Schule für Zirkuskinder

Erst Mathe, dann in die Manege

15:12 Minuten
Die beiden Circuskinder Toni (l) und Jami sitzen mit einer Lehrerin in der Manege eines Zirkuszeltes.
Aus dem Probebetrieb wurde eine Erfolgsgeschichte: Die Zirkuskinder Toni (links) und Jami im Unterricht. © Picture Alliance / dpa / Roland Weihrauch
Von Michael Frantzen · 31.07.2019
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Seit 25 Jahren gehen Zirkuskinder in Nordrhein-Westfalen in eine besondere Schule. Mit Erfolg. Denn die Schüler lernen von den 30 Lehrerinnen und Lehrern, selbst zu lernen. Ein Modell, das in anderen Bundesländern fehlt.
Bärbel Fritz hat die Ruhe weg. Düsseldorf, Stadtteil Eller. Donnerstagmorgen. Die Lehrerin der "Schule für Circuskinder" in NRW wischt sich den Schweiß von der Stirn. Es ist heiß. Ein, zwei Grad mehr – und sie hätte ihrer Klasse Hitzefrei gegeben, wie gestern. Heute aber: Lässt es im Schulwagen am Rande des Schützenplatzes halbwegs aushalten.
"Die beiden: Die Jenna und der Toni: Die sind im Abschlusslehrgang. Das heißt, die müssen jetzt noch ihre letzten Bausteine fertig machen. Deswegen müssen sie einfach ran. Da kommt unser nächster Schüler. Der Jamie macht grade Onlineunterricht. Der hat Englischunterricht. Sind auch welche von anderen Zirkussen oder Schaustellerkinder jetzt."

Viele Orte, eine Schule

Englischunterricht im digitalen Klassenzimmer: Für Jamie ganz normal. Schon seit längerem setzt Deutschlands erste Schule für Zirkuskinder auf die neuen Medien. Genau wie auf altersgemischte Klassen und Förderpläne für jeden einzelnen der 250 Schüler, die kreuz und quer in Nordrhein-Westfalen verteilt sind.
"Wo kann man so arbeiten, dass man wirklich für jedes Kind individuell einen Plan machen kann? Das macht auch Spaß. Wenn man sieht: Wo ist das Kind? Wo kann ich einhaken? Und egal in welcher Klasse: Jedes Kind kann auf seinem Niveau lernen."
Viele Orte, eine Schule: Das bedeutet auch: Die Schüler und Schülerinnen kommen nicht in die Schule: Die Schule kommt zu ihnen. Für Fritz und ihre gut 30 Lehrerkollegen heißt das: Sie müssen mobil sein. Und Nerven bewahren.
"150 bis 200 Kilometer quer durch Nordrhein-Westfalen: Das passiert schon häufiger. Aber die Kilometerzahl ist nicht unbedingt entscheidend in Nordrhein-Westfalen. Manchmal brauch ich von hier nach Köln länger als nach Ahaus oder an die holländische Grenze."

In enger Absprache mit den Eltern

Wegen der ganzen Staus auf den NRW-Autobahnen. Heute Morgen ging es. Eine halbe Stunde hat Fritzi, wie sie alle nennen, von zu Hause nach Düsseldorf gebraucht. Zu Zirkus Traber, einem der bekanntesten Zirkusse Nordrhein-Westfalens.
"Wenn die jetzt eine Vorstellung hätten, dann könnte ich halt keinen Unterricht machen. Und das ist normal. Im Prinzip spricht man wöchentlich mit den Eltern ab, was geht und was nicht geht."
Es ist viertel nach zehn: Und die Motivation von Jenna so lala. Kunst ist ihr Lieblingsfach, Biologie eigentlich auch ganz OK, aber die Sache mit Konrad Lorenz, dem Verhaltensforscher, und seinem Experiment mit Gänsen: Das will ihr einfach nicht in den Sinn. Sie beugt sich über ihr Lehrbuch. Ende des Schuljahrs hat sie es geschafft – und ihren Realschulabschluss in der Tasche.
Die Schülerinnen Angeli und Jenna sowie die beiden Schüler Toni Jamie sitzen gemeinsam mit der Lehrerin Bärbel Fritz im Schulwagen in Düsseldorf-Eller.
Lernerfolge auf engstem Raum: Blick in den Schulwagen in Düsseldorf.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Am wichtigsten ist der 15-jährigen der Zirkus. Ihre Akrobatiknummern. Sie macht das, seit sie fünf ist. Träumt von Monte Carlo: Dem berühmten Zirkusfestival. Einige ihrer Onkel haben dort Preise gewonnen.
"Man wünscht sich, dass die Kinder im Zirkus bleiben", sagt Jennas Vater Franz. Er schaut morgens häufiger vorbei, um kurz Hallo zu sagen. Und zu gucken, ob alles okay ist. "Das soll ja bestehen bleiben. Wir werden ja nicht jünger, wir werden ja älter."
Traber Senior selbst hat nur zehn Jahre die Schule besucht. "Wir mussten jede Woche in eine andere Schule gehen. Ging auch. Aber ist natürlich ein bisschen umständlicher. Zum Beispiel Mathe: Hatten wir durch. Sind wir in die nächste Stadt gekommen: Hatten wir auch wieder Mathe. Mussten wir das grad mal wiederholen. Die haben für uns nicht was anderes gemacht."

