Donnerstag, 25. April 2024

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Mont Blanc
Auf zum Gipfel des Alpenkönigs!

Eine Gipfelbesteigung des Mont Blancs - höchster Berg Westeuropas - ist der Traum vieler Bergsteiger. Doch das Bergmassiv hat es in sich. Auch Deutschlandfunk-Autor Andreas Burman musste bereits einen Versuch abbrechen. Doch diesmal wird er zum Gipfelstürmer - und wird auf dem Dach Europas für die Strapazen des Aufstiegs belohnt.

Von Andreas Burman | 14.06.2015
    Bergmassiv Mont Blanc
    Das Bergmassiv des Mont Blancs: Ein Traum vieler Bergsteiger. (Deutschlandfunk / Andreas Burmann)
    In der Seilbahn: "Eh bien, messieurs, bonne journée et à se revoir bientôt " - "Au revoir. " - "Merci. "
    Mit den Wünschen der netten Mitarbeiterin für einen guten Tag und eine gute Rückkehr verlassen wir die Seilbahn von Les Houches. Leider wird die achtzehnhundert Meter hoch gelegene Bergstation Bellevue ihrem Namen "schöne Aussicht" heute nicht gerecht. Über dem Tal von Chamonix, aus dem uns die kleine Gondel heraufgehoben hat, hängt dunkelgraues Gewölk. Noch gestern, in der Sonne, saftig grüne Berghänge wirken jetzt matt und farblos wie die darüber liegenden, teils nebligen Felsen.
    Es ist ein schmaler, erdiger Weg, von Regen teils schlammig aufgeweicht, auf dem wir loswandern. Wir, das sind Dirk aus Köln, Hans-Gerd aus Bergisch Gladbach und Stephan, Bergführer des Summit Clubs des Deutschen Alpenvereins DAV. Stephan mit Drei-Tage-Bart und auffallenden braunen Rasta Locken kommt, nein, nicht aus Jamaika, sondern aus Bayern und wohnt inzwischen fest in Chamonix. Mit seinem Hausberg, dem Mont Blanc, ist er bestens vertraut.
    Für unser Ziel haben wir den sogenannten Normalweg gewählt. Er führt von Nordwest über den vorgelagerten, 4.300 Meter hohen Dôme du Goûter zum Gipfel des Mont Blanc. Diese "Goûter-Route", erstmals begangen 1861, ist heute die beliebteste und gilt als relativ leicht. Der Mont Blanc also ein einfacher Berg? Schon 1851 hat es der Engländer Albert Smith fertig gebracht, mit drei Begleitern, 16 Führern, 20 Trägern sowie 91 Flaschen Wein und zwei Flaschen Champagner im Proviant in rund 25 Stunden den Gipfel zu erreichen, verständlicherweise mehr schlecht beziehungsweise elend als recht. Auf der Internetseite von Chamonix wird klargestellt: "Die Besteigung des Mont Blanc ist keine Wanderung, sondern ein alpinistisches Unternehmen. Nein, der Berg ist nicht einfach."
    Leichtsinn am Mont Blanc
    Dennoch scheint es manche Leute zur Aufnahme in die Ahnengalerie von Smith zu drängen. So ein Amerikaner, der im vergangenen Jahr mit seinen beiden neun und elf Jahre alten Kindern einen Höhenrekord aufstellen wollte. Er endete in einer Lawine, aus der er die Kinder mit Glück rettete. Wenig später wollte ein österreichisches Ehepaar mit dem erst fünfjährigen Sohn den Fast-Fünftausender-Gipfel erreichen. Nur mittels großer Überzeugungskraft, wie es hieß, gelang es einem Polizisten, diese Eltern davon abzubringen. Solcher Irrsinn ist leider nicht nur am Mont Blanc zu finden, sagt unser DAV-Bergführer Stephan: "Das gibt's an allen bekannten Bergen in den Alpen. Das ist am Großglockner nichts Anderes, da hat man ja schon auch immer wieder gehört von den vielen Bergrettungen, aber auch am Matterhorn oder den anderen bekannten Bergen im Wallis oder Berner Oberland. Die sind relativ ähnlich, die Geschichten."
