Schutz für Einzelhandel

Wie Paris seine Innenstadt vor Verödung bewahrt

08:05 Minuten
Ein verträumter, grün angestrichener Buchladen mit einladender Auslage.
Was wäre Paris ohne individuelle Buchläden wie den legendären "Shakespeare & Company"? Auch deshalb schützt die Stadt mit besonderen Programmen den Buchhandel. © imago/Aurora Photos/Tamboly Photodesign
Von Suzanne Krause · 01.04.2019
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Paris ist teuer - und wird jährlich teurer. Um das individuelle Flair der Straßen zu bewahren, bietet die Stadt in bestimmten Quartieren kleinen Einkaufsläden besonderen Schutz. Insbesondere der Buchhandel profitiert davon.
Rue du Faubourg Saint Denis im 10. Pariser Arrondissement, einen Katzensprung vom Ostbahnhof entfernt. Zwischen vielen abgeblätterten Fassaden und manch obskurer Boutique mit Ramschware sticht ein knallroter Eingang gleich ins Auge: die Auslage des "Feinschmecker-Fleischerladens".

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Vor der Tür steht ein Hähnchen-Grill, drinnen liegt die Ware in verglasten Kühlregalen rechts und links die Wand entlang. Der Raum ist winzig – aber der ganze Stolz von Christian Laurent:
"Ich bin aus Lothringen und habe mich auf traditionelle Wurstwaren aus meiner Heimat spezialisiert. Im Mai 2010 habe ich aufgemacht, vor bald neun Jahren."

Günstige Ladenmiete in hervorragender Lage

Zuvor hatte Laurent eine Metzgerei in einem anderen Pariser Quartier. Dann stieß er auf ein einmaliges Angebot: den hiesigen Laden, 45 Quadratmeter groß, für 1.500 Euro pro Monat.
"Meine Miete ist super-günstig – ich zahle ein Drittel weniger als gleich große Läden in der Straße. Und zudem musste ich keinen Ablass für die Übernahme des Pachtvertrags leisten. Investieren brauchte ich nur in die Ladenausstattung."
Kurzum: das Ladenlokal von Laurents Fleischerei ist ein Schnäppchen. Zu verdanken hat er das der Semaest. Einer Institution, die sich um den Erhalt des Pariser Einzelhandels kümmert – im Auftrag und mit Geldern vom Rathaus. Der Stadtrat hat diesbezüglich einen Aktionsplan für mehrere Viertel aufgelegt. Dort hat die Semaest Vorkaufsrecht auf Ladenlokale, die veräußert werden. Unter den Pachtinteressenten wählt die Semaest den aus, dessen Warenangebot am besten ins Viertel passt. In der Rue du Faubourg Saint Denis hat Christian Laurent schnell Kundschaft gefunden:
"Es läuft richtig gut. Anfangs war ich noch alleine. Inzwischen arbeiten wir hier zu fünft und am Wochenende kommt noch eine Kassiererin dazu. Ich kann nicht klagen."

"Die Kundschaft kommt teils von weit her"

Auch Marie Boudier strahlt über das ganze Gesicht. Boudier packt gerade Ware aus: Ihr kleiner, sehr bunter Spielzeugladen in der Rue du Chateau d'Eau liegt zehn Gehminuten von Laurents Fleischerei entfernt.
"Die Rue du Chateau d'Eau hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert, vor allem dank der Aktionen der Semaest. Gleichzeitig mit mir haben nebenan ein Laden für Wandteppiche und eine Boutique für Einrichtungsgegenstände aufgemacht, das hat zahlreiche andere Händler angezogen. Früher gab es nur Textil-Grossisten in der Straße. Heute reiht sich ein kleiner Laden an den anderen. Und die Kundschaft kommt sogar teils von weit her, weil es hier nun sehr spezielle Läden gibt."
Der Enddreißiger im Hipster-Look, der in Boudiers Laden nach einem Geschenk sucht, nickt zustimmend. Er lebt in der Nachbarschaft.
"Das Viertel ist überaus lebendig, im Umkreis von ein paar Hundert Metern kann man kaufen, was das Herz begehrt, bis abends um zehn. Ich wohne seit zwanzig Jahren in der Gegend, seit zehn Jahren ziehen immer mehr junge Familien her, machen neue Läden auf. Das Leben ist hier sehr angenehm."
Das findet auch die Spielzeug-Händlerin Marie Boudier:
"Wenn ein Laden, den die Semaest verpachtet, floriert, kann der Betreiber die Räumlichkeiten sogar käuflich erwerben. Ich bin seit zwei Jahren Besitzerin meines Ladens. Die Semaest erleichtert uns Einzelhändlern sehr das Leben. Der Kaufpreis liegt unter dem normalen Marktpreis. Ganz abgesehen davon, dass kaum je ein Ladengeschäft zum Verkauf steht."