Immer weniger Plätze für den Zirkus

Trabers Zirkus ist ein Familienbetrieb. Zwölf Geschwister sind sie: Sieben Brüder, fünf Schwestern. Bis auf die Älteste alle noch dabei. Jeder hat seinen eigenen Wohnwagen, seine Aufgabe. In jüngeren Jahren hat der drahtige 54-Jährige auf dem Pferd jongliert, aber das ist vorbei. Jetzt kümmert er sich ums Organisatorische: Plant Tourneen; bucht Stellplätze.
"Es wird immer schwieriger. Es gibt immer weniger Plätze. Viele Plätze, die es letztes Jahr oder vor zwei Jahren gab, die sind dieses Jahr auf einmal verschwunden. Weil dann gebaut wurde. Und plötzlich steht da ein Hotelhaus. Und Schützenplätze?! Werden auch immer weniger. Das ist das größte Problem beim Zirkus."
Ein Problem hat auch Trabers Frau Geli – mit dem Ehrgeiz ihrer Tochter:
"Jenna ist ein Zirkuskind und es ist ihr Leben. Da kann sie sich gar nichts anderes vorstellen. Auf der einen Seite ist das natürlich toll, dass sie davon so überzeugt ist. Auf der anderen Seite finde ich das natürlich schwierig. Weil sie nur in eine Richtung gucken. Und das Leben ist noch lang. Man weiß nicht, in welche Richtung es geht. Ob sie in zehn Jahren noch so zufrieden ist wie jetzt. Also für Jenna: Mir macht das eigentlich Probleme. Sie ist 15 Jahre und entscheidet jetzt quasi über ihr ganzes Leben."
Theoretisch könnte Jenna am Westfalen-Kolleg das Fernabitur dranhängen. Doch danach sieht es nicht aus. Ihre Mutter zuckt mit den Schultern: Selbst Fritzi, Jennas Lehrerin, beißt da auf Granit.
"Die Fritzi gehört praktisch bei uns mit zur Familie. Es ist eine Freundin. Es ist nicht nur eine Lehrerin, sondern für alle eine Freundin."

Zirkusgeschichte und Versicherungswesen

Toni braucht 47 sogenannte Bausteine, um seinen Realschulabschluss zu machen. Klassische Fächer wie Englisch und Musik sind darunter, aber auch Spezielles wie Zirkusgeschichte und Versicherungswesen.
"Wir haben das auch so ein bisschen abgestimmt auf die Bedürfnisse, die sie haben, wenn sie im Zirkus weiter arbeiten. Dass sie wissen: Was muss ich dann bedenken, wenn ich einen Zirkus selbst führe", erklärt Bärbel Fritz.
Toni ist 16 Jahre alt, ein schlaksiger Teenager – und fast fertig.
"Ich hab jetzt mein Realschulabschluss gemacht. Die Prüfungen hab ich geschrieben. Hab ich auch gut bestanden. Und dann, mal sehen. Natürlich will ich immer beim Zirkus bleiben. Das ist eine lange Tradition. Und ein Stück weit Erbe. Das ist wirklich schon die sechste oder siebte Generation. Und das gibt man auch nicht so leicht auf. Aber trotzdem will man dann eine kleine Absicherung, ein kleines Kissen, haben. Dass man dann trotzdem noch einen guten Schulabschluss und vielleicht auch Abitur hat. Aber mal sehen."
Die Schüler Jenna, Jamie, Toni und Angeli stehen mit der Lehrerin Bärbel Fritz vor Schulwagen in Düsseldorf.
Verschiedene Orte, eine Schule: Die Lehrerin Bärbel Fritz mit ihren Schülern Jenna, Jamie, Toni und Angeli vor dem Schulwagen.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Vorerst aber tut Toni das, was er am besten kann: "Faxen. Spökes machen. Das kann ich schon ganz gut."
Als Clown in der Manege. Zusammen mit Jamie, seinem Cousin.
"Der Jamie ist der Spaghetti. Weil er so ein Spaghetti ist. Ich bin der Totti, als Clown. Ich mach auch noch andere Sachen: Stühle auf dem Kinn balancieren. Jonglieren."
Mit seiner Jongliernummer war Toni letztens auf der Didacta, der Bildungsmesse in Köln. Die Besucher staunten nicht schlecht: Wie er acht Stühle auf seinem Kinn balancierte.

