Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff: "Von oben"

Schreibend die Angst vorm Tod überwinden

11:35 Minuten
Bei einer Lesung in der Akademie der Künste wendet sich Sibylle Lewitscharoff lächelnd ihren Mitstreitern auf der Bühne zu.
Sibylle Lewitscharoff bei einer Lesung in der Akademie der Künste. © Imago / gezett
Sibylle Lewitscharoff im Gespräch mit Joachim Scholl · 14.10.2019
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Die Seele eines Philosophieprofessors, die über Berlin schwebt: Das ist die Hauptfigur in Sibylle Lewitscharoffs "Von oben". Der Roman stellt die ganz großen Fragen: über das Leben und das Sterben, über Sünden, Seelen – und alles dazwischen.
Joachim Scholl: Wir freuen uns jetzt auf eine Schriftstellerin, die zu den prominentesten in Deutschland gehört, Sibylle Lewitscharoff ist zu Besuch mit ihrem neuesten Roman. "Von oben" heißt er kurz und knapp. Guten Morgen, willkommen!
Sibylle Lewitscharoff: Guten Morgen!
Scholl: Wir schauen mit Ihnen jetzt hinauf zum Himmel über Berlin, könnte man sagen, denn da schwebt, kreist Ihr neuester Held, der Ich-Erzähler, er ist eigentlich schon tot, aber irgendwie scheint es auf dem Weg nach oben steckengeblieben. In was für einem Zustand ist er denn, dieser Held?
Lewitscharoff: Er betreibt oder wird betrieben oder getrieben von einer einsamen Seelendrift und ist natürlich entsetzlich unglücklich, weil er mit keinem anderen Toten kommunizieren kann. Das heißt, er ist in einer schrecklichen Einsamkeitsfalle gefangen.
Scholl: Am Anfang des Buches wissen wir als Leser fast nichts über ihn und über diesen Erzähler, der da zu uns spricht. Dann findet der Erzähler aber selbst in seinem Schwebezustand immer mehr über sein vergangenes Leben heraus. Wie würden Sie ihn denn beschreiben, so als Charakter?
Lewitscharoff: Na ja, also ein kleiner Zampano, sehr energisch, sehr sich auf das Durchsetzen konzentrierend und Philosophieprofessor, ein ehemaliger, aus sehr, sehr kleinen Verhältnissen, der natürlich auch ein sehr typisches Aufsteigerschicksal hat, sich durchsetzen zu müssen, und er hat einen großmütigen, großgewachsenen, sehr schönen argentinischen Freund an seiner Seite, den er herzlich liebt. Das ist schon so ein bisschen wie Pat und Patachon, auf ganz anderen Wegen natürlich sind die beiden unterwegs.
Scholl: Was hat Sie denn jetzt aber an dieser toten Perspektive gereizt?
Lewitscharoff: Ach, die reizt mich generell. Also ich habe ja lange über Dante gearbeitet. Ich kenne andere Bücher. Also das Thema, aus dem Totenreich herauszuschreiben, hat mich immer schon fasziniert.