    Am Mont Blanc allerdings werfen während der Hauptsaison auf der unteren der beiden Hütten am Normalweg, dem Refuge de la Tête Rousse, zwei Gendarmen ein genaues Auge auf die Gipfel-Getriebenen , fügt Stephan hinzu: "Die kontrollieren jetzt in dem Sinn ja nicht jeden Ausweis oder so, aber sie schauen natürlich schon, ob so ungefähr die Grundregeln eingehalten werden. Also das wilde Campen wollen sie unterbinden, oder auch, wenn jemand so, wie mit seinen Kindern da, in einer grob unverantwortlichen Weise unterwegs ist. Sie drängen jetzt nicht die Bergsteiger, wie man sich das vielleicht vorstellen könnte. Sie sind natürlich da, um ein bisschen zu helfen, und dann um einfach einzugreifen, wenn etwas komplett schief läuft." Eine gesetzliche Handhabe, jemandem den Aufstieg zu untersagen, haben sie nicht.
    100 Jahre alte Zahnradbahn
    Wir wechseln nach einer halben Stunde auf das Gleisbett des Tramway du Mont-Blanc. Durchaus gerne hätten wir die Zahnradbahn ab Saint-Gervais-les-Bains genommen, wäre sie nicht - mal wieder - "wegen Reparatur außer Betrieb". Na ja, sie hat ja auch schon ihr Einhundertjähriges gefeiert. Wenigstens spart uns der Weg auf dem Gleis deutlich Zeit (und auch Kraft) gegenüber dem längeren offiziellen Wanderweg. Dirk, 47, überzeugter Triathlet, ist zufrieden: "Finde, wir haben ein moderates Tempo, so ein Altherrentempo für uns, das ist genau adäquat. Fünfzig plus. Gut zur Akklimatisierung, der Puls ist nicht allzu hoch. Also, wenn es so bis zum Gipfel bleibt, hab' ich 'ne Chance."
    Ein frischer Wind kühlt angenehm den Schweiß auf der Stirn. So erreichen wir eine Dreiviertelstunde darauf die Endstation der Bahn, den Nid d'Aigle. Einsam, still liegt das Adlernest mit dem Wartehäuschen und ein paar Sitzbänken auf knapp zweitausendvierhundert Metern im Nebel. Ab jetzt folgen wir einem erdigen und steinigen Pfad durch baumloses, gerölliges Gelände aufwärts. Als es zu regnen beginnt, wertet das Hans-Gerd als gutes Zeichen: "Vor einem Jahr sind wir bei strahlendem Wetter diesen Zustieg hier gegangen, und sind bei Scheißwetter, nämlich so wie's jetzt ist, wieder runter gekommen. Ohne Gipfel. Wenn's heute andersrum geht - bei schlechtem Wetter zusteigen, und mit Gipfel bei gutem Wetter absteigen - das wär doch was, oder? Ich denke, es wird heute so sein."
    Genau ein Jahr zuvor hatte uns ein unerwarteter Wetterumschwung auf 4.300 Metern zur Umkehr gezwungen und gründlich enttäuscht, obgleich wir wussten, dass der Berg dafür berüchtigt ist. Jetzt, ein paar Schritte weiter, entdeckt Hans-Gerd plötzlich noch ein gutes Vorzeichen am Wegrand: "Siehst Du die? So 'ne kleine Steinbockgeis. Steht jetzt vier Meter neben uns am Rand, beäugt uns ganz interessiert, aber völlig angstfrei. Schon spannend. Alles auf dem Weg zum Mont Blanc." Etwas entfernt erkennen wir weitere vier Tiere in der nebligen Geröll-Landschaft. Allmählich geht der Regen in dicke Schneeflocken über. Ein Blick auf die Sportuhr zeigt rund 2.700 Höhenmeter an. Über teils größere Steinbrocken gelangen wir bald an einen Felsaufbau. Ab hier, auf den letzten dreihundert Höhenmetern, wird der Pfad noch etwas steiler. Hans-Gerd: "Das war jetzt kein Zug, das war mein Atem."
