Krise

Totgespart?

Blumensträuße, die Menschen im Gedenken an den 77-Jährigen Rentner Dimitris Christoulas niedergelegt haben, der sich auf dem zentralen Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen aus Protest gegen die Sparpolitik mit einer Pistole in den Kopf geschossen hat.
Blumensträuße, die Menschen im Gedenken an den Rentner Dimitris Christoulas niedergelegt haben, der sich in Athen aus Protest erschossen hat © picture alliance / dpa / Simela Pantzartzi
Von Eleni Klotsikas  · 02.09.2014
Jeder Dritte hat inzwischen keine Krankenversicherung mehr. Die Arbeitslosigkeit ist weiterhin hoch. Erkrankungen an klinischen Depressionen werden mehr. Einige entscheiden sich sogar für den Suizid. Die positiven Meldungen über einen Primärüberschuss in Griechenland können viele Bürger nicht aufmuntern.
Wutentbrannt protestieren griechische Bürger auf dem Syntagma-Platz – Anlass ist der Suizid eines 77-jähringen Rentners, der sich aus Protest gegen die Sparpolitik auf dem großen Platz vor dem Parlament mit einer Pistole in den Kopf geschossen hat. Sie haben Blumen an die Stelle niedergelegt und Zettel mit Solidaritätsbekundungen an den Baum gehangen.
In seinem Abschiedsbrief schreibt Dimitirios Christoulas: "Ich möchte meinem Leben ein würdiges Ende bereiten, anstatt irgendwann als Bettler zu enden." Die jungen Griechen ruft er zum Kampf gegen die Regierung auf. Seine Tochter Emmi Christoula sagt, er habe sich aus Protest umgebracht, denn er konnte die Ungerechtigkeit nicht ertragen, die dem Volk durch das Spardiktat widerfährt.
"Mein Vater wollte die Botschaft übermitteln, dass man sich wehren muss. Er hat sein Recht auf Widerstand ausgeübt. Er hat sich vor dem griechischen Parlament erschossen, weil er die Stille brechen wollte. Die Stille einer Gesellschaft, die trotz des Unrechts, das ihr widerfährt, nicht reagiert."
Zwei Jahre nach dem Freitod des Rentners ist es erst Recht still geworden auf dem Syntagma-Platz. Die Demonstranten sind verschwunden, die Zahl der Selbsttötungen dafür gestiegen. Viele Menschen erleben genau das, wovor der Rentner Angst hatte: Wer in Griechenland arbeitslos ist - und das sind inzwischen knapp 28 Prozent der Bevölkerung - verliert nach kurzer Zeit seine Krankenversicherung. Inzwischen sind es drei Millionen Griechen, die ohne Versicherungsschutz sind - also fast jeder Dritte.
Der Arzt Dimitrios Varnavas, Vorsitzender der Vereinigung der Krankenhausärzte in Griechenland, leidet sehr darunter, dass er kranke Menschen manchmal abweisen muss oder ihnen zumindest nicht in dem Maße helfen kann, wie es sein Hypokratischer Eid von ihm verlangen würde.
"Griechenland erlebt eine menschliche Krise. Als Ärzte versuchen wir den Unversicherten in den Freiwilligen-Ärzte-Zentren zu helfen. Das kann aber viele Probleme nicht lösen, denn dort können wir nur Grundversorgung anbieten. Wenn Patienten jedoch Operationen oder Therapien benötigen, dann müssen sie ins Krankenhaus. Hier beginnt für uns Ärzte ein großer Kampf. Wir versuchen Wege zu finden, wie wir die Menschen am staatlichen Gesundheitssystem vorbei trotzdem behandeln können, ohne dass dabei ihre Menschenwürde leidet. Leider gelingt uns das nicht immer."
Kein Geld für die Chemotherapie
Die Budgets der Krankenhäuser wurden massiv gekürzt. Auch bei versicherten Patienten kann er nicht sofort mit Therapien oder Operationen beginnen. Für sie gibt es Wartelisten. Ganz zum Schluss kommen, wenn überhaupt die Unversicherten dran. Arzt Varnavas ist wütend auf die griechische Regierung, die angesichts des menschlichen Leids, das er erlebt, stolz ihren Primärüberschuss in den Bilanzen präsentiert, kritisiert Varnavas:
"Es wird langsam doch sehr deutlich, dass unsere Regierung alles im Dunkeln lassen will. Die Menschen wollen aber nicht im Dunkeln leben. Es sind Menschen von nebenan. Wir Ärzte schauen diesen Menschen in die Augen und können ihnen nicht helfen. Für uns ist das eine sehr unbefriedigende Situation."
