"Schuld sehen die ja nicht"

Nourig Apfeld im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 08.11.2010
Sie stammt aus Syrien, kam als Siebenjährige nach Deutschland und wuchs in einer islamisch-archaischen Familie auf. Nourig Apfeld erlebte, wie ihre jüngere Schwester von zwei Cousins und dem Vater umgebracht wurde. Über diesen "Ehrenmord" hat sie ein Buch geschrieben.
Liane von Billerbeck: Mit sieben Jahren kam Nourig Apfeld gemeinsam mit ihrer Schwester und Mutter aus Syrien in die Bundesrepublik, wo der Vater schon lebte. Die Mutter konnte damals weder lesen noch schreiben. Als die Mädchen älter wurden, begannen die Probleme. Vor allem Nourigs Schwester Waffa versuchte, aus den Zwängen der islamisch-archaischen Ordnung der Familie auszubrechen. Die Konflikte spitzen sich zu und führten 1993 dazu, dass Waffa von ihrem eigenen Vater und zwei Cousins ermordet wurde. Ihre ältere Schwester Nourig wird gezwungen, Zeugin dieses Mordes zu sein und darüber zu schweigen. Viele Jahre lang hat sie sich daran gehalten, doch irgendwann ertrug sie es nicht mehr. Körper und Seele rebellierten, ihr eigenes erwachsenes Leben drohte zu zerbrechen.

Inzwischen, nach einer langen Zeit, hat Nourig Apfeld nicht nur ein Buch über den Mord an ihrer Schwester geschrieben, sie will der deutschen Öffentlichkeit auch klarmachen, dass etwas unternommen werden muss gegen diese extremen Gewaltverhältnisse, die Töchtern, Müttern, Frauen in solchen Familien das Leben zur Hölle machen. Sie tut das in einer Zeit, in der hierzulande sehr kontrovers darüber debattiert wird, welche Einwanderer wir wollen, welche wir brauchen oder uns leisten können. Nourig Apfeld ist jetzt bei uns zu Gast, herzlich willkommen!

Nourig Apfeld: Hallo!

von Billerbeck: Leben Sie noch immer in Lebensgefahr, weil sie offen gelegt haben, wer Ihre Schwester ermordet hat?

Apfeld: Ja, insofern lebe ich in Lebensgefahr, als dass meine Familie mein Verhalten als einen Hochverrat deutet und dementsprechend eine Art Fatwa gegen mich ausgerufen hat, das heißt eine Kriegserklärung. Und dementsprechend muss ich fürchten, dass die Familie mir was antun möchte. Und das ist eigentlich im Moment die einzige Gefahr, die für mich besteht.

von Billerbeck: Dieser Mord an Ihrer Schwester, der hatte ja eine lange Vorgeschichte, und die begann spätestens 1979, als Sie nach Deutschland kamen, zusammen mit Ihrer Schwester und Ihrer Mutter. Wie war das damals, fühlten Sie sich willkommen?

Apfeld: Also in den ersten ein paar Jahren war es halt sehr schwierig, und gerade das erste Jahr ohne Sprachkenntnisse war sehr anstrengend. Wir haben unsere Umwelt nicht verstanden, umgekehrt die glaube ich uns auch nicht, und ja, wir haben schon da in der Zeit gelernt, was es heißt, nicht willkommen zu sein als fremde Menschen mit einer anderen Kultur. Und das hat sich aber für uns Kinder sehr schnell gegeben, weil wir die deutsche Sprache auch schnell beherrscht haben und dann sehr schnell auch unsere Heimat hier in Deutschland gefunden haben.

von Billerbeck: Sie hatten – das kann man in Ihrem Buch nachlesen – in Deutschland als Kind Pech und Glück zugleich. Sie haben an einer katholischen Schule einen sehr rassistischen Direktor erlebt, hatten aber auch Glück, weil Sie in einem Jugendzentrum Anschluss fanden, wo die Betreuerinnen und die anderen Kinder so eine Art Ersatzfamilie für Sie wurden und Sie dadurch ganz unbeschwert Deutsch lernen konnten und auch Kind sein konnten. Aber der Widerspruch zwischen dieser offenen Situation dort und der Enge zu Hause, der wurde immer stärker, nicht nur für Sie, sondern auch für Ihre Schwester. Welche Konsequenzen hatte das?