    Auf dem Felsrücken zur Neuen Goûter-Hütte.
    Auf dem Felsrücken zur Neuen Goûter-Hütte. (Deutschlandfunk / Andreas Burmann)
    Nachtquartier auf 3.200 Metern Höhe
    Einige Passagen sind mit einem Drahtseil gesichert, was jetzt bei dem rutschigen Schnee hilfreich ist. Schließlich, nach Querung eines kleinen Gletscherfelds, erreichen wir auf knapp 3.200 Metern unser Nachtquartier, die Tête-Rousse-Hütte. Ein zehn Jahre alter zweistöckiger Holzbau mit Sonnenkollektoren an der Fassade und einem Dach ähnlich einer liegenden Tonne, drinnen ein großer Bewirtungsraum und 74 Lagerplätze. Gebaut an einen Abhang hoch über dem zerklüfteten Bionnassay-Gletscher. Stephan ist mit dem vierstündigen Aufstieg zufrieden: "Gut is´ gangen, ersten Tag überstanden, passt. Bin stolz auf euch." - "Ja, war eine harte Leistung." - "Die schwätzen alle. Der Bergführer lebt nur über 4.000 Meter, voll akklimatisiert. Dann der junge Hüpfer hier, Dirk, Hobby-Leistungssportler, Triathlet, ein Rekord nach dem anderen wird von ihm gebrochen. Und jetzt hier, Andreas, 56 Jahre, ist ein Jahr älter als ich. Wir zwei Veteranen, die wir hier uns jetzt hochgekämpft haben, eine wirklich beachtliche Leistung - können wir stolz drauf sein, Andreas!"
    Beim Abendessen in unseren Daunenjacken - der große, längliche Raum ist nicht sonderlich warm - lernen wir Kaars kennen. Der Niederländer bezeichnet sich als Abenteurer, der sich trotz wenig Geld nicht aufhalten lässt. Über das Internet, so erzählt der 34-jährige, hat er für ein paar Euro Steigeisen gekauft, eher museumsreif, aber noch funktionstüchtig, wie er betont. Mit dem Pickel klappte das nicht. Da kaufte er halt in einem Baumarkt einen langen Axtgriff, dazu ein Metallstück, das er zu einer Haue zurechtbiegen ließ, und nagelte beides zusammen. Dann ist er mit seinem Freund aufs Fahrrad gestiegen und rund 950 Kilometer nach Chamonix gestrampelt, wo sie sich zum Gipfel des Mont Blanc aufgemacht haben. Die Unternehmung hatte nun am Morgen auf dem Dôme du Goûter im schlechten Wetter geendet, das zur Umkehr zwang. Den Pickel hat er zum Glück nur für ein dringendes Bedürfnis einsetzen müssen, erzählt Kaars: "Ich grub ein kleines Loch - anders als die Leute, die sich einfach auf den Schnee setzen - und machte es anschließend zu, so dass niemand etwas sehen oder hineintreten musste." Keineswegs amüsant verlief der Abstieg. Im Schneetreiben hatten sie große Mühe, den Rückweg zu finden, die Spuren waren zugeschneit. Und dann, im berüchtigten steilen Grand Couloir, den sie queren mussten, verstiegen sie sich: "Ich dachte mir, nochmal aufzusteigen ist zu anstrengend. Machen wir die paar Meter bis zur Übergangsspur einfach direkt hinab und gehen dann rüber. Doch wegen des Schnees bemerkten wir nicht das völlig lose Gestein. Es zog uns jäh die Füße weg und wir rutschten etliche Meter ab. Es war furchtbar, ganz furchtbar. Mit Glück fanden wir wieder Halt, schlitterten so nicht den ganzen schrecklichen Couloir hinunter. Wir haben ziemlich Glück gehabt, da lebend rausgekommen zu sein." Kaars, meint, daraus gelernt zu haben: Bei so wenig Erfahrung sei ein Bergführer ein Muss.