Ärzte und medizinisches Personal während einer Demonstration in Athen.
Ärzte und medizinisches Personal während einer Demonstration in Athen.© dpa picture alliance/ Alexandros Vlachos
Wie sich das anfühlt, arm und krank zu sein in Griechenland, erlebt Marina Antoniou. Sie ist Ende 40, hat Gebärmutterhalskrebs und keine Krankenversicherung mehr. Durch die Krise hat sie ihre Aufträge als freiberufliche Dolmetscherin verloren und nach kurzer Zeit auch ihren Versicherungsschutz. Heute ist sie komplett mittellos, denn auch das Arbeitslosengeld läuft nach spätestens 16 Monaten in Griechenland aus. Eine Sozialhilfe gibt es nicht. Mit ein wenig erspartem Geld hatte sie eine Therapie begonnen, die sie jetzt nicht mehr fortsetzen kann.
"Ich stecke in einem Dilemma. Ich kann meine Miete nicht mehr bezahlen, wenn ich die Therapie fortsetze und muss sie abbrechen. Oder ich führe meine Therapie weiter. Dann muss ich aber mit der Angst leben, bald obdachlos zu sein."
Das Medikament für ihre Chemotherapie wurde Marina Antoniou von einer Hilfsorganisation gespendet. Um es einzunehmen muss sie jedoch ins Krankenhaus, wo sie für die Verabreichung an ein medizinisches Gerät angeschlossen werden muss. 70 Euro kostet sie das jedes Mal. Das Geld kann die Krebspatientin einfach nicht mehr aufbringen:
"Mit der Hilfe von Freunden habe ich meine Krankenhausrechnungen bisher bezahlt. Das letzte Mal habe ich unterschrieben, dass ich irgendwann später bezahlen werde. Aber ich habe Angst, dass sie das beim nächsten Mal nicht mehr akzeptieren."
Marina Antoniou weiß oft nicht mehr weiter. Die Chemotherapie hat sie nun abgebrochen, doch die Nebenwirkungen halten an. Sie müsste dringend einen Arzt aufsuchen, stattdessen schließt sie sich zu Hause ein. Ihre Existenzängste rauben ihr noch zusätzlich Kraft. Oft denkt sie an den Tod:
"Oftmals habe ich mir gewünscht, einfach zu sterben, damit ich endlich Ruhe finde. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll mit mir. Manchmal habe ich noch einen Überlebensinstinkt, mein Körper hält mich noch am Leben. Vielleicht ist es auch die Hoffnung, dass morgen alles besser wird. Man sagt ja, die Hoffnung stirbt zuletzt."
Erkrankungen an Depressionen verdoppelt
Doch immer mehr Menschen in Griechenland verlieren die Hoffnung, dass am nächsten Tag alles besser wird. Sie sehen keinen Ausweg mehr als sich das Leben zu nehmen. Nach Schätzungen von Hilfsorganisation bringt sich täglich ein Mensch um. Verlässliche Zahlen zu Suiziden in Griechenland gibt es nicht. Das Thema wird vor allem in den Familien tabuisiert. Nachweislich angestiegen sind seit Ausbruch der Krise aber die Fälle von Erkrankungen an klinischen Depressionen.
Das zeigt eine Studie von Psychologen der Pantion-Universität in Athen. Die Zahlen seien alarmierend, sagt die Leiterin der Studie, Lily Peppou.
"2013 konnten wir einen graduellen Anstieg an starken Depressionen beobachten. Als wir 2009 mit der Studie begannen, waren es gerade einmal sechs Prozent der Bevölkerung, die daran erkrankt waren. 2011 als die Krise weiterging, litten bereits acht Prozent der Bevölkerung an Depressionen, bei unserer letzten Erhebung 2013 waren es zwölf Prozent der Bevölkerung, die alle Kriterien für die Erkrankung an klinischen Depressionen erfüllten. Also eine Verdopplung. Das ist ein alarmierender Prozentsatz."
Dabei handelt es sich nicht um Menschen, die einfach nur gelegentlich depressiv sind, weil sie an Stimmungsschwankungen leiden. Der Studie zufolge sind zwölf Prozent der Griechen psychisch schwer erkrankt:
"Unter klinischen Depressionen verstehen wir einen Zustand, bei dem Menschen völlig hoffnungslos sind. Sie glauben, sich in einer Sackgasse zu befinden aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Sie fühlen sich niedergeschlagen, weinen und wollen das Haus nicht mehr verlassen, viele von ihnen duschen sich nicht einmal mehr."
