Schwere Zerreißproben

Seit 1991 wird in Leipzig im November europäische Theater- und Tanz-Avantgarde gezeigt. In diesem Jahr überzeugten vor allem zwei Gastspiele aus Italien und Lettland.
"Spurensuche" stand als Überschrift über den insgesamt 12 Gastspielabenden, die auf neun Spielstätten 25 Vorstellungen zeigten. Damit wurde in der 20. Auflage der euro-scene eine Besonderheit weitergeführt. Ein Generaltitel soll die internationalen Beiträge inhaltlich und formal zusammenführen.
2008 war das der Titel "Spaltungen" und der sollte anzeigen, dass die innere Zerrissenheit des Menschen und der Gesellschaft im Zentrum standen, und im Jahre 2004, dem Jahr als zehn neue Mitgliedstaaten in die EU aufgenommen worden waren, zeigten unter dem Titel "Das Eigene im Gefüge" eben diese zehn Staaten ihre kulturellen Beiträge und stellten dem Rest Europas, was an kultureller Bereicherung dem vereinigten Kontinent zuwachsen kann.
Momente von "Spurensuche" gab es in verschiedenster Erscheinungsweise in allen Beiträgen der 20. Auflage. In Pippo Delbonos "Die Lüge" wird nach den Spuren von Schuld und Verantwortung nach einem Feuerunfall in einem Thyssen-Werk in Turin gefragt, dem sieben Arbeiter zum Opfer fielen. Nach den Spuren der Vergangenheit sucht ein Paar im Stück "Das Paar Martin" vom Nationaltheater Kosovo aus Pristina, das sich im Zug trifft, weiß, dass man sich schon einmal im Leben getroffen hat und nun Situationen durchspielt, in denen das gewesen sein könnte.
Auf den Spuren eines gelebten Lebens sind zwei Einbrecher in der Inszenierung "Sonja" (nach einer Erzählung von Tatjana Tolstaja), die in die Wohnung einer älteren Dame eingebrochen haben, dort alles auf den Kopf gestellt, aber nichts Verkaufbares gefunden haben. Der eine von beiden ist dafür in die Kleider der alten Dame geschlüpft, hat sich deren Frisur gedrechselt und nach deren Kochbuch Torten gebacken und ein Hühnchen gekocht hat. Der Andere, der bisher nur die unbekannte Wohnungsinhaberin verhöhnt hat, entdeckt ein altes Fotoalbum, lobt die dort porträtierte Sonja als "interessante Frau", stellt die Fotos von deren Kindern und von deren Freund vor und beschließt, in Gestalt von Freund Nikolai der Dame einen Liebesbrief zu schreiben.
Eine irrwitzige, glänzend gespielte Szene setzt ein. Sein Ganovenkumpel liest – verkleidet als Sonja – diesen Brief und beschließt, zu antworten. Schauspielerisch ein Kabinettstück, wie Gundars Äbolins die Lektüre des Briefs spielt, wie er Vorfreude, Erschütterung, Enttäuschung und emotionalen Zusammenbruch darstellt und dann wild entschlossen per Brief antwortet. Am Ende des Briefwechsels wird deutlich, dass die alte Dame schwere Zerreißproben durchlebt und die Großfamilie durch den Leningrader Hungerwinter gebracht hat.
Der Regisseur Alvis Hermanis erweist sich als Erneuerer und Weiterführer des Systems Stanislawskis, des Theaterreformers, der das psychische Nacherleben einer dramatischen Figur aus der Vielzahl von physischen Handlungen (hier die nachgestellten Verrichtungen der älteren Dame) entwickelte. Es geht um nichts weniger als um die Chancen und Grenzen von Schauspielkunst, sich in das Leben von dargestellten Personen hineinzuversetzen.
Eine ungewöhnliche Formensprache benutzt Pippo Delbono in seiner Inszenierung "Die Lüge" um den Unfall in einer Turiner Fabrik. Keine naturalistischen Arbeitsvorgänge oder Unfallereignisse. Del Bono ist der Erzähler. Der Tod der sieben Arbeiter löst in ihm eine Kette von surrealen Assoziationen aus. Albtraumgestalten (schwarzgekleidete Marionetten mit Tierköpfen und spitzen Inquisitionshüten) marschieren auf und werden in senkrecht stehende Särge gesperrt, Schreie in vielfachen Verzerrungen sind zu hören, gesichtslose Arbeitstiere werden tänzerisch zu Tode geschunden, Delbono selbst hält eine Hasspredigt auf die schuldigen Hintermänner.