Neues Leben im Viertel dank frischer Politik

Hunderten kleiner Geschäftsleute hat die gemeinnützige Einrichtung Semaest in den letzten fünfzehn Jahren gewissermaßen in den Sattel geholfen. Der Startschuss fiel 2004 im 11. Arrondissement, einem traditionellen Kleine-Leute-Viertel. Dort hatten sich nach und nach Textil-Grossisten breitgemacht. An mancher Ladenfassade klebte noch ein uraltes Bäckereischild, doch drinnen hing dutzendfach ein und derselbe Boutiquenfummel und an der Tür warnte ein Schild: Nur für Händler!
Bei den Viertelbewohnern wurde der Groll immer lauter. Bis das Rathaus eine Re-Vitalisierungs-Politik beschloss und die Semaest ihre Arbeit aufnahm. Und mit Erfolg gegen die Verödung des Stadtteils vorging. Olivia Polski, als Stadträtin zuständig für die Bereiche Einzelhandel und Handwerk, zieht eine erste Bilanz:
"Bei dieser ersten, 'Vitalquartier' genannten Aktion haben wir festgestellt: Wenn wir nur fünf Prozent der Ladenzeile in einer Straße an interessante Einzelhändler verpachten, dann gelingt es nach und nach, die frühere Mono-Aktivität durch ein vielfältiges Einkaufsangebot zu ersetzen."

Der Buchhandel genießt besonderen Schutz

2017 startete dïe Semaest ein neues Programm zur Wiederbelebung des Einzelhandels, mit einer Laufzeit von zwölf Jahren und einem Budget von 36 Millionen Euro. Über Pachteinnahmen und Erlöse aus den Ladenverkäufen fließt das Geld peu à peu in die Stadtkasse zurück. Im Visier hat die Semaest einerseits bestimmte Stadtteile, andererseits eine spezielle Branche, erklärt deren Direktorin Emmanuelle Hoss:
"Bei Buchhandlungen und Verlagen dürfen wir in ganz Paris intervenieren. Denn sie könnten ohne öffentliche Hilfe nicht überleben. Das liegt an der Buchpreisbindung in Frankreich und auch an der Konkurrenz durch Amazon. Wenn die Mieten hochgehen, bleiben die Buchhändler auf der Strecke. Wir verwalten im städtischen Auftrag nun 50 Buchhandlungen. Da handelt es sich wirklich um eine politische Entscheidung. Ohne die gäbe es heute in Paris so gut wie keinen unabhängigen Buchladen mehr."
Die Aktivitäten der Semaest in Paris dienten der Macron-Regierung als Vorlage für ihr sogenanntes 'Stadtherz-Aktions-Projekt'. Ein Fünf-Milliarden-Euro-Programm, um in 222 französischen Städten das Zentrum und die Geschäftswelt neu zu beleben. Dass das notwendig ist, weiß auch Fleischer Christian Laurent:
"Früher hatte ich einen Laden in Metz. Damals gab es 20 Fleischereien im Viertel. Als ich neulich mal wieder hinkam, fand ich nur noch einen einzigen." Laurents Frau hat kürzlich in der Nachbarschaft einen Käseladen eröffnet – dank der Semaest.
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