Literatur als Selbstbefreiung

Scholl: Ich meine, der Tod und die Seele, die kehren als Motive in Ihrem Werk immer wieder, also Kenner und Leser von Sibylle Lewitscharoff, die sagen jetzt, ja, kein Wunder, zum Beispiel, wenn man an den Roman "Apostoloff" denkt, mit dem Sie vor zehn Jahren den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen haben. Da bringen zwei Schwestern die Urne ihres verstorbenen bulgarischen Vaters in dessen Heimat. Das ist tragisch und saukomisch zugleich. Wie hat sich denn so die Auseinandersetzung mit dem Tod im Lauf der Jahre so mit den verschiedenen Büchern verändert, weiterentwickelt, was würden Sie sagen?
Lewitscharoff: Na ja, es ist stärker auch ins humoristische Fach geraten. Das ist bei dem neuen Buch weniger der Fall im Übrigen. Vielleicht auch, um die eigene Todesangst zu bannen, schreibe ich gerne darüber. Das macht ja schon mal sehr frei. Ich würde auch sagen, es hat vielleicht auch einen biografischen Hintergrund, dass mich als Elfjährige der Tod, der Suizid meines Vaters sehr erschreckt hat, und ich denke, dass das kein Wunder ist, dass ich um dieses Thema, nicht des Selbstmordes so sehr, kreise, aber um den Tod kreise. Literatur hat ja das Vermögen, einen zu befreien. Das ist das Schöne daran, dieses Spielerische an der Literatur. Das ist für mich eine große – jenseits vom Können oder vom Interesse – Selbstbefreiung immer gewesen.
Scholl: Der Erzähler ist auch literarischer Kopf. Da kommen wir noch drauf, aber er ist zunächst ja mal ein Denker, Philosophieprofessor, Sie nannten es schon, wo Tod ja dann doch immer auch die großen transzendentalen Fragen mit sich bringt. Wie denkt er denn, der Professor Emeritus jetzt eigentlich über das Leben, über den Tod und natürlich über die Frage vielleicht Gott, ewige Seele, Himmel?

"Das ist nicht reiner Heidegger, das ist Lewitscharoff!"

Lewitscharoff: Na ja, in der Philosophie ist das kompliziert, würde ich sagen. Also da hat sich natürlich Heidegger weit aus dem Fenster gelehnt, und ich habe natürlich, also ein bisschen – das kann man ja im Roman ja nun nicht bis zur Vollendung führen – ihn natürlich auch als einen etwas kuriosen Heideggerianer der etwas minderen Sorte beschrieben, der auch durchaus darüber Witze machen kann. Das ist ja teilweise auch wirklich komisch.
Scholl: Da gibt es zum Beispiel das Seinsgüggeli.
Lewitscharoff: Das Seinsgüggeli!
Scholl: Was ist denn das noch mal?
Lewitscharoff: Das ist eine schweizerische Worterfindung, das heißt also eine kleine Seinskapsel, in dem das kondensierte Sein steckt.
Scholl: Das ist auch frei nach Heidegger, oder?
Lewitscharoff: Nein, das ist nicht reiner Heidegger, das ist Lewitscharoff!
Scholl: "Von oben" ist aber auch ein Roman, der ja nicht nur die großen Fragen nach Tod und ewigem Leben diskutiert oder zumindest reflektiert, der auch durchaus so das aktuelle politische Geschehen streift und auch ein bisschen kommentiert, wenn der Erzähler zum Beispiel Angela Merkel am Küchentisch sitzen sieht oder in der "Tagesschau" einen Beitrag über die Flüchtlinge sieht, die aus Honduras in die USA einwandern wollen. Was war Ihnen daran wichtig, dass so ein Geist sozusagen alles sieht, auch diese Dinge?

"Ganz harte Sado-Schuppen"

