Schwangerschaftsabbruch

Polinnen finden Hilfe in Sachsen

08:03 Minuten
Junge Frauen auf den Strassen von Warschau fordern das Recht auf Abtreibung. Eine Frau hält einen beleuchteten Kleiderbügel in die Luft. Polen, Januar 2021.
Frauen protestieren in Warschau: Die Zustimmung für strengere Abtreibungsregeln in Polen lag unter 15 Prozent, erklärt die Soziologin Elżbieta Korolczuk. © AFP / Wojtek Radwanski
Von Christine Reißing · 08.06.2021
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Das Abtreibungsrecht in Polen ist eines der striktesten in Europa. Der legale Abbruch einer Schwangerschaft ist dort kaum möglich. Ungewollt schwangere Frauen gehen in dieser zugespitzten Situation ins Ausland, zum Beispiel ins benachbarte Sachsen.
Paul und Maria sitzen vor einem Laptop. Ihre echten Namen wollen sie nicht im Radio hören. Denn die beiden 28-Jährigen sind Teil von Kumpela - einem Kollektiv aus Leipzig, das Menschen aus Polen bei einem Schwangerschaftsabbruch unterstützt.
Mit anderen Aktivist*innen hat Maria im Herbst ein feministisches Lied aus Polen übersetzt: "Patriaciao", im Stil von "Bella Ciao". "Es war am Donnerstag, dass das Gericht in Polen versucht hat, unsere Körper, unsere Selbstbestimmung zu stehlen", heißt es darin unter anderem.
Auf der anderen Seite der Grenze, in Polen, sind Schwangerschaftsabbrüche nur noch in absoluten Ausnahmefällen erlaubt: etwa nach einer Vergewaltigung - oder wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Eine bis dato weitere Option, die unheilbare Erkrankung des Fötus, hat das polnische Verfassungsgericht im Oktober untersagt. Heißt: Auch, wenn klar ist, dass das Kind nicht überlebt, muss die Schwangerschaft ausgetragen werden.

Erschwerte Bedingungen wegen der Pandemie

In Deutschland kann derweil bis zum einschließlich dritten Monat abgetrieben werden. Möchten Polinnen dafür herkommen, kann Kumpela helfen.
So wie zuletzt im September, erzählt Paul: "Unter anderem war es Corona. Wir müssten viele Kliniken anfragen, viele Ärztinnen anfragen, ob die jetzt überhaupt Abtreibungen durchführen und wie. Kann eine Sprachmittlung mitkommen oder nicht? Manche Praxen hatten gesagt: Nein, geht nicht."
Seit 2019 habe das Bündnis gut 15 Fälle betreut. So viele seien es bei der großen Dachgruppe "Tante Barbara" in Berlin pro Monat, schätzt Maria. Sie beraten, vernetzen und sammeln Geld.
"Ich habe die Fahrt, den Schlafplatz, dann muss man sich natürlich irgendwie verpflegen in der Zeit, in der man da ist. Man kann in der Zeit nicht arbeiten gehen und/oder auf seine Kinder, die man vielleicht eventuell hat, auch aufpassen. Also das muss man eigentlich alles einkalkulieren", erklärt sie.

Unterstützung bei Kosten und Beratung

Nötig ist in Deutschland eine Schwangerschaftskonfliktberatung. Aber nicht alle Beratungsstellen, die katholische Caritas zum Beispiel, geben auch den verpflichtenden Schein raus - für den zudem drei Tage Bedenkzeit eingerechnet werden müssen.
"Und dann kommt überhaupt erst der Schwangerschaftsabbruch. Jetzt in der günstigsten Version könnte der so 400 Euro kosten in Leipzig. Wenn aber zum Beispiel Komplikationen dazukommen - eine Person hat Vorerkrankungen, Behinderungen oder so etwas und es muss im Krankenhaus gemacht werden -, dann kommt man schon auf 1500 bis 2000 Euro."
Die privat bezahlt werden müssten und manch Monatseinkommen übertreffen, gerade in Polen. Wie viele von dort für einen Schwangerschaftsabbruch nach Deutschland kommen, lässt sich nicht beziffern.
Mehrere Broschüren von Kumpela liegen auf einer Holzbank.
Infomaterial von Kumpela: Das Kollektiv aus Leipzig berät, vernetzt und sammelt Geld.© Deutschlandradio / Christine Reißing
Das Statistische Bundesamt erfasst für den Eingriff keine Nationalität - nur, ob der Wohnort im Ausland liegt. Diese Zahl ist in Sachsen von 2016 bis 2019 von 30 auf 16 gesunken. 2020 waren es dann wieder 27 Abbrüche – in Brandenburg hingegen 232, in Berlin 191.