Noch ein bisschen über die Rente

Talent haben ihre Schützlinge alle, meint Tonis Lehrerin. 64 ist "Fritzi" jetzt, ein Jahr noch – dann könnte sie in Rente gehen.
"Ich mach noch ein bisschen. Ich bleib noch ein bisschen."
Kurz nach eins: Unterrichtsende. Bärbel Fritz, die Lehrerin an der Schule für Cirkuskinder, lässt sich in ihren Hybrid-Dienstwagen fallen. Das Klassenzimmer auf vier Rädern: Nein, meint sie lachend. Das muss sich nicht mitschleppen. Das bleibt beim Zirkus. Bevor sie nach Hause fährt, will sie noch Jamie und Angeli absetzen, auf ihrem Stellplatz am Rande Leverkusens. Für den ganzen Zirkus war auf dem Schützenplatz in Düsseldorf kein Platz, deshalb haben sich die Trabers aufgeteilt.
Die Fahrt dauert 20 Minuten: Zum Festzelt und Texas:
"Hast du einen neuen Kumpel? Der beste Freund von Texas war ein Kamel, das sie leider verkauften mussten. Und da war der ganz lange super traurig. Das konnte man ihm echt anmerken."
Fritzi streichelt Texas über den Kopf. Nachher soll der Hengst eigentlich mit zwei Collies und drei Pudeln in die Manage. Zusammen mit Jamie und Angeli. Doch manchmal haben selbst Pferde hitzefrei.

Von schwierigen Jugendlichen in den Zirkus

Feierabend. Bärbel Fritz steigt aus ihrem Auto. Sie läuft die paar Schritte zu ihrem Fachwerkhaus am Ortsrand Leverkusens samt eines Baches – und ihrer Chefin im Garten.
Dass Annette Schwer es sich auf der Veranda bequem gemacht hat, ist kein Zufall. Die beiden Lehrerinnen wohnen zusammen – in einer Art Kommune, zusammen mit Schwers Mann und ihrer erwachsenen Tochter.
Die Schulleiterin schaut kurz hoch. Viel Zeit hat sie nicht: "Ne kurze, komprimierte Nummer. Lieben Dank."
Schulleiterin der Schule für Cirkuskinder, sitz an einem Tisch. Vor ihr steht ein Laptop.
Schulleiterin mit digitalem Lehrerzimmer: Annette Schwer gründet vor 25 Jahren die Schule für Circuskinder mit.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Hart, aber herzlich: Das hat schon vor 25 Jahren gut funktioniert.
"Als die Stelle ausgeschrieben worden ist, suchte die Evangelische Kirche im Rheinland drei Lehrer, die sich vorstellen konnten, ein weißes Blatt Papier neu zu beschreiben. Um Zirkuskindern eine Chance auf gleichwertige Bildung zu geben. Da hab ich mich beworben, weil ich neun Jahre mit schwierigen Jugendlichen gearbeitet hab. Und da haben se gedacht: Okay, die hat Ellenbogen, die nehmen wir mal. Bei so einem Konzept ist es auch immer wichtig, so ein, ich sag das jetzt mal, Frontschwein zu haben."

