Schule

Spickereien und Leistungsdruck

Schulalltag nach dem Zweiten Weltkrieg: Unterricht im ungeheizten Klassenraum
Schulalltag nach dem Zweiten Weltkrieg: Unterricht im ungeheizten Klassenraum © picture alliance / dpa
Autor Rainer Bölling im Gespräch mit Ulrike Timm · 05.05.2014
Die Geschichte des Abiturs verrät einiges über die deutsche Kulturgeschichte, sagt Rainer Bölling. Im Interview spricht er über gelockerte Anforderungen während der Weltkriege und über die Spickerei von Konrad Adenauer.
Ulrike Timm: Rainer Bölling hat die Geschichte des Abiturs beleuchtet, darüber ein Buch veröffentlicht, vom 18. Jahrhundert bis heute. Herr Bölling, schönen guten Tag!
Rainer Bölling: Guten Tag!
Timm: Mit dieser geballten Information im Rücken, was halten Sie denn von einem Zentralabitur?
Bölling: Ja, was da jetzt geplant ist, halte ich schon für richtig, dass man also etwas mehr Vergleichbarkeit schafft über einen zentralen Aufgabenpool. Und das könnte sicher weiter ausgebaut werden. Dabei ist natürlich ganz wichtig, dass dann sich auch die Länder einigen über das Anspruchsniveau. Es soll ja, wie Herr Rabe sagt, auf einem Beipackzettel auch eine Korrekturvorgabe geben und die kann natürlich sehr unterschiedlich ausfallen, wie die bisherigen Erfahrungen mit dem Zentralabitur gezeigt haben in den einzelnen Ländern.
Timm: Nun haben wir Sie eingeladen, weil Sie die Geschichte des Abiturs sehr detailliert ergründet haben. Ich frage mich erst mal: Gibt es da eine echte Geburtsstunde eines Abiturs? Wann geht das eigentlich los?
Bölling: Ja, als Geburtsstunde kann man schon das Edikt von 1788 in Preußen ansehen, in dem also erstmals eine Prüfung für die an die Universität übergehenden Schüler gefordert wurde. Der Hintergrund war die mangelnde Qualifikation vieler Studenten, auch eine Angst vor Überfüllung der Hochschulen. Und deshalb hat die preußische Kultusverwaltung ein erstes Abituredikt auf den Weg gebracht, das bestimmte Standards festlegte.
Allerdings, um an die Universität zu gehen, war das noch nicht zwingende Voraussetzungen, es konnten durchaus Eltern, die betucht waren – also etwa Adlige – ihre Kinder, auch wenn sie unfähig waren, noch an die Universität schicken. Das hat sich erst allmählich geändert.
Trend zur Erleichterung
Timm: Aber dieses Problem, was soll jemand können, der an einer Hochschule studieren kann, was darf man von ihm fordern, wie muss man ihn fördern, das ist also uralt?
Bölling: Das ist sicher uralt. Nur dass die Erwartungen an die Kenntnisse oder an die Fertigkeiten der Studenten damals noch andere waren. Das hängt aber mit dem Bildungsideal der damaligen und der heutigen Zeit zusammen, die doch sehr unterschiedlich sind.
Timm: Ja, wie ist denn das? Ist denn das Abitur im Laufe seiner Geschichte leichter, schwerer oder bloß anders geworden?
Bölling: Man kann sicher nicht über die ganze Geschichte sagen, es ist leichter oder schwerer geworden. Solche langfristigen Trends gibt es da nicht. Es hat also seit Schaffung des Abiturs Phasen gegeben etwa in den Weltkriegen, wo die Anforderungen deutlich gesenkt wurden. Und dann hat man also etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, da hat das wieder angezogen. Was man aber schon sagen kann, auch wenn man sich die Noten anguckt so in den letzten Jahrzehnten, da hat es einen allgemeinen Trend der Erleichterung gegeben und der hat sich so vor fünf bis zehn Jahren mit der Einführung des Zentralabiturs in verschiedenen Bundesländern enorm beschleunigt.
Das Zentralabitur hat also zu einer Erleichterung geführt, die auch zu einer Noteninflation führte. Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen haben sich in sechs Jahren, zwischen 2007 – Einführung des Zentralabiturs – und 2013, da hat sich der Notendurchschnitt von 2,64 auf 2,46 verbessert, und der Anteil der Abiturienten mit 1,0, dieser Traumnote, hat sich mehr als verdoppelt. Das sind also schon sehr starke Veränderungen, wenn man das mal vor der Folie von Jahrzehnten sieht.
Timm: Rainer Bölling hat lange Jahre an Schulen unterrichtet und er hat eine Geschichte des Abiturs als Buch veröffentlicht. Wir sprechen mit ihm im "Radiofeuilleton", morgen werden in fünf Bundesländern zumindest zentralere Aufgaben im Abitur geschrieben. Herr Bölling, wenn man mal ein bisschen wühlt in der Geschichte, ich habe mal ein bisschen geschaut, deutscher Aufsatz, ganz zentrales Thema für jedes Abitur durch die Jahrhunderte, die Erörterung, Abi-relevant für alle Zeiten, was man da so geschrieben hat! 1861 zum Beispiel war ein Thema: Wie erklärt sich die rasche Verbreitung des Islam im siebten und achten Jahrhundert?