    Zwölf Zentimeter Neuschnee
    Die Nacht ist nicht besonders angenehm. Die Luft im Schlafraum mit etwa 15 Doppelstocklagern ist bald verbraucht. Leider hat auch der dicht neben mir liegende Nachbar offenbar lange kein Wasser mehr gesehen. Zwar hat die Hütte keine funktionierende Wasserversorgung, doch durchaus kann man welches in anderthalb Liter Plastikflaschen kaufen und sich damit ebenso nützlich wie ausreichend behelfen. Jedenfalls lässt mich meine Nase kaum Schlaf finden. Freilich, die Situation ist reiner Luxus verglichen mit der "Unterkunft" der beiden Erstbesteiger des Mont Blanc, Paccard und Balmat, im August 1786. "Sie hatten Huhn und Wein bei sich. Das steht sehr häufig in Texten aus jener Zeit. Und weil Balmat bereits einmal mit gefrorenen Händen und Gliedern vom Berg zurückgekommen war, hatten sie zweifellos auch etwas Wärmendes für die Nacht bei sich. Wahrscheinlich Schaffelle. Die waren nötig", sagt Aline da Costa, Mitarbeiterin des Alpinmuseums in Chamonix, da beide mit ihrer wenig schützenden Kleidung im Freien, ohne Licht, nur im Schutz eines großen Felsens, nächtigten.
    Als wir am nächsten Morgen aus der Hütte treten, Sicherungsgurt und Steigeisen anlegen, ist der Himmel strahlend blau. Unter uns nach Westen und Norden ein einziges Wolkenmeer, aus dem einige kleine Bergspitzen hervorragen. Nach Osten, am siebenhundert Meter höher gelegenen Kamm der Aiguille du Goûter, sitzt wie ein metallenes Vogelnest die neue Goûter-Hütte. Der 2013 eröffnete High-Tech-Bau ist unser heutiges Ziel. Erreichen wollen wir es über eine der dunklen Felsrippen, die sich von dort oben wie Adern herab ziehen, fast bis zur Tête-Rousse-Hütte, von der wir aufbrechen.Es sind in der Nacht noch zwölf Zentimeter Neuschnee gefallen, und die bescheren uns einen Winter-Aufstieg. Was das heißt, erleben wir eine halbe Stunde darauf am Grand Couloir, genau genommen die Schlüsselstelle des Aufstiegs. Es sind nur etwa anderthalb Minuten durch diese Rinne bis zur gegenüber liegenden Felsseite. Doch die können wegen des erheblichen Steinschlags lebensgefährlich werden, weshalb die Rinne auch als Todes-Couloir bekannt ist. Stephan muss die zugeschneite Querung neu spuren: "Ich schau' nach oben, Du schaust auf den Weg. Sollte was kommen, geb' ich Dir ein Kommando Achtung Stein! oder so. Schnell nach vorne, nie nach hinten laufen. Maximal wenn ich sag' Stopp! stehen bleiben. Und dann haben wir heute, glaub' ich, bei den Verhältnissen eine ganz gute Chance, dass da kein Stein kommt und wir unbeschadet durchkommen. Nichtsdestotrotz nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ist gefährlich, hier sterben jedes Jahr Leute. Und wir versuchen, so schnell wie möglich, aber auch so sicher wie möglich zu queren."
    Das Vallot Biwak in  4.362 Metern Höhe.
    Das Vallot Biwak (4.362m) steht auf halbem Weg zum Gipfel des Mont Blancs. (Deutschlandfunk / Andreas Burmann)

    Ganz im Gegensatz zum Jahr davor bleibt der Couloir ruhig. Erleichtert beginnen wir auf der anderen Seite den Aufstieg an der Felsrippe. Zunächst helfen Drahtseile am steilen Fels nach oben. Leider sind sie von einer dünnen Eisschicht bezogen, an denen die Handschuhe nur bei festem Griff nicht abrutschen. Als wir diesen gesicherten Teil unter uns lassen, sind wir froh, dass Stephan vorsteigt. Dirk meint "Fantastisch. Also macht Spaß im Schnee. Ich bin froh, dass jemand, der's kann, vor uns geht, denn man muss auch noch die Route finden. Ja, man muss ja auf Sicherheit gehen, häufig ein bisschen nachfassen, auch mit den Steigeisen versuchen, guten Grip auf den Felsen zu finden, weil's aufgrund der Neuschneemenge recht schwierig einzuschätzen ist."
