Koordinator Kay Echelmeyer stehen vor der Sea-Eye 4 im Rostocker Hafen.
Bischof em. Michael Wüstenberg (links) und Koordinator Kay Echelmeyer vor der Sea-Eye 4. © Deutschlandfunk Kultur / Silke Hasselmann
Auch der Jeansträger mit grauem Drei-Tage-Bart, Wollpulli und Strickmütze hält sich seit Wochen in Rostock für den Fall bereit, dass die Sea-Eye 4 endlich ablegen darf. Er will die Besatzung bis zur spanischen Mittelmeerküste begleiten: "Und dann an Bord einfach mittun wie auch jetzt noch bei den Restarbeiten hier an Bord mit den Fähigkeiten handwerklicher Natur, die ich kann: Grundieren, malen, bohren, fräsen – all solche Geschichten."

Mutige Retter und mutige Flüchtlinge

Er sagt auch: "Mir haben Leute gesagt, das fänden sie ja ganz mutig von mir, da mitzufahren, und das ist ja nun ein relativ einfacher Einsatz, wenn es nicht gerade Riesenstürme gibt oder so. Ich finde die Leute mutig, die sich, um zu überleben, auf den Weg machen und diese riesigen Risiken eingehen, von denen sie wissen, dass sie da sind. Und es ist für keinen garantiert, dass er rausgefischt wird. Ich kenne die Geschichte, dass sie sagen, das seien Hilfsorganisationen für die Schlepperbanden oder so. Aber ich war in Hamburg im Rettungsdienst tätig, und ich frage in der Rettung nicht, ob jemand besoffen war beim Autofahren oder so. Die werden gerettet. Punkt. Den Rest, den muss man dann eben ausarbeiten."
Wer "man" ist, bleibt offen. Auf eine gerechte Verteilung der Geretteten innerhalb der EU-Länder setze er derzeit keine Hoffnung, sagt der Kirchenmann. Immerhin können er, Sanitäter Jonas, Kapitän Kües und der Rest der Crew darauf hoffen, dass es morgen losgeht – Richtung Mittelmeer.
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