Schubert in Wien

Intelligente Grenzüberschreitungen

Der österreichische Musiker und Komponist Franz Schubert
Der österreichische Musiker und Komponist Franz Schubert © picture-alliance / dpa / Votava
Von Jörn Florian Fuchs · 09.06.2014
Bei den Wiener Festwochen ist die "Winterreise" zu hören, Franz Schuberts 24-teiliger Liederkranz mit seinen lunaren Stimmungen voller Sehnsucht, Melancholie und Wut. Der südafrikanische Künstler William Kentridge steuert zu jedem Lied einen Film bei.
Pfingstmontag im Wiener Museumsquartier. Vorwiegend Jugendliche aalen sich in der Sonne, von irgendwoher wummern Discobeats, die zahlreichen Restaurants und Cocktailbars sind überfüllt. Letzte Besucher entströmen der Klassikerausstellung mit Schiele, Klimt, Gerstl im Museum Leopold oder Isa Genzkens wunderlich schönen Assoziationsräumen in der Kunsthalle. Direkt daneben füllt sich unterdessen ein Theatersaal, draußen zeigt das Thermometer 35 Grad im Schatten, drinnen läuft leise die Klimaanlage.
Doch rasch wird es noch erheblich kühler. Denn man gibt die "Winterreise", Franz Schuberts 24-teiligen Liederkranz mit seinen lunaren Stimmungen voller Sehnsucht, Melancholie und Wut. Bariton Matthias Goerne singt den Zyklus mit größtmöglicher Distanz zum arg akademischen Dietrich Fischer-Dieskau. Goerne gerät bisweilen ins Laute und Grobe, was man durchaus als existentielle Sinnsuche verstehen darf. Am Flügel begleitet ihn Markus Hinterhäuser, aktuell Intendant der Wiener Festwochen, ab 2017 Chef der Salzburger Festspiele. Hinterhäuser nimmt sich zurück, lässt Goerne breiten Raum. Statt prätentiöses Prankentheater zu veranstalten, gestaltet er feinste Übergänge, konzentriert sich auf Details, ohne den großen Bogen zu verlieren. Neben den Solisten steht eine Wand voller Zettel, Plakate, Blätter, einige liegen am Boden.
Die Wand ist vor allem Projektionsfläche für den südafrikanischen Künstler William Kentridge, der zu jedem Lied einen Film beisteuert, vorwiegend handelt es sich um schon vorhandenes Material, das Kentridge neu arrangierte und komponierte. Sein Markenzeichen sind ja hingetuschte Miniszenerien, Kreidezeichnungen, Schattenbilder, Scherenschnitte. Keineswegs bebildert Kentridge nun Schuberts Trauerklage, vielmehr schafft er ein sehr eigenes Resonanzfeld, politische Motive tauchen darin ebenso auf wie rasch sich wandelnde Frauenfiguren oder der Künstler selbst. Wie bei manchen von Alexander Kluges filmischen Opernexpeditionen überfordert das den Zuschauer kreativ, er muss das Gehörte mit dem Gesehenen ständig neu ausbalancieren. Das Experiment gelingt, der Applaus ist enthusiastisch.
Spirituelle Tiefendimension ist spürbar
Markus Hinterhäuser liebt solche Grenzüberschreitungen, die niemals mit Provokation zu tun haben, sondern immer einer Sache verbunden sind. Er trat heuer nochmals als – phänomenaler – Pianist auf, bei einem Konzertmarathon rund um die russische Komponistin Galina Ustwolskaja. Diese hinterließ ein sehr knappes Œuvre, viele ihrer Stücke sind kurz, aber heftig und besitzen eine sofort spürbare spirituelle Tiefendimension.
Von großem Mut zeugte Hinterhäusers Entscheidung, dem italienischen Künstler Romeo Castellucci Christoph Willibald Glucks "Orfeo er Euridice" anzuvertrauen. Castellucci verknüpft die mythische Hadesreise mit einem sehr realen Trip in andere Welten: eine Wachkomapatentin wird live per Video zugeschaltet. Die Reaktionen von Besuchern und Kritik waren in der Mehrzahl euphorisch.
Auch im von Frie Leysen kuratierten Schauspielprogramm fanden sich heuer viele tiefgründige Projekte, von asiatischem Minimalismus (Tsai Ming-liang) über üppiges Bildertheater (Ho Tzu Nyen) bis zu aufregenden Begegnungen zwischen Barock und elektronisch aufgerüsteter Gegenwartsmusik (bei "Coup Fatal", wiederum eine Orpheus-Variante).
Mit Markus Hinterhäuser ist auch auf anderer Ebene ein neuer Geist eingekehrt. Es gibt eine Festwochenlounge, wo sich Publikum und Künstler ungezwungen treffen können, sämtliche Premierenfeiern sind erstmals öffentlich. So gehen höchste Konzentration und Spannung in den Aufführungen mit "demokratischer" Entspannung einher, auch den momentan krisengeschüttelten Salzburger Festspielen dürfte Hinterhäusers Handschrift gut tun.