    High-Tech-Bau mit 120 Lagerplätzen
    Obwohl es seitlich auch einen Pfad gibt, halten wir uns auf der Felsrippe. Sie ist einfach vor Steinschlag sicher. Nach rund 700 Höhenmetern haben wir die alte Goûter-Hütte erreicht und steigen auf den Schneegrat darüber. Die Handschuhe sind längst durchnässt, die Finger steif gefroren. Die Strahlen der Sonne, die uns nach dem langen Aufstieg im Schatten endlich wärmen, tun gut. Vor uns liegt, oder besser hängt die neue Goûter-Hütte direkt am Abgrund. Ein vierstöckiger, Inox-verkleideter High-Tech-Bau mit 120 Lagerplätzen und weitgehend eigener Energieversorgung, die ovale Form soll Wind bis 300 Stundenkilometer standhalten. Kosten: 7,3 Millionen Euro. Atemberaubend auch der Ausblick vom Balkonsteg: In nächster Nachbarschaft die viertausend Meter hohe Aiguille de Bionnassay, deren Eiswand rund eintausend Meter jäh abfällt. Im Grund sammelt sich ein breiter Gletscher. Gewürfelt, gezackt, zerspaltet, wie ein plötzlich gefrorenes Wildwasser schlängelt er sich langgestreckt talwärts Richtung Saint-Gervais. Im mit hellem Holz zweckmäßig-nüchtern ausgekleideten Bewirtungsraum trinken wir erst mal heißen Tee. Ein Aufstiegsversuch nämlich ist an diesem Tag zwecklos: Ungeachtet des strahlenden Wetters verweht zu starker Wind buchstäblich jede Chance. Damit kommt nun alles auf den nächsten Morgen an. Erfreulich: Im Gegensatz zum Vorjahr ist diesmal das Team um Hütten-Wart Thomas richtig bemüht und lässt uns so die Zeit angenehm überbrücken. Nur die eigens entwickelte Wasseraufbereitung funktioniert auch zwei Jahre nach Eröffnung nicht.
    Genau um zwei Uhr dreißig ist die kurze Nacht zu Ende. Nach Katzenwäsche, Instantkaffee, etwas trockenem Brot und Müsli stehen wir mit etlichen anderen, ebenso verschlafen aussehenden Bergsteigern im Materialraum, schlüpfen in die Hardshell-Kleidung, legen Sicherungsgurt und Steigeisen an, ziehen Fleecemütze und Handschuhe über. Dirk: "Ich fühl' mich viel besser als beim letzten Mal. Wir haben besser geschlafen, wir haben weniger Kopfschmerzen, wir sind besser akklimatisiert. Jetzt muss der Wind noch mitspielen, das alte Thema. Optimistisch, dass das heute funktioniert. Und ich bin voll motiviert, die Kraft ist beisammen, die Konzentration ist da, und meine Jacke sieht auch gut aus, also kann eigentlich nichts passieren." Hans-Gerd: "Ich glaub', wir sind fit, ausgeruht. Drei Uhr fünfundvierzig starten wir jetzt zum Gipfel Mont Blanc, höchster Westeuropas. Ich glaub', es wird gelingen. Es wird ein Stück Arbeit, eine harte Nuss, aber wir werden's, wir werden's reißen." Dirk und Hans-Gerd binden sich wie Stephan und ich ins Seil. So lässt sich während des Aufstiegs durch das Gletschergelände beim unerwarteten Sturz in eine Spalte einander sichern. Die Erstbesteiger Paccard und Balmat benutzten jeder nur eine zweieinhalb Meter lange Holzstange mit Eisenspitze. Der sogenannte Alpenstock half ihnen bei mehreren Spaltenstürzen Schlimmeres zu vermeiden. Mit anderen Seilschaften treten wir hinaus in den nachtdunklen entscheidenden frühen Morgen. Stephan: "Jetzt geht es erstmal auf den Grat rauf und dann in so mittelsteilem Gelände im Schnee, nur nicht allzu schwer, bis zur Vallot Hütte die nächsten anderthalb, zwei Stunden." Hinter Stephan stapfen wir in einer schmalen, zügig ansteigenden Spur auf den Grat oberhalb der Hütte. Der Schnee knirscht unter den Steigeisen, die