Erstaunlich eigentlich, so früh das Interesse daran! Oder 1911: Inwiefern ist Herders Wahlspruch "Licht, Liebe, Leben" der eines jeden tüchtigen Menschen? 1935: Die Bedeutung des Bauerntums im Dritten Reich. Wie spiegelt sich denn die Bildungs- und Mentalitätsgeschichte im Abi wider?
Bölling: Ja, das ist schon in recht starkem Maße sichtbar, vor allen Dingen in Deutschaufsätzen, muss man sicher sagen. Wichtiger Bereich war auch der lateinische Aufsatz, den es lange Zeit im 19. Jahrhundert jedenfalls gegeben hat, da war klar, welche Themen aus dem Bereich der Antike zu stellen waren. Im Deutschaufsatz spiegelt sich die Zeit schon sehr deutlich wider, die Themen aus dem 19. Jahrhundert, die Sie anführten, ja, die gingen davon aus, dass der Abiturient eben eine breite Bildung hatte, historisch, literarisch, und irgendetwas daraus dann kommen konnte. Es wurde ja nur einfach das Thema gestellt und er musste frei darüber schreiben, musste eine Disposition erstellen und das ausführen. Und in der NS-Zeit, da sieht man dann, wie die Themen, die nationalsozialistisch geprägt sind, Eingang finden.
Geschichte der Abi-Prüfung als deutsche Kulturgeschichte
Timm: Kann man so weit gehen und sagen, die Geschichte der Abi-Prüfung ist eine kleine Kulturgeschichte Deutschlands?
Bölling: Ja, das kann man sicher schon so sagen. Möglicherweise in jüngerer Zeit weniger, denn diese Ausprägungen sind unter den Bedingungen des Zentralabiturs nicht mehr so stark. Es gibt doch mittlerweile mehr so Standardaufgaben auf einem mittleren Anspruchsniveau, die ganz gut auszurechnen, es wird ja auch kein Aufsatz mehr geschrieben, sondern es werden Texte analysiert, die den Schülern vorliegen und über die sie dann schreiben, und da ist dann schon die Frage, wie weit sie dort jetzt eigenes einbringen müssen oder auch schon mit der Reproduktion dessen, was ihnen vorliegt, auskommen.
Timm: Das klingt jetzt ein bisschen so, als würden Sie sagen, das Abi heute ist doch leichter geworden. Oder höre ich da was Falsches raus?
Bölling: Nein, nein, das sehe ich schon so. Also, das zeigt sich etwa an Hilfsmitteln, die früher nicht zulässig waren, also zum Beispiel Wörterbücher, die heute in den Sprachen genutzt werden können, erst einsprachige, später jetzt auch zweisprachige, was nicht grundsätzlich falsch sein muss, aber wenn man sich mal so die Bewertungsvorgaben und die Ergebnisse anguckt, so weit das möglich ist, dann muss man schon sagen, es ist eine ständige Erleichterung, die etwas schleichend ist, die auch zusammenhängt mit der ständigen Ausweitung der Abiturientenquote, die ja von der OECD meiner Ansicht nach zu Unrecht gefordert wird.
Denn die Ergebnisse von Ländern, die hohe Abiturientenquoten haben, sind keineswegs vorbildlich, das sind etwa die Mittelmeerländer, Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien, mit denen ich mich auch beschäftigt habe, und andere Länder, die weniger Abiturienten haben, stehen ökonomisch besser da. Also, da sehe ich auch einen Antrieb, dass man sagt, möglichst viele Studenten, um das zu schaffen, muss man die Anforderungen ein bisschen senken, es soll aber nicht so auffallen, und so wird das Abitur dann schleichend erleichtert. Aber es gibt auch einzelne Untersuchungen dazu. Also, zum Beispiel hat vor einigen Jahren eine Kollegin eine Biologieklausur verglichen und da gab es das Ergebnis ganz klar zu besichtigen, dass es deutlich leichter geworden war.
Überlastungssymptome schon vor fast 200 Jahren
Timm: Ihr Buch strotzt natürlich auch von Anekdoten, man findet heraus, dass die sittliche Aufführung von Karl Marx sehr gut war und dass die Qualität des Abiturs etwa von Konrad Adenauer womöglich auch an einer perfekten Spickleistung lag, er hatte die Aufgaben schon vorher ausgekundschaftet. Ist nicht die Frage nach zu leicht, zu schwer, angemessen so alt wie das Abitur selbst und hängt auch mit dem Menschenbild zusammen, was dahintersteckt?
Bölling: Ja, sicher. Zu leicht, zu schwer, das ist die eine Frage, die sich auch schon durch das 19. Jahrhundert hindurchzieht, wo es schon Diskussionen darüber gab, dass die Schüler überlastet seien, zu hohe Anforderungen gestellt wurden und die ermäßigt werden sollten ...
Timm: Da gab es auch schon G8!
Bölling: Na, es war so, das Gymnasium wurde ja dann das neunjährige Gymnasium im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts. Nur die Vorbereitung war dreijährig in aller Regel, sodass man also damals auch nur zwölf Jahre hatte. Das hat sich erst in der Weimarer Republik dann geändert, dass man dann 13 Jahre bis zum Abitur hatte. Aber gewisse Überlastungssymptome, die heute beim G8 diskutiert werden, finden wir auch in den 1830er-Jahren etwa, wo ein Arzt sich dann zu Wort gemeldet hat mit seiner Kritik.
Timm: Rainer Bölling, er hat eine "Kleine Geschichte des Abiturs" geschrieben, passenderweise in einem Schulbuchverlag erschienen, bei Schöningh. Herr Bölling, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Bölling: Ja, bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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