Eine Aufführung, die dem Anspruch des Festivals – innovatives, Sparten übergreifendes Theater – gerecht wird.
Informationen zum Festival "euro-scene" in Leipzig
2008 war das der Titel "Spaltungen" und der sollte anzeigen, dass die innere Zerrissenheit des Menschen und der Gesellschaft im Zentrum standen, und im Jahre 2004, dem Jahr als zehn neue Mitgliedstaaten in die EU aufgenommen worden waren, zeigten unter dem Titel "Das Eigene im Gefüge" eben diese zehn Staaten ihre kulturellen Beiträge und stellten dem Rest Europas, was an kultureller Bereicherung dem vereinigten Kontinent zuwachsen kann.
Momente von "Spurensuche" gab es in verschiedenster Erscheinungsweise in allen Beiträgen der 20. Auflage. In Pippo Delbonos "Die Lüge" wird nach den Spuren von Schuld und Verantwortung nach einem Feuerunfall in einem Thyssen-Werk in Turin gefragt, dem sieben Arbeiter zum Opfer fielen. Nach den Spuren der Vergangenheit sucht ein Paar im Stück "Das Paar Martin" vom Nationaltheater Kosovo aus Pristina, das sich im Zug trifft, weiß, dass man sich schon einmal im Leben getroffen hat und nun Situationen durchspielt, in denen das gewesen sein könnte.
Auf den Spuren eines gelebten Lebens sind zwei Einbrecher in der Inszenierung "Sonja" (nach einer Erzählung von Tatjana Tolstaja), die in die Wohnung einer älteren Dame eingebrochen haben, dort alles auf den Kopf gestellt, aber nichts Verkaufbares gefunden haben. Der eine von beiden ist dafür in die Kleider der alten Dame geschlüpft, hat sich deren Frisur gedrechselt und nach deren Kochbuch Torten gebacken und ein Hühnchen gekocht hat. Der Andere, der bisher nur die unbekannte Wohnungsinhaberin verhöhnt hat, entdeckt ein altes Fotoalbum, lobt die dort porträtierte Sonja als "interessante Frau", stellt die Fotos von deren Kindern und von deren Freund vor und beschließt, in Gestalt von Freund Nikolai der Dame einen Liebesbrief zu schreiben.
Eine irrwitzige, glänzend gespielte Szene setzt ein. Sein Ganovenkumpel liest – verkleidet als Sonja – diesen Brief und beschließt, zu antworten. Schauspielerisch ein Kabinettstück, wie Gundars Äbolins die Lektüre des Briefs spielt, wie er Vorfreude, Erschütterung, Enttäuschung und emotionalen Zusammenbruch darstellt und dann wild entschlossen per Brief antwortet. Am Ende des Briefwechsels wird deutlich, dass die alte Dame schwere Zerreißproben durchlebt und die Großfamilie durch den Leningrader Hungerwinter gebracht hat.
Der Regisseur Alvis Hermanis erweist sich als Erneuerer und Weiterführer des Systems Stanislawskis, des Theaterreformers, der das psychische Nacherleben einer dramatischen Figur aus der Vielzahl von physischen Handlungen (hier die nachgestellten Verrichtungen der älteren Dame) entwickelte. Es geht um nichts weniger als um die Chancen und Grenzen von Schauspielkunst, sich in das Leben von dargestellten Personen hineinzuversetzen.
Eine ungewöhnliche Formensprache benutzt Pippo Delbono in seiner Inszenierung "Die Lüge" um den Unfall in einer Turiner Fabrik. Keine naturalistischen Arbeitsvorgänge oder Unfallereignisse. Del Bono ist der Erzähler. Der Tod der sieben Arbeiter löst in ihm eine Kette von surrealen Assoziationen aus. Albtraumgestalten (schwarzgekleidete Marionetten mit Tierköpfen und spitzen Inquisitionshüten) marschieren auf und werden in senkrecht stehende Särge gesperrt, Schreie in vielfachen Verzerrungen sind zu hören, gesichtslose Arbeitstiere werden tänzerisch zu Tode geschunden, Delbono selbst hält eine Hasspredigt auf die schuldigen Hintermänner.
Eine Aufführung, die dem Anspruch des Festivals – innovatives, Sparten übergreifendes Theater – gerecht wird.
Informationen zum Festival "euro-scene" in Leipzig