Temperatur liegt bei acht Grad unter null. Plötzlich bemerke ich im Licht der Stirnlampe flirrende Kristalle in der Luft. Genau wie vor einem Jahr: Da stammten sie vom starken, wie sich zeigen sollte, zu starken Wind weiter oben. Ob der Gipfel erneut unerreichbar sein soll? Stephan antwortet vorsichtig: "Also der Grat ist immer ein bisserl windausgesetzt, insofern hat's hier ein' leichten Wind. Aber ich glaub', dass der jetzt eher kurz abnimmt, solang wir auf 'n Dôme du Goûter gehen. Und danach müssen wir schauen, wird er wahrscheinlich wieder stärker werden."
    Tee aus dem Trinkschlauch
    Beeindruckende Bilder verdrängen die bangen Gedanken. Von weit unten, aus dem Tal, schimmert still das Lichtergeflecht von Chamonix herauf, über uns spannt sich ein mondloser tiefer Sternenhimmel. Eines der großartigen Erlebnisse, die man als Bergsteiger erfahren kann. Nach wenigen hundert Metern beginnen wir in Serpentinen den Anstieg auf den breiten Dôme du Goûter. Oberhalb und unterhalb von uns schwanken die Stirnlampen der etwa fünfzehn anderen Seilschaften im langsamen Schritt über den Schnee. In regelmäßigen Abständen ziehe ich über den Trinkschlauch zwei, drei Schluck Tee aus dem Getränkebeutel im Rucksack. So will ich verhindern, dass die Leitung trotz Thermohülle einfriert, aber vor allem versorge ich mich mit Flüssigkeit, weil das in der Höhe wichtig ist. Aus dem Dunkel der Nacht taucht plötzlich ein mächtiger Serac vor uns auf. Haushoch, wie sich im Licht der Stirnlampen zeigt, ragt dieser an die zwanzig Meter breite Eisblock aus dem Hang. Stephan: "Das sind so Eisabbrüche. Wir sind unterhalb vom Dôme du Goûter, das Eis arbeitet ja, das rutscht runter, und bricht natürlich an den Steilstellen ab. Und dementsprechend gibt's dann auch solche Türme. Der ist jetzt relativ harmlos, weil er so geneigt ist, aber manche brechen auch ab und die sind dann auch gefährlich für uns. Aber der jetzt eigentlich nicht."
    Nach zwei Stunden machen wir im Vallot Biwak, einer blechernen Notunterkunft, bei 4.350 Metern eine kleine Pause. Bis auf diese Höhe hatten es zwei Monate vor der Erstbesteigung des Mont Blanc im August 1786 auch einige Einheimische geschafft. Der Anblick des steil aufwärts ziehenden, luftigen Bosses Grats entlang der heutigen französisch-italienischen Grenze aber entmutigte sie derart, dass sie abstiegen. Dirk und Hans-Gerd binden sich aus ihrem Seil, um im Fall eines Sturzes nicht einander in die Tiefe zu reißen. In der schmalen Spur des Bosses Grats haben zwei offensichtlich unsichere Bergsteiger direkt über uns Schwierigkeiten, sich zu halten. Dirk und Hans-Gerd steigen vorsichtshalber etwas ab, um aus der möglichen Sturzlinie zu gelangen. Stephan beobachtet die Szene hochkonzentriert, um rasch reagieren zu können. Endlich kommen wir weiter. Wechselnd auf einer mal sehr breiten, dann wieder schmalen, zuweilen nurmehr fußbreiten Trittspur geht es höher und höher. Auf der Grathöhe bläst der Wind mit zunehmender Stärke. Mit jeder Minute jedoch nähern wir uns dem Ziel. Immer wieder passieren wir andere, die sichtlich erschöpft um Atem ringen, kämpfen müssen. Auch auf den ausgesetzten Passagen, wo es zu beiden Seiten steil abwärts geht, bleiben Seilschaften mal stehen, wir kommen nicht voran, geschweige denn vorbei. Gerade da. Der Wind nimmt zu. Ein herrliches Morgenrot eine dreiviertel Stunde vor dem Gipfel lässt all das kurz vergessen.
