Schriftstellerin Samanta Schweblin

Die Zerstörung der Normalität

29:53 Minuten
Porträt der Autorin Samanta Schweblin.
Tanzt gern mit dem Leser: Samanta Schweblin. © Imago / Zuma Press
Von Michael Hillebrecht · 30.04.2021
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Sie zählt zu den profiliertesten Autorinnen Südamerikas und lebt seit einigen Jahren in Berlin: Die Argentinierin Samanta Schweblin schreibt Kurzgeschichten und Romane mit einer ungewöhnlichen Mischung aus Doppelbödigkeit und enormer Spannung.
Nur wenige Schritte jenseits des gewöhnlichen Alltags bricht für die Figuren in Samanta Schweblins Werk etwas Abgründiges, Unvertrautes auf. Denn für die Autorin steht fest: "Wir versuchen, jeden Tag normal zu sein, aber Normalität ist reine Fiktion."

Der Tanz mit dem Leser

Der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa bezeichnet Samanta Schweblin als eine der vielversprechendsten Stimmen der spanischsprachigen Literatur. "Schreiben ist für mich immer eine Art Tanz mit dem Leser," erzählt sie in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg bei einer Tasse Tee. "Wie bei jedem Tanz gibt es zwei Personen, die sich gleichzeitig bewegen, und in dem Moment, in dem einer seinen Fuß auf dieselbe Stelle wie der andere setzt, ist der Tanz vorbei. Und genau das erzeugt so viel Spannung."
2012 kam Schweblin auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für ein einjähriges Residenzstipendium nach Berlin. Die erste Zeit in der Stadt war nicht frei von Überraschun-gen - wie beispielsweise der FKK-Strand am Strandbad Halensee. "Ich komme aus einer Kultur, in der es inakzeptabel ist, Großeltern und Kinder nackt zusammen spielen zu sehen", sagt sie. Sie fragte sich damals, warum niemand die Polizei rief.
Inzwischen bewertet Schweblin dieses Erlebnis anders, schreibt es ihren eigenen Vorurteilen zu, dass sie diese Situation für so bedenklich hielt. Es sind Ereignisse wie diese, die Samanta Schweblin literarisch inspirieren, die "Irritation" kann geradezu als Stilelement ihres Schreibens bezeichnet werden.
"Mich interessiert besonders, was Normalität bedeutet", erzählt sie. "Dabei handelt es sich natürlich um ein soziales Konstrukt, das keinem so richtig nützt und an dem wir auch alle manchmal leiden. Und dennoch bleibt diese Idee des Normalen so bestimmend für uns. Es reizt mich, die Normalität zu zerstören."
Ein Dorf, in dem von einem Tag auf den anderen alle Kinder spurlos verschwinden, ein schüchterner Künstler, der plötzlich zu brutalen Gewaltausbrüchen neigt, eine ältere Frau, die anfängt, kleine, scheinbar unbedeutende Gegenstände aus den Häusern reicher Leute zu stehlen – in Samanta Schweblins Erzählungen kann sich schnell alles ändern. Sie wolle die Leser und Leserinnen verunsichern und zugleich die Intensität der Lektüre steigern, sagt die argentinische Autorin:
"Wenn ich schreibe, ist es für mich sehr wichtig, schnell eine große Spannung zu erzeugen. Die Leser sind dann offener für das, was geschieht, und kommen gar nicht dazu, vorschnelle Urteile zu fällen. Es geht aber nicht um die Spannung eines Thrillers oder Horrorfilms, das ist viel existenzieller."

Fragile Welten

In Argentinien wurde Samanta Schweblin zu Beginn der 2000er-Jahre mit ihren phantastisch anmutenden Kurzgeschichten bekannt. Im Laufe ihres Lebens wurde ihr Heimatland immer wieder von Wirtschaftskrisen heimgesucht. Und so verwundert es kaum, dass Schweblin in ihren Texten meist sehr fragile Welten entwirft, wie sie sagt:
"In der Literatur kannst du deinen schlimmsten Ängsten ins Gesicht schauen, dich bewähren und Entscheidungen treffen. Du kannst dir Fragen stellen wie: Was würde ich machen, wenn mir etwas Ähnliches passieren würde?"
Samanta Schweblin vermutet, dass das Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion in ihren Texten auch biografische Gründe hat: In ihrem Geburtsjahr 1978, und noch bis 1983, herrschte in Argentinien eine Diktatur. Tausende Regimegegner starben oder verschwanden spurlos in den Kerkern der Militärjunta.
"Ich war ein kleines Kind und kann mich kaum an diese Zeit erinnern", berichtet sie. "Aber vielleicht hat man ja doch etwas mitbekommen. Da ist diese Erinnerung: Mit fünf oder sechs Jahren sehe ich das entsetzte Gesicht von jemandem, der in einem Auto eingesperrt ist. Jemand wird gewaltsam weggebracht."