Apfeld: Das hatte zur Konsequenz, dass meine Schwester, die ab dem dritten Lebensjahr hier aufgewachsen ist, also auch eine westliche Sozialisation erfahren hat, noch weniger von der heimatlichen Kultur mitbekommen hat als ich, dass sie dann wirklich auch wie jedes westliche Kind ihre Freiräume in Anspruch genommen hat, und das hat bei meinen Eltern zu Unverständnis geführt und in der Folge auch zu ganz radikalen Einschneidungen.

Das heißt, mit der Pubertät durfte ich zum Beispiel auch schon nicht mehr vor die Haustür gehen, außer zur Schule und zurück den Weg, und bei ihr war es halt so, dass sie dann auch sich sehr stark beeinträchtigt gefühlt hat in ihrem freiheitlichen Gefühl und Denken, dass sie dann immer mehr versucht hat, sich von der Familie abzunabeln. Und das war letzten Endes halt auch das größte Problem dabei, dass meine Eltern dachten, sie entgleitet ihnen aus den Händen, und sie in die Türkei verfrachtet haben, zu Verwandtschaft. Weil nach Syrien ging es nicht aufgrund des Asylverfahrens, was sie am Laufen hatten, also musste sie dann zur Umerziehung in die Türkei verbracht werden.

von Billerbeck: Wie kam es dann nun aber dazu, dass die Konflikte innerhalb der Familie sich so zuspitzten, dass sie am Ende dazu führten, dass drei Männer eine junge Frau, Ihre Schwester, umgebracht haben?

Apfeld: Ich denke, da sind wirklich zwei Welten aufeinandergeprallt: Die von meinen Eltern, die islamisch und archaisch geprägte Welt, das heißt, dort ging es darum, die Traditionen aufrechtzuerhalten. Es ging da drum, für den Fall, dass eine Ablehnung des Asylgesuchs stattfinden sollte, auch wieder in der Familie in der Heimat zurück bestehen zu können. Also das heißt, man hat wirklich jeden Tag versucht, uns Kinder nah an der Kultur zu halten und keine Verdeutschung sozusagen zuzulassen, und das war halt einer der Gründe. Und der andere Grund war halt eben auch so, dass meine Eltern, die also doch sehr orientalisch aufgewachsen sind, dann gesehen haben, wir Kinder fangen an, westlich zu werden. Und da hatten sie Ängste, dass das einfach nicht mehr zu kontrollieren ist, dass wir ihnen aus den Händen gleiten.

Und das war auch der Zeitpunkt, wo meine Schwester halt eben angefangen hat, sich erst recht von der Familie abzuwenden und zu sagen, so, ich will nichts mehr mit euch zu tun haben. Sie ist von zu Hause weggelaufen, hat dann teilweise ungeschützt gelebt, das heißt, selbst das Jugendamt hat ihr nicht geholfen, einen Schlafplatz zu finden, und sie ist dann halt viel unterwegs gewesen, auch einmal in einer Disko, wo sie dann halt eben unter Drogen gesetzt und zur Prostitution gezwungen wurde. Und das war der … also das wirklich so die Krönung für die beiden Cousins und meinen Vater, dass dann entschieden wurde, sie muss beiseite geschafft werden, weil sie die Ehre der Familie in den Schmutz gezogen hatte.

von Billerbeck: Sie haben das miterlebt, Sie haben erlebt, wie Ihre Schwester umgebracht wurde. Wie konnten Sie mit diesen Bildern im Kopf weiterleben?