Politik der PiS-Partei hat Polen verändert

Aber die Soziologin Elżbieta Korolczuk merkt an: "Die meisten Abtreibungen werden medikamentös durchgeführt. Abtreibungstabletten sind viel beliebter als früher. Sie sind viel effizienter. Und es gibt Organisationen, sowohl in Polen aus auch im Ausland, die den polnischen Frauen helfen, sie zu bekommen, auch den Zugang zu Selbsthilfe – und zu Abtreibungsnetzwerken."
Korolczuk arbeitet an der Hochschule Södertörn in Stockholm und der Universität Warschau. Sie forscht zu sozialen Bewegungen, Zivilgesellschaft und Populismus, Frauen-, aber auch Anti-Gender-Bewegungen, die sich etwa gegen sexuelle Selbstbestimmung richten.
Zur Abtreibungspolitik in Polen sagt sie: "Die ist eng verknüpft mit dem rechtsgerichteten, illiberalen Kurswechsel, den wir seit 2015, als die PiS-Partei an die Macht gekommen ist, beobachtet haben. Die Idee ist: Wir sollten die Nation aufleben lassen. Wir sollten Katholizismus als eine Art Staatsreligion etablieren, eine starke Verbindung haben zwischen dem Staat und der Kirche - insofern, als dass bestimmte Regeln etabliert werden: die Familie betreffend, Reproduktion, Sexualität."

Besonders großer Einfluss der katholischen Kirche

Anti-Gender-Bewegungen wüchsen auch anderswo. In Polen aber ist es die katholische Kirche, die einen besonders großen Einfluss habe. Und gegen die auch Bewegungen aus der Zivilgesellschaft kaum ankämen. Korolczuk betont: Mit dem aktuellen Gesetz seien diejenigen am verletzlichsten, die gewollt schwanger - aber selbst in Gefahr sind. Oder der Fötus ernsthaft erkrankt sei.
"Diese Frauen sollten die volle Hilfe und Unterstützung vom Gesundheitssystem bekommen. Bekommen sie aber nicht", erzählt sie. "Und das ist eine wirklich tragische Situation. Denn in einer solchen Lage riskierst du oft dein eigenes Leben, wenn du ins Ausland gehst. Zum Beispiel gibt es das Risiko von Blutungen. Du bist nun mal in einer Schwangerschaft. Du kannst im Grunde in deinem Auto sterben auf dem Weg nach Deutschland oder nach Tschechien."
Ärzt*innen in Polen scheuen sich selbst vor den legalen Abbrüchen, erzählt Korolczuk. Manchmal aus religiösen Gründen, oft aber auch aus Angst vor Stigmatisierung.
Das sei in Deutschland oft nicht anders, kritisiert Maria vom Leipziger Kollektiv Kumpela. "Die Tatsache, dass wir in Deutschland halt sehr, sehr viele christliche Fundamentalist*innen haben, die dann zum Beispiel Drohbriefe an Ärztinnen schreiben, die Abtreibungen durchführen, führt quasi dazu, dass die Lage sich verschlechtert", erklärt sie.
"Also es war früher leichter, Abtreibungen in Deutschland zu erhalten, als jetzt. In Leipzig sind wir noch luxuriös mit so vielleicht fast zehn Praxen. Und es ist aber quasi eine der besten Situationen in Deutschland."

Frauenstreik-Bewegung gewinnt an Zustimmung

Tatsächlich aber tut sich auch in Polen etwas: In der Bevölkerung steigt die Zustimmung für die Frauenstreik-Bewegung, betont die Soziologin Korolczuk
"Man kann beobachten, wie es sich gewissermaßen wieder zurückentwickelt. Die Zahl von Menschen, die wirklich strengere Abtreibungsregeln wollten, lag bei weniger als 15 Prozent", sagt sie.
"Nicht 50 Prozent, 15 Prozent! Also es ist eine sehr kleine Minderheit. Die Situation ist nicht mehr so, dass polnische Menschen dieses sehr strenge Recht wollen. Wollen wir nicht! Es sind politische und kirchliche Eliten, die den Menschen das aufdrängen. Mit schrecklichen Auswirkungen für die Frauen, die das betrifft."
Das Leipziger Bündnis Kumpela hofft, dass die für Abtreibungen nötige Beratung künftig flächendeckend online möglich ist. Das würde die Wartezeit für Menschen aus Polen verkürzen - und auch jenen in Deutschland helfen, die außerhalb großer Städte wohnen. "Wir sind gleich und frei", singen die Aktivist*innen in ihrem Lied.
Sie wollen der Welt ihre Forderung mitteilen: ein selbstbestimmtes Recht auf Abtreibung.
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