Eine Atmosphäre des staatlichen Terrors

Es sind diese unverarbeiteten Erinnerungen an eine Atmosphäre des staatlichen Terrors, glaubt Schweblin, die für sie selbst und auch für viele andere Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihrer Generation eine bedeutsame Rolle spielen:
"In Argentinien besinnen sich viele Autoren meiner Generation erstmals wieder auf das Monströse, das Düstere, manche auf das Phantastische. Sie versuchen damit etwas zu erzählen, das für sie in der Welt des Realen unerklärbar bleibt."
In Berlin entwickelte die Autorin aus der Distanz auch einen neuen Blick auf Argentinien. In ihrem ersten Roman "Das Gift" , erschienen 2015, thematisiert sie die ökologischen Auswirkungen des Sojaanbaus in Argentinien. Das Land gehört zu den größten Sojaproduzenten der Welt, Pestizide werden exzessiv und völlig unkontrolliert eingesetzt. Viele Menschen sterben daran.
Schauplatz von "Das Gift" ist ein kleiner Ort in der argentinischen Pampa, weit weg von Buenos Aires. Samanta Schweblin sagt über die Handlung: "Eine Mutter verbringt mit ihrer Tochter die Sommerferien auf dem Land. Es ist ein Roman über die Rolle als Mutter und über die Frage: Kümmern wir uns um das, was wir lieben, oder vernachlässigen wir es? Das kann ein Kind sein, aber auch die Umwelt."
In dem kleinen Ort häufen sich Hinweise auf unerklärliche Krankheiten, vor allem Kinder scheinen davon betroffen zu sein. Eine unheimliche Atmosphäre prägt diesen Roman, in dem Zeitebenen und Räume raffiniert ineinander verschachtelt sind. "Mich interessiert eine Literatur, die weder realistisch noch phantastisch ist. Spannend ist das, was dazwischen liegt", sagt Schweblin.

Plüschtiere und Computer

Ihr neuer Roman "Hundert Augen" spielt gleichzeitig in beinahe 20 Städten, die über die ganze Welt verteilt sind. Ein Roman, der auf beeindruckende Weise zeige, was die digitale Technik mit uns macht, lobte die Kritik. Verbindendes Element des Romans ist ein fiktives, technisches Spielzeug namens Kentuki. Damit können Menschen, die einander nicht kennen, über das Internet miteinander in Kontakt treten.
Die Verbindung zwischen einem Kentuki und seinem Nutzer ist voreingestellt und lässt sich nicht verändern. Schnell werden die Kentukis zu so etwas wie Haustieren, obwohl ihre Besitzer nicht wissen, wer sie durch die Kameraaugen des Plüschtiers beobachtet. Bei den Nutzern, die von ihrem Computer aus einen Kentuki steuern, werden oft unerwartete Emotionen freigesetzt.
"'Hundert Augen' ist ein Buch über das Begehren, über Voyeurismus, über Ängste und über die Einsamkeit", erzählt Schweblin. "Es ging mir nicht um die Technologie an sich, sondern darum, welche Probleme zwischen den Nutzern bei der Verwendung der Technologie entstehen. Nicht die Technologie, sondern unser Umgang damit sollte im Zentrum stehen."

Die Macht des Erzählens

Schon in ihrer Kindheit, erzählt Schweblin, sei ihr bewusst geworden, welchen Einfluss das Erzählen haben kann. Wenn ihre Mutter ihr beim Zubettgehen Gute-Nacht-Geschichten erzählte und sie den Spieß umzudrehen begann:
"Bevor wir zum Ende der Geschichte kamen, wurde ich sehr unruhig und sagte: 'Lass mich den Schluss erzählen.' Und ich fing an, Dinge zu ändern. Wenn zum Beispiel die Figuren in der Geschichte zwischen zwei Alternativen wählen konnten, hatte ich Mamas volle Aufmerksamkeit, und sie war sehr gespannt auf meine Lösung. Diese Aufmerksamkeit war so etwas wie eine heilige Kraft für mich und ich dachte: 'Ich verstehe nicht genau, was für ein Gefühl das ist, aber genau das will ich erreichen.'"
(DW)

Sprecher*Innen: Barbara Gassner, Detlev Eckstein und Silvia Meisterle
Regie und Produktion: Michael Hillebrecht
Übernahme vom ORF

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