In der Praxis ein bewährtes Modell

Der Rest ist Geschichte: Aus einer fünfjährigen Testphase wurden 25 Jahre, aus der Probe- eine Regelschule. Erfolge und Misserfolge: Sie lagen dicht beieinander. Hing auch viel davon ab, wer gerade im Kultusministerium in Düsseldorf das Sagen hatte. Erinnert sich die Frau, der man ihre 65 nicht ansieht. Nicht alle konnten mit ihrem pädagogischen Konzept etwas anfangen. Ihrer Maxime: Weniger ist manchmal mehr.
"Braucht man Schreibschrift? Nein. Braucht man nicht. Wenn die Oma schreibt: Dass man es vielleicht noch lesen kann. Aber gerade heutzutage ist es nicht zwingend."
Wenn es hakte in Düsseldorf und wieder irgendeine Prädikatsjuristin etwas zu meckern hatte, vertraute die Powerfrau auf die "Macht des Faktischen". Kommt vorbei, dann reden wir weiter. Sie lacht. Das hat immer noch funktioniert. Theorie: Ist das eine. Die Kids in Aktion zu Erleben das andere.
"Unsere Kinder lernen auch, selbst zu lernen. Darauf basiert unser ganzes System. Was auch immer wieder schwierig ist. Weil wir Kinder natürlich auch relativ früh ins Selbstmanagement schicken. Was sie teilweise super können. Aber auch teilweise in der Pubertät, gerade wenn die Jungs dann so weit sind, dass sie eigentlich lieber direkt Direktor werden, ist es auch schwierig. Aber: Ohne dieses Konzept funktioniert es nicht."

Viel Entscheidungsfreiheit für Lehrer

Selbstverantwortlich sein: Das gilt auch fürs Kollegium. Ob Hitzefrei ist: Das entscheidet nicht die Schulleiterin, sondern jeder Lehrer selbst. Genau das gleiche im Unterricht: Was auf dem Lehrplan steht: Da hält sich Annette Schwer heraus. Auch bei Konflikten. Letztens erst gab es Stress zwischen Zirkuskindern und Anwohnern. So etwas besprechen ihre Lehrer im Religions- und Ethikunterricht.
"Da treffen oft Welten aufeinander. Nicht immer sind Zirkusleute in der Mitte der Gesellschaft, sondern am Rande. Das heißt, da ist ganz viel miteinander, da ist Kommunikation gefragt. Da ist Training mit den Kids: Wie gehen wir mit dem Konflikt um? Warum haben die euch angepöbelt? Wie lösen wir das?"
Die Frau mit dem schwarzen Haar klappt ihr Notebook auf. Sie will gleich noch skypen. Zuerst mit einer Lehrerin, danach mit der Mutter eines Schülers in Bulgarien. Zwar sitzt die Schulzentrale mit dem Sekretariat in Hilden, doch da treffen sich Schwer und Co nur einmal im Monat – zur Lehrerkonferenz. Den Rest der Zeit sind sie zwischen Rhein und Weser unterwegs. Und bestens vernetzt - über "DiLe" – das "digitale Lehrerzimmer".
Elterngespräche per Skype: Die "Lehrerin aus Leidenschaft" macht das häufiger. Dima Kiriasow und ihre Familie sind gerade auf Heimaturlaub in Bulgarien. Übernächste Woche kommt die Artistenfamilie zurück ins Rheinland, dann erhält auch Angel, der 15-Jährige, sein Zeugnis. Seine Mutter hält Stücke auf Schwers Schule.
"Es ist wirklich schwer für die Zirkuskinder zu lernen. Weil es wirklich keine so feste Schule und Möglichkeiten gibt. Es ist gut, dass Annette, unsere Lehrerin und Freundin, alles so möglich macht."
Tolle Leute – die Kiriasows. Meint die 65-Jährige. Er macht eine irre Handstandnummer. Sie ist eine der besten Akrobatinnen des Landes. Mit dem Herz am rechten Fleck.
"Das ist der Sohn, der ist bei Roncalli. Da verteilen wir Zeugnisse. Ja, die sind sechs Jahre gereist. Das ist im Schulwagen von Roncalli."

Hoffnung auf eine bundesweite Schule

Schwer schaut auf ihre Uhr. Es wird Zeit. Sie muss noch einiges vorbereiten. Für das große Fest in Düsseldorf. Einladungen verschicken: ans Kultusministerium, die Evangelische Kirche, die Kollegen in Hessen. Auch da gibt es jetzt eine Schule extra für Zirkuskinder. Probeweise. Bundesweit aber, die Pädagogin verzieht das Gesicht, tut sich nichts.
"Ich finde, es kann gar nicht sein: Wir wissen, wie es geht. Wir schaffen eigentlich Chancengleichheit. Bildung für Kinder mit ganz vielen Brüchen. Mit beruflich reisenden Eltern. Wir haben immer wieder versucht, mit der Kultusministerkonferenz zu sprechen: Dass es eine Schule für Reisende gibt, die ein gemeinsames Dach hat."
Ein bundesweites Dach. Vergeblich. Schwer aber wird weiter kämpfen. Als Rampensau. Für ihre Zirkuskinder.
"Ich mach noch ein Jahr. Und dann: Ja, dann gucken. Ich finde, man muss Plätze räumen. Schwung geben und sagen: Tschüss."
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