Apfeld: Ich denke, dass wenn man sich so Theorien in der Traumaforschung anschaut, also es ist einfach so, ich hab dieses Erlebnis an diesem Morgen, denke ich mir, so lange von mir abgespalten oder es ist halb eben, es hat eine Abspaltung stattgefunden, dass ich damit recht lange leben konnte, zwar nicht gut, aber ich hab damit gelebt. Und diese Bilder kamen gar nicht so oft, wie man sich das vorstellt. Also ich hatte nicht diese Flashbacks, sondern es war eher so, dass es dann in Momenten, wo ich über meiner Lektüre für mein Studium saß, dann auf einmal merkte, ich kann mich gerade nicht konzentrieren. Also es äußerte sich mehr in solchen Problemen und in Schlafstörungen und so. Aber diese neun Jahre des Schweigens waren wirklich auch so ein Schutz, nicht nur für mich, sondern auch für meine neue Familie, die ich hatte, für meine deutsche Familie. Ich wollte nicht, dass das Verbrechen aufgedeckt wird und sie mit reingezogen werden. Zugleich hatte ich auch Angst, umgebracht zu werden, wenn ich rede, wenn ich über diese Tat rede. Also ich war in so einer Zwickmühle und wusste nicht, wie kann ich mir helfen, denn den Schutz draußen hätte ich nicht finden können.

von Billerbeck: Trotzdem ist es ja was ganz Dramatisches. Man sieht die eigene Schwester auf der Couch liegen, man sieht, sie ist erwürgt worden, es wird einem selbst das Seil in die Hand gegeben, damit man quasi mitschuldig ist. Wie kann man damit leben?

Apfeld: Ich glaube, das hat man mir noch nicht mal mit in die Hand gegeben, dass ich eine Mitschuldigkeit fühle, sondern einfach …

von Billerbeck: Als Drohung.

Apfeld: Eher als Drohung, es war mehr eine Drohung, weil Schuld sehen die ja nicht in ihrem Moment, wo sie das tun. Sie sehen da ja keine Handlung, die eigentlich Schuld auf einen legt, das sehen die nicht. Es war eher so eine Abschreckungsmaßnahme: Du nimmst das in die Hand, nimmst das körperlich wahr, und du weißt dann, was die blüht, wenn du redest oder dich nicht an unsere Regeln hältst. Und das war etwas, was wirklich tief in den Knochen saß, diese Angst, die Nächste zu sein.

von Billerbeck: Das hat ja auch funktioniert viele Jahre lang.

Apfeld: Viele Jahre lang, aber wie gesagt, ich hab ja entsprechend dann auch Therapien gemacht, zwar nicht in den Therapien angesprochen, was eigentlich die Ursache ist, weil die auch so wirklich verdrängt war erst mal, dass ich da auch das nicht in Zusammenhang gebracht hat mit meinen Problemen, die ich entwickelt habe.

von Billerbeck: Nourig Apfeld ist meine Gesprächspartnerin, sie hat als junges Mädchen den Mord an ihrer Schwester mit ansehen müssen, verübt von Cousins und dem eigenen Vater. Sie setzt sich dafür ein, diese Gewaltverhältnisse in islamisch-archaischen Familien offenzulegen. Es gibt ja den Begriff Ehrenmord, das ist so ein Begriff, den ich immer sehr ungern benutze, weil Ehre ist, ja, das hat so was, wo man denkt, na ja, es gibt vielleicht doch einen Grund für den Tod. Dieser Ehrenmord gilt aber als extremer Ausdruck eines Kulturkonflikts zwischen diesen Familien, die hier einreisen, und der westlichen Gegenwart. Aber wenn man schon die Gewaltverhältnisse, die Sie in Ihrem Buch sehr genau beschreiben, liest – da wird unglaublich geprügelt und gestraft in den Familien –, dann widerspricht das schon allem, was wir so für Grundrechte halten, die natürlich auch für Frauen und für Mädchen gelten. Welche Auswege gibt es denn aus Ihrer Sicht, gerade die Töchter zu schützen?