Familie nach Selbstmordversuch der Mutter verarmt
Von Tag zu Tag deprimierter wurde Eleni Brisolakis. Die Mitte-40-Jährige betrieb auf Kreta in Heraklion jahrzehntelang ein kleines Café. Doch mit Ausbruch der Krise machte sie immer weniger Umsatz und konnte die Familie, ihren Mann und ihre Tochter, nicht mehr ausreichend unterstützten. Gleichzeitig wurde die Behindertenrente ihres Mannes gekürzt. Nikos Brisolakis schildert, wie stark der finanzielle Druck seine Frau belastete:
"Meine Frau machte sich immer größere Sorgen, denn sie kam nur noch mit fünf, sechs Euro nach Hause. Das Geld reichte noch nicht mal mehr fürs Benzin für das Moped. Sie wurde immer unglücklicher, wollte uns aber nicht damit belasten. Sie hat weder mit mir noch mit unserem Kind darüber geredet, sondern hat alles für sich behalten."
Eines Tages stürzte sich Eleni Brisolakis in der Nähe ihres Cafés aus Verzweiflung von einer Mauer. Nikos Brisolakis ist immer noch schockiert über die Tat seiner Frau:
"Das war hier genau an dieser Stelle, hier stürzte sie sich hinunter und landete auf dem Parkplatz dort unten. Ich kann es selbst kaum fassen. An dieser Stelle endete unser Leben."
Brisolakis versucht das Geschehene zu verarbeiten. Manchmal kehrt er an die Unglücksstelle zurück, setzt sich auf eine kleine Bank und denkt über sein Leben nach. Seine Frau hat ihren Suizidversuch überlebt, doch sie wird nie wieder laufen können. Um ihre Krankenpflege zu bezahlen, hat ihr Mann ein kleines Olivenfeld verkauft. Die Familie ist nun verarmt. Noch nicht einmal mehr die Stromrechnung können sie bezahlen. Menschen, die hohen finanziellen Druck spüren, sind stärker gefährdet an Depressionen zu erkranken, sagt die Psychologin Lily Peppou:
"Wir haben in unserer Studie eine interessante Entdeckung gemacht: Wir wollten herausfinden, ob Menschen, die depressiv sind, sich auf ihr soziales Umfeld stützen können. So ist es zumindest in Skandinavischen Ländern. Wir haben herausgefunden, dass sich Menschen in Griechenland ohne finanziellen Druck leichter auf ihr soziales Umfeld stützen können. Menschen mit hohen finanziellen Belastungen finden keine Hilfe mehr. Das soziale Kapital kann sie nicht mehr vor Depressionen schützen."
Nationales Suizidpräventionszentrum vonnöten
Die Psychologen der Hilfsorganisation Klimaka, nehmen in Ihrem kleinen Büro im Zentrum Athens täglich Anrufe von Menschen aus ganz Griechenland entgegen, die sich aus Verzweiflung das Leben wollen. Die Hotline ist 24 Stunden besetzt. Über das Telefon versuchen die Psychologen per Ferndiagnose einzuschreiten, sagt Aris Violakis:
"Wir müssen zunächst herausfinden, wie gefährlich die Situation ist, in der sich der Anrufende befindet. Befindet er sich in einem Rausch? Hat er bereits versucht, sich umzubringen? Wenn ja, wie oft? Sind es nur Selbstmordgedanken, die er hat oder hat er schon einen konkreten Plan? Oder ist er gerade dabei ihn zu entwickeln? Dann versuchen wir Vertrauen aufzubauen und eine Beziehung zu entwickeln."
Ihre Arbeit stellt die Psychologen der Organisation täglich vor neue Herausforderungen. Denn das einzige Suizidpräventionszentrum, das Klimaka betreibt, befindet sich in Athen. Von hier aus versucht die Organisation auch Menschen in abgelegenen Orten und Städten im Norden Griechenlands und auf den Inseln von ihren Suizidplänen abzubringen, sagt Psychologe Aris Violakis:
"Wir haben vor kurzen einen Anruf von einer Mutter aus Thessaloniki erhalten, die von ihrem Balkon aus dem fünften Stock hinunterspringen wollte. Sie war mit ihren zwei Kindern allein zu Hause und hatte intensive Suizidgedanken. Wir mussten sofort einschreiten, mit ihr am Telefon im Gespräch bleiben. Gleichzeitig haben wir Leute aus Thessaloniki angerufen, 500 Kilometer entfernt, damit sie bei der Frau vorbei schauen, um sie am Leben zu halten."