Lewitscharoff: Na ja, es war für mich eigentlich ein sehr neues Experiment. Ich habe ja immer bisher Bücher geschrieben, die man zeitlich nicht so haarscharf verorten kann. Also zumindest sie spielen natürlich in der modernen Welt, aber welches Jahr oder wann oder wie spielt eigentlich keine Rolle. Diesmal ist es aber ganz klar, also sozusagen fast monatsgleich. Ich habe auch noch nie über Berlin geschrieben, ich dachte immer Totholz, da lebe ich, da muss ich nicht drüber schreiben, aber das ist diesmal ganz anders gekommen, und ich hatte einfach vielleicht doch Spaß an der neuen Aufgabe. Also ich habe selber drüber gestaunt, dass ich ausgerechnet Berlin als Schauplatz wähle.
Scholl: Man darf nicht zu viel verraten, weil es sind wirklich etliche, sehr originelle und drollige Stellen auch in dem Buch. Also ein Kapitel, da gibt es zum Beispiel einen Workshop, in dem Frauen ein kollektives Lachtraining absolvieren, da schwebt der Professor drüber, oder noch besser: ein Sadomaso-Studio, wo es Frühbucherrabatt gibt. Da müssen Sie selber lachen! Wie sind Sie denn auf sowas gekommen?
Lewitscharoff: Ja, ich hatte einen tollen Gewährsmann, wunderbar. Dem ist der Roman auch gewidmet, ein Organist, ein sehr begnadeter Musiker, der einen Kirchenchor leitet, und da war da eine Dame drin, die diese Schuppen frequentierte. Das sind übrigens ganz harte Sado-Schuppen auch, da geht es richtig zur Sache. Er hat sie für mich ein bisschen interviewt, ich kenne ihren Namen nicht, das ist vollkommen anonym alles, aber er hat mir sozusagen ein wunderbares Band mit dem Interview geliefert. Dachte ich, na ja, das muss ich ja machen. Ich war da ja selber nicht drin. Das ist würzig, kann man sagen, das ist echt würzig.
Scholl: Wissen Sie, wenn man das liest, denkt man wirklich, Frau Lewitscharoff ist auf die Pirsch gegangen, weil das sind so Insiderinformationen. Also da haben Sie einen vorgeschickt sozusagen.
Lewitscharoff: Ja. Ich hatte ein tolles Interview bekommen, und, wie gesagt, es ist anonym, ich weiß nicht, wer es ist, will es auch gar nicht wissen, aber interessant.
Scholl: Einiges an Literatur steckt da auch in diesem Roman. Sie sagten, vorhin schon haben Sie Dante erwähnt, Sie haben sich viel mit seiner "Göttlichen Komödie" beschäftigt, mit dem Autor sich intensiv auseinandergesetzt. In der Literaturgeschichte hat dieses Erzählen aus dem Totenreich ja durchaus Tradition. Was waren denn da so Bücher, die Sie inspiriert haben, die Sie noch inspiriert haben? Am Anfang wird ein brasilianischer Autor im Motto zitiert.
Lewitscharoff: Ja, das ist ein witziger Vogel. Der ist wunderbar. Der ist übrigens ein ganz besonderer Autor, den kann ich nur sehr empfehlen, das ist ein brasilianischer Autor des 19. Jahrhunderts und eigentlich der erste schwarze Autor, der wirklich Weltberühmtheit erlangt hat, und der ist klasse.