    Euphorie und Freude auf dem Gipfel
    Vier Stunden nach dem Start von der Goûter Hütte, um acht Uhr, ist es endlich soweit. Im Licht der aufgehenden Morgensonne wird der Traum wahr. Ein Erlebnis, auf das wir uns jahrelang entbehrungsreich vorbereitet haben: Wir liegen uns in den Armen, überwältigt vom Augenblick. Die Enttäuschung des ersten Versuchs vor einem Jahr, danach der erneute Anlauf, das Hoffen und Bangen, zähes Warten auf die neue Chance, Verzweifeln an den Wetterprognosen - alles auf einen Schlag mit dem Wind vom Gipfel gefegt: Jetzt nur noch reine Euphorie und ein unbezahlbarer Fernblick. Dirk: "Richtung Osten, da sehen wir das Weisshorn, wir sehen das Matterhorn, wir sehen den Dom, Monte Rosa Massiv, noch größer als der Mont Blanc, aber nicht höher. Gran Paradiso im Rücken, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Da hinten sehen wir sogar noch das Berner Oberland, Eiger, Mönch und Jungfrau, Finsteraarhorn - alles! Und da sind so komische Berge, die sind so zweitausend, dreitausend Meter hoch, red' ich gar nicht drüber."
    Kein Foto kann dieses grandiose 360-Grad-Panorama richtig widergeben. Welch' unvergessliche Minuten auf viertausend achthundert und zehn Metern. Dem höchsten Punkt des alten Europa. Zwanzig Minuten etwa genießen wir den Gipfel, der bei der Erstbesteigung am achten August 1786 übrigens noch Teil Sardiniens war, genauer des Königreichs Sardinien-Piemont. Die Pioniere Paccard und Balmat blieben damals nur wenig länger auf dem Dach der Alpen, das sie erst am Abend erreicht hatten. Wegen der nahenden Dunkelheit, der Kälte und dem eisigem Wind stiegen sie mit Gletscherbrand, Erfrierungen und von Schneeblindheit schmerzenden Augen eilig auf ihrer Nordroute ab. Dank der modernen Ausrüstung verläuft unser Abstieg ungleich besser. Nur in den Oberschenkeln werden sich die folgenden vollen fünf Stunden, mehr als dreitausend Höhenmeter und insgesamt 20 Kilometer am nächsten Tag deutlich spüren lassen. Doch - was zählt das? Stephan: "Ist schon phantastisch. Also man braucht jetzt ein bisschen Zeit, um das wirken zu lassen. Wir sind schon mal gescheitert, jetzt war das wirklich doppelt und dreifach zu genießen. Und vor allem bis zum letzte Meter spannend, weil ich immer gedacht habe, wenn der Wind zu stark wird und du fliegst vom Bosses-Grat, da hast du ja nicht viele Möglichkeiten. Entweder springst du nach links oder nach rechts, also nach Frankreich oder nach Italien. Aber der Mont Blanc ist nicht zum Nulltarif zu haben." Dirk: "Überwältigend, Emotion pur. Wenn man den Bosses-Grat so im letzten Bereich passiert und sieht den höchsten Punkt, auf den man zusteuert, die Sonne, die auf der anderen Seite aufgeht. War schon grandios." Hans-Gerd: "Hätte eigentlich nicht besser laufen können. Haben wir Glück gehabt und haben wir das Timing richtig hingekriegt, denk' ich. Mir hat's gefallen."