Ein älterer Mann steht am 10. März 2014 vor einer geschlossenen Apotheke in Athen, deren Besitzer gegen die Pläne der Regierung mit Streik protestiert, verschreibungsfreie Medikamente in Supermärkten zu verkaufen.
Sparmaßnahmen führen auch zu Engpässen in der Arzeneimitteversorgung.© epa / Orestis Panagiotou
Psychologe Aris Violakis kannte Menschen in Thessaloniki, die so hilfsbereit waren, der Frau einen spontanen Besuch abzustatten und sie zu beruhigen. In kleineren Orten ist es oft schwierig sofort Hilfe zu organisieren. Griechenland bräuchte ein nationales Suizidpräventionsprogramm mit Zentren, verteilt im ganzen Land, fordern die Psychologen von Klimaka. Doch man müsste eigentlich schon viel früher ansetzen und Menschen, die an Depressionen leiden, frühzeitig behandeln, sagt die Psychologin Lily Peppou:
"Menschen, die an starken Depressionen leiden, haben oft den Wunsch zu sterben. Wenn diese psychischen Störungen lange Zeit unbehandelt bleiben, dann ist das Risiko, dass diese Menschen irgendwann Selbstmord begehen, sehr hoch. Im Moment haben wir in Griechenland das Problem, dass die Zahl der Menschen, die gegen Depressionen behandelt werde müssten, steigt, wir aber gar nicht genügend Psychologen haben, die diese Menschen behandeln könnten. Gleichzeitig wurden die Mittel im staatlichen Gesundheitssystem massiv gekürzt."
Atmosphäre der Unsicherheit und Angst
In Griechenland herrscht eine Atmosphäre der Unsicherheit. Viele Menschen erkranken an der Angst, arbeitslos zu werden und plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Eine Vielzahl von Unternehmen ist von der Schließung bedroht, weil die Umsätze in vielen Branchen massiv gesunken sind. Den Druck geben Manager und Unternehmen oft an ihre Angestellten weiter. So auch bei einem Baumarkt in Athen. Betriebsrat Makis Tsekouras beschreibt, wie belastend das Betriebsklima ist:
"Die Unternehmensleiter schüchtern uns Arbeiter ein, terrorisieren uns. Je tiefer wir in die Rezession geraten, um so mehr verschlechtert sich diese Situation. Wir müssen mehr arbeiten. Sie sagen uns, wir finden nie wieder eine andere Arbeit, wenn wir den Lohnkürzungen nicht zustimmen. Sie nutzen die Krise aus und drohen uns mit Arbeitslosigkeit."
Über 300 Leute wurden bereits entlassen, das Unternehmen versucht immer mehr Angestellte los zu werden, manchmal auch mit unmenschlichen Methoden. Diese Erfahrung machte scheinbar auch Stephanos Valavanis. Das berichtet sein langjähriger Freund und Kollege Kostas Diamantis. Er erzählt, wie die Unternehmensführung Kündigungen ohne Abfindungen erreichen wollte. Sein Freund sei angeblich beim Stehlen erwischt worden, dann habe die Leitung gedroht die Polizei zu rufen, da habe Stefanos gekündigt und sich kurze Zeit später das Leben genommen.
"Die Polizisten, die ihn gefunden haben, erzählten uns, er habe sich auf die schlimmste Art und Weise umgebracht. Er hat mit einem Seemannsknoten einen Strick an seiner Decke befestigt und sich dann aufgehängt."
Unter Kollegen hat Kostas Diamantis Geld für die Beerdigung seines Freundes gesammelt. Er ist zur Polizei gegangen, um gegen die Manager auszusagen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Das Unternehmen streitet alles ab. Hoffnung, dass irgendwann Recht gesprochen wird, hat Kostas Diamantis kaum. Seinen Freund vermisst er jeden Tag. Er kann seinen Tod immer noch nicht fassen, aber sehr gut nachempfinden, wie sich sein Freund gefühlt hat:
"Von was hätte er die nächsten Jahre leben sollen? Mit 50 hätte er niemals wieder einen Job bekommen. Und er war sehr stolz, so stolz, dass er sein Leben beendet hat. Er konnte es nicht akzeptieren, als Arbeitsloser seine Würde zu verlieren."
Und so zündet Kostas Diamantis einmal pro Woche, wenn er den Friedhof am Stadtrand Athen besucht, zwei Kerzen an: eine für seine geliebte Frau, die im letzten Jahr an Krebs gestorben ist und eine für seinen Freund Stepahnos Valavanis. Er will die Hoffnung nicht aufgeben, dass er irgendwann wieder bessere Zeiten erlebt.
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