Schweizflüchtling in London

24.10.2011
Wie die österreichische Literatur die Österreichbeschimpfung als Genre hervorgebracht hat, so die Schweiz das Genre der Fluchtliteratur. "Monolog aus der Enge" heißt ein Essay des Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, in dem die Schweizflucht zur nationalen Poetik erhoben wird:
Das Land zwischen Deutschland, Frankreich und Italien - so der Grundgedanke dieser Poetik - ist zu klein, zu bieder, zu sauber, zu reich, zu gutbürgerlich, um es darin auszuhalten.

Wer Schweizer und dazu Schriftsteller ist, muss dieses Land verlassen. Auch in den Büchern des berühmtesten aller Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts, bei Max Frisch, spielt die Schweizflucht eine zentrale Rolle.

In seinem neuen Roman "Ein Koffer voller Wünsche" ironisiert und übersteigert der 1955 geborene Schweizer Schriftsteller Martin R. Dean das literarische Fluchtgenre. Denn Filip, der Held des Romans, hat gleich mehrere Gründe, sich aus dem Staub zu machen: die enge Heimat, die drohende Hochzeit mit seiner übermäßig perfekten Freundin Maia und das bürgerliche Dasein, für das es in seinem fortgeschrittenen Alter langsam Zeit wäre, auf das er aber nicht die geringste Lust hat. Er schwatzt Maia eine vorübergehende Bedenk- und Trennungszeit ab, packt seinen Koffer und reist nach London.

"Ein Koffer voller Wünsche" ist ein leichter, gelegentlich auch kolportagehafter Roman mit Tendenz zur skurrilen Begebenheit: So findet der Schweizflüchtling Filip in London ausgerechnet in einem Reisebüro namens "Helvis Tourism" Arbeit, das Urlaubsreisen in eine kitschige, groteske Hochglanzschweiz verkauft, namentlich an japanische Touristen.

Unversehens wird Filip zum Propagandisten des Landes, das er verabscheut. So fern er von ihr auch ist: Die Schweiz lässt ihn nicht los, so wenig wie seine Freundin Maia. Abend für Abend ruft sie ihn in London an, um mit ihm Ort, Ablauf und Gästeliste der bevorstehenden Hochzeit zu besprechen, in die Filip seiner Erinnerung nach nie eingewilligt hat.

Er ist ein Prototyp des schwachen, entschlusslosen, unreifen und beziehungsunwilligen Mannes, den die Literatur ebenso wie das Kino gegenwärtig bevorzugt darstellt. Filip könnte jederzeit in einem Film von Woody Allen vorkommen. Wie dessen Helden endet auch er in milder Resignation: zurück in seiner Schweizer Heimat, auf seiner eigenen, turbulent entgleisenden Verlobungsfeier.

Nebenbei erfährt er, dass er Vater wird. Eine Information, die sich die lebenskluge und diplomatische Maia für den Moment aufgespart hat, bis sich Filip wieder auf sicherem, das heißt auf Schweizer Boden befindet und eine erneute Flucht ausgeschlossen ist. Land und Frau haben ihn ab nun sicher im Griff.

Die Stärke des neuen Romans von Martin R. Dean ist seine intelligente Unterhaltsamkeit - eine gewisse Schwäche liegt in deren ungleicher Verteilung. Denn erst in der zweiten Romanhälfte schwingt sich das altbekannte Motiv der Schweizflucht zur wahren und verrückten Komödie auf.

Besprochen von Ursula März

Martin R. Dean: Ein Koffer voller Wünsche
Verlag Jung und Jung
Salzburg 2011
281 Seiten, 22,00 Euro