Schule schwänzen für "Fridays for Future"

Warum der Regelverstoß den Klimaprotesten nutzt

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"Fridays for future"-Protest im März 2019 in Bremen: Jugendliche halten ein Transparent mit der Aufschrift "Schulstreik für das Klima" hoch.
Erst dadurch, dass Schüler sich punktuell der Schulpflicht verweigern, erhalten sie überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit, meint Stefan Kühl. © imago images/Stefan Schmidbauer
Ein Kommentar von Stefan Kühl · 26.04.2019
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Die "Fridays for Future"-Bewegung bezieht ihre Kraft aus einem Regelverstoß: der Verweigerung der Schulpflicht. Denn die fordert Konsequenzen heraus – und die können wiederum die Proteste befeuern, erklärt der Organisationssoziologe Stefan Kühl.
Der Erfolg der Klimaproteste von Schülerinnen und Schülern hängt maßgeblich damit zusammen, dass diese als Streik während der Unterrichtszeit stattfinden. Erst dadurch, dass Schüler sich punktuell der Schulpflicht verweigern, erhalten sie überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit. Sie verfügen damit über Protestmöglichkeiten, die den Studenten, die diese Demonstrationen unterstützen, nicht in gleicher Weise zur Verfügung stehen, weil sich letztlich niemand dafür interessiert, ob sie an einem Freitag an einer Vorlesung beziehungsweise Übung teilnehmen oder nicht.
Die Schüler nutzen dabei für ihre Proteste geschickt aus, dass sie zu den wenigen Gruppen gehören, die noch mit Zwang zur Mitgliedschaft in einer Organisation verpflichtet werden. Dass die Schulpflicht ursprünglich nicht wegen lernresistenten Schülern, sondern wegen Eltern eingeführt wurde, die ihre Kinder lieber zum Arbeiten als zum Unterricht schicken wollten, ändert nichts daran, dass die Schüler durch die Missachtung der Schulpflicht einen außergewöhnlich effektiven Hebel haben.
Nachdem die Proteste anfangs weitgehend ignoriert wurden, werden Verantwortliche jetzt zunehmend unruhig. Die offene Verweigerung der Schulpflicht stellt in der Wahrnehmung die formale Ordnung der Schule insgesamt in Frage. Organisationen reagieren generell sensibel, wenn Mitglieder sich offen weigern, auch nur eine Anweisung, eine Regel oder eine Aufforderung auszuführen. Wer auch nur "einer Vorschrift aus Prinzip die Anerkennung verweigert", so schon der Soziologe Niklas Luhmann, rebelliert nicht nur gegen diese eine Vorschrift, sondern "gegen alle formalen Erwartungen" der Organisationen.

Der Streik stellt die Ordnung der Schule generell in Frage

Man kann diese Sensibilität gegen einzelne Verweigerungen wie durch ein Brennglas bei Armeen mit Wehrpflicht beobachten. Die explizite Aussage eines Soldaten, dass er nicht bereit sei, den Hof zu putzen oder sich am Exerzieren zu beteiligen, löst nicht deswegen erhebliche organisatorische Unruhe aus, weil ein sauberer Kasernenhof eine Grundbedingung für eine erfolgreiche Kriegsführung ist, sondern weil die Ablehnung auch nur dieser einen kleinen Anweisung als Rebellion gegen alle formalisierten Erwartungen der Organisation interpretiert werden muss.
Die Verweigerung des Unterrichts durch Schüler ist nicht deswegen problematisch, weil die paar verpassten Unterrichtsstunden so wichtig sind, sondern weil der Streik die Ordnung der Schule generell in Frage stellt.
Deswegen bilden gerade Organisationen, die ihren Mitgliedern nicht die Wahl lassen, in der Organisation zu verbleiben oder diese zu verlassen, ein hohes Maß an Intelligenz aus, um mit Regelverstößen umzugehen. Man zieht die Verantwortung für die Regelverstöße nicht sofort in der Zentrale zusammen, sondern überlässt die Handhabung der Verstöße den unmittelbar Vorgesetzten.
Diese können dann selbst überlegen, ob sie die Verstöße überhaupt zur Kenntnis nehmen, vorgeschobene Entschuldigungen akzeptieren oder offiziell Bestrafungen aussprechen, die aber faktisch wirkungslos bleiben.

Kluge Duldung durch die Politik

Insofern ist es vermutlich eine kluge Politik der Kultusministerien, den Schulen keine rigiden Maßnahmen gegen die Streikenden vorzuschreiben, sondern es den einzelnen Schulen selbst zu überlassen, wie sie mit den fehlenden Schülern umgehen wollen.
Dabei wählen die meisten Schulen aus guten Gründen eine Vorgehensweise, die auf den Einsatz des zur Verfügung stehenden Bestrafungsapparats verzichtet, gleichzeitig aber die auf der Schulpflicht basierende formale Ordnung aufrechterhält. Das Fehlen von Schülern wird zwar nicht offiziell erlaubt, aber stillschweigend geduldet, Fehlstunden können durch die Beteiligung an Diskussionen über Klimaschutz kompensiert werden oder es werden Verwarnungen ausgesprochen und dabei mitkommuniziert, dass aus diesen keine Konsequenzen folgen werden.
Wir wissen, dass Protestbewegungen – man denke nur an die Friedensbewegung, die Frauenbewegungen oder auch nationalistische Bewegungen – nach einer gewissen Zeit in sich zusammenfallen.
Sicherlich, das Ergebnis von Protestbewegungen ist die Bildung professionell organisierter Lobbyorganisationen und die Entstehung von Parteien, die das Thema in die Parlamente treiben. Aber die Protestbewegung selbst – und das scheint fast ein ehernes Gesetz von Bewegungen zu sein – verliert zunehmend an Bedeutung und ist irgendwann kaum noch in der Lage eine nennenswerte Anzahl an Personen für ihre Proteste zu mobilisieren.

Bestrafungen würden die Protestbewegung stärken

Eine rigide Vorgehensweise gegen Protestbewegungen wirkt für diese jedoch wie eine permanente Beatmungsmaßnahme. Insofern tragen Politiker, die harte Bestrafungen der Protestierenden fordern, und Schulleiter die alle rechtlich möglichen Wege die Schlupflicht durchsetzen, nutzen, entscheidend zum anhaltenden Erfolg dieser Protestbewegung bei.
Den größten Gefallen den Politiker und Schulleiter den Schülern tun könnten, wäre die Bestrafungen weiter eskalieren zu lassen. Insofern können die protestierenden Schüler nur hoffen, dass bald die ersten von ihnen aufgrund ihrer Proteste aus der Schule entfernt, die ersten Eltern zu Bußgeldern verurteilt und die ersten Politiker über Beugehaft gegen Schüler oder Eltern zur Durchsetzung der Schulpflicht fantasieren.

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Uni Bielefeld und hat über Organisationen mit Zwangsmitgliedschaften geforscht.


Porträt von Stefan Kühl von der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld
© Metaplan / David Maupilé
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