Apfeld: Ich denke, das Beste, was wir tun könnten, wäre, ihnen Bildung an die Hand zu geben, Wissen an die Hand zu geben und ihnen auch vielleicht eine Ganztagsbetreuung in der Schule anzubieten. Das heißt, diese jungen Kinder von der ersten Klasse an oder sogar ab dem Kindergartenalter komplett in einen guten Tagesablauf zu integrieren und dass sie dort Wärme, Geborgenheit, Schutz erfahren, und ihnen auch zu zeigen, ihr könnt wählen, ihr habt die Wahl, ihnen einfach bewusst zu machen, ihr seid Menschen, Individuen, die auch ein Recht haben da drauf, als Individuum aufzuwachsen und nicht als Teil eines Kollektivs. Also einfach ihnen erst mal vermitteln, was heißt es, ein Ich zu haben, ein Ego zu haben, was heißt es, ein eigenständiger Mensch zu sein.

von Billerbeck: Das klingt jetzt so einfach, wenn Sie sagen, man muss ihnen das anbieten. Wenn man in dem Buch der Berlin-Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig nachliest, dann erfährt man sehr genau, wie schwierig es ist, solche westlichen Ansprüche, wir bieten euch hier Ganztagsbetreuung – also gehen wir mal jetzt davon aus, wir haben das Geld, es ist alles eingerichtet, die Möglichkeiten sind da. Dann beschreibt die Kirsten Heisig in ihrem Buch, wie schwierig es ist, solche Werte – Ganztagsbetreuung, Bildung – in Familien durchzusetzen, die das überhaupt nicht wollen. Also im Gegenteil, sie sagt, Leute, Jugendsozialarbeiter, die das versucht haben, die werden bedroht.

Apfeld: Das ist mir bewusst, und mir ist auch bewusst, dass vielen Eltern eigentlich ihre traditionelle archaische Struktur und dieser sehr religiöse, fundamental-religiöse Aspekt viel wichtiger ist. Das heißt, ihnen ist es wichtiger, dass die Kinder ordentlich sind, dass die jungen Frauen ordentliche Dienerinnen abgeben, dass man die im Sinne der Tradition weiter vermitteln kann. Also ihnen ist das … das steht über der Bildung. Aber ich denke, es müsste wirklich per Gesetz verabschiedet werden, dass sowohl die Eltern, wenn sie erwerbslos sind, per Gesetz dazu angehalten werden, genauso eine Schule zu besuchen wie die Kinder.

Ich finde, da muss halt eben die Politik her, die Regierung her und sagen: So, alle Zuwanderer, die wir hier haben, die halt eben entweder noch ein Asylverfahren am Laufen haben oder eben der Sprache nicht mächtig sind und deswegen auch nicht erwerbstätig sein können, all diese Menschen sollten dazu verpflichtet werden, auch selbst in die Schule zu gehen, dort einen Sprachunterricht zu erhalten, also im Prinzip mit dem Grundgesetz vertraut gemacht zu werden, also die deutsche Kultur, die westliche Kultur kennenzulernen, dass sie aber auch dort Sexualkundeunterricht genauso bekommen, also im Prinzip so eine ganz solide Basisgrundbildung erhalten, denn oft sind sie ja bildungsfern.

Und wir können das nicht von heute auf morgen aufspalten, dieses Problem, was wir haben, das weiß ich auch und da hat Frau Heisig auch recht. Es ist sehr schwierig, an diese Familie dranzukommen, aber es ist nicht unmöglich, denn bei mir hat es auch geklappt. Ich habe auch nicht die Förderung von zu Hause in dem Sinne erhalten, dass meine Eltern die Sprache konnten und mir helfen konnten, aber ich wollte es lernen, und ich habe diese Förderung in der Schule erfahren und halt eben nach der Schule in diesem Freizeitzentrum. Das klingt so nach einem Freizeitzentrum, wo nur ein Billardtisch steht, wie das oftmals ja hier der Fall ist – nein, es war wirklich ein Freizeitzentrum mit ganz vielen Kursangeboten, das heißt, ich hab dort auch meine Fähigkeiten entwickeln können, hab mich dort wohlgefühlt. Und das alleine bewirkt bei den Kindern schon sehr viel.

von Billerbeck: Nourig Apfeld war bei mir zu Gast, ganz herzlichen Dank für das Gespräch! Ihre Geschichte lässt sich nachlesen in dem Buch "Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester". Danke fürs Kommen und danke für das Gespräch!

Apfeld: Herzlichen Dank!

Informationen des Rowohlt Verlags zu "Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester"
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