Bezüge zu Kafka und Machado de Assis

Scholl: Ich wollte mich jetzt gerade ein bisschen drücken vor dem Namen, Joaquim Maria Machado de Assis.
Lewitscharoff: Ja, und er ist ein koboldhafter Autor. Der ist sehr, sehr witzig. Übrigens kam der zu hohen Ehren, der war für Brasilien im hohen diplomatischen Dienst auch in Frankreich, und das war für einen Schwarzen oder so Halbschwarzen – es war so ein bisschen gemischt – eine irrwitzige Karriere im 19. Jahrhundert, die der Mann durchlaufen hat.
Scholl: Und dieses Buch, auf das Sie sich da beziehen, das sind, glaube ich, Erinnerungen eines Toten.
Lewitscharoff: Ja, ich würde sagen, das ist ein großartiges Schelmenstück aus dem Totenreich heraus, so wie ein Lumpacivagabundus, der eigentlich nichts Rechtes taugt irgendwie, landet im Totenreich, ist natürlich auch entsprechend verblüfft und schaut natürlich auf sein Leben herab, aber es ist sehr, sehr witzig. Es hat eine ganz andere Richtung als mein eigenes Buch, nur war ich davon sehr animiert.
Scholl: Ein literarischer Bezug, ein deutscher literarischer Bezug ist sehr offenkundig, weil nämlich der Ich-Erzähler sich in einem längeren Kapitel auch sogar mit dem Jäger Gracchus vergleicht, dieser berühmte Figur von Franz Kafka, der seit Jahrhunderten auf einer Barke fährt, aber nicht im Totenreich ankommen kann. Was fasziniert Sie an dieser Erzählung, offensichtlich von Kafka, und diesem Zusammenhang, den Sie da stiften?
Lewitscharoff: Diese komische Mischung aus tot und nicht tot, das ist ja bei Gracchus genauso. Das passte für mich ganz gut zu meiner Figur ganz einfach, also da und nicht da. Nur Gracchus wird irgendwie auch gesehen. Also das ist bei Kafka dann schon anders, der wird ja vom Bürgermeister hofiert und eingeladen, aber er wird in einer komischen Bahre an Land geschleppt von so einem Totenschiff herunter auch. Umgekehrt hat mich auch immer die Vorstellung des Totenschiffes begeistert, das ist sowas ganz Dolles, also der Totenkahn, der in der griechischen Unterwelt der Totennachen, der in den Hades überführt wird und so weiter. Also das Totenschiff ist auch hier bei Gracchus wirklich Thema.
Scholl: In jedem modernen Mystery-Fantasy-Film sieht man so ein Schifflein über einem See schwimmen.
Lewitscharoff: Sowieso.
Scholl: Sie haben eine schöne Filmanspielung in den Roman eingebaut, "Dead Man" von Jim Jarmusch, das ist ein Film mit Johnny Depp, schon lange her, und der scheint Sie beeindruckt zu haben. Da spielt Johnny Depp, am Ende wird der von den Indianern, glaube ich, in so ein Kanu gesetzt und fährt dann irgendwie auch tot oder leichenblass – ich habe immer noch so ein Bild vor Augen – auf die See.
Lewitscharoff: Als Toter.
Scholl: Als Toter.

Keine Erlösung, ohne dass die Sünde hart besprochen wird

Lewitscharoff: Ja, und das ist ein wunderbarer Film, Schwarzweißfilm, ist einer der besten, den Johnny Depp je gedreht hat, ganz große Klasse. Der hat mich sehr beeindruckt. Das Ganze ist in ein melancholisches Halbdunkel gehüllt, der gesamte Film, und der hat eigentlich schon Todesbotschaften vorher immer auch parat. Das ist eigentlich ein Western im Grunde, aber ein Western ganz besonderer Art.
Scholl: So eine Todesfahrt, Sibylle Lewitscharoff, die macht man natürlich nicht, ohne selber, glaube ich, viel über den Tod nachzudenken. Wie stellen Sie sich den eigentlich selber vor, was da so mit uns passiert? Können Sie es für möglich halten, dass wir vielleicht ja doch in so einer Zwischenzeit steckenbleiben, die Vorstellung, so als Toter über Berlin zu kreisen und dann mal zu gucken, was so los ist mit denen, die übrigbleiben? Ist doch ganz charmant?
Lewitscharoff: Das glaube ich eigentlich nicht, muss ich ehrlich sagen. Das glaube ich nicht, aber ich denke, es gibt vielleicht so ein Zwischenstadium der Aufhellung, was man im Leben getan hat, also das heißt eigentlich des vorbuchstabierten Sündenregisters von höherer Seite aus und durchaus scharf. Ich stell mir das nicht so gemütlich vor, also auch in Bezug auf mein eigenes Leben, da denke ich, das hat durchaus eine harte Befragung verdient auch. Ich kann mir, wenn man jetzt den christlichen oder jüdischen Traditionen folgt, also eine Form der Erlösung nicht vorstellen, ohne dass die Sünde hart besprochen und vielleicht auch gestraft werden muss.
Scholl: Glauben Sie, dass eine solche Prüfung, Ihnen und uns allen, bevorsteht?
Lewitscharoff: Ich versuche an dem Glauben zu haften, vorsichtig ausgedrückt. Meine Seinsgewissheit in Bezug auf den Tod ist natürlich auch schlampig und unsicher, aber im Grunde ist es eine Vorstellung, die mir sehr behagt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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