Schriftstellerin: Europäische Intellektuelle sollten Stimme gegen Ungarn erheben

Marica Bodrozic im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 04.01.2012
Kroaten fühlten sich schon sehr lange als Europäer, sagt Marica Bodrožić, Berliner Schriftstellerin mit kroatischen Wurzeln. Das liege auch an der geographischen Lage des Landes. Europa könne von Jugoslawien und auch dessen Scheitern einiges lernen.
Stephan Karkowsky: Was denken junge europäische Literaten und Filmemacher über ihr Europa? Wie können sie dazu beitragen, den europäischen Traum zu beleben, trotz aller Schwierigkeiten mit Schuldenstaaten und Euroschwäche. Das fragen wir in dieser Woche in der Serie "Unser Europa". Diesmal eine Autorin und Lyrikerin mit kroatischen Wurzeln, aufgewachsen in einer der seinerzeit liebsten Urlaubsregionen der Deutschen zog sie 1983 nach Hessen. Und heute lebt sie in Berlin: Marica Bodrožić. Guten Tag!

Marica Bodrožić: Guten Tag!

Karkowsky: Am 1. Juli 2013 soll Kroatien der 28. Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden. Freuen Sie sich darüber dann als Deutsche oder als Kroatin?

Bodrožić: Ich habe eigentlich in dem Sinne keine Aufteilung in mir. Diese beiden Identitäten sind, glaube ich, sehr gut zusammengewachsen, aber ich freue mich, wenn Sie so wollen, von beiden Seiten, auch wenn es - die Kroaten haben sehr viel Humor - doch auch sehr interessant und ein bisschen absurd ist, dass sie genau jetzt in die Europäische Union hinzukommen, wo ja alles in diesen fragilen Gebilden dasteht und die meisten Europa eben kritisch gegenüberstehen, aber ...

Karkowsky: Ist es so? Wird in Kroatien derzeit sehr kritisch geredet über Europa?

Bodrožić: Nein, ich meine nicht in Kroatien, sondern in Europa selbst. Die Kroaten selbst fühlen sich, glaube ich, schon sehr lange als Europäer, und wenn man das Land bereist, dann weiß man auch, warum. Aus der westlichen Perspektive sieht das immer so aus, als würde es so an einem europäischen Rand sein, aber die Ränder verschieben sich ja auch immer.

Und das ist ja auch jetzt die aktuelle Situation, die ich sehr interessant finde - um es mal neutral zu sagen -, weil diese mentalen und äußeren Grenzverschiebungen auch immer Situationen sind, in denen neues passieren kann, in der neue Möglichkeiten da sind, auf die Identitäten, auf die Situationen und die Länder anders zu schauen. Und da ist, glaube ich, Kroatien selbst auch sehr gespannt darauf.

Karkowsky: Und es soll ja auch eine Volksabstimmung darüber geben.

Bodrožić: Ja, ich bin auch sehr gespannt, wie die ausfallen wird. Es gibt natürlich in sehr vielen ländlichen Gegenden auch einen ausgeprägten Patriotismus, aber ich glaube, dass die Kroaten auch sich in dieser Situation ernsthaft befragen werden.

Karkowsky: Den Deutschen wird immer vorgeworfen, ein Problem mit Mehrfachidentitäten zu haben, womöglich zu Recht. Wie ist es denn mit Menschen, die aus einem Viel-Ethnien-Staat kommen, wie Sie aus dem ehemaligen Jugoslawien, also einer Miniaturausgabe von Europa?

Bodrožić: Ja, das finde ich sehr schön, dass Sie das sagen, dass es eine Miniaturausgabe ist. Mittlerweile gibt es ja auch Doktorarbeiten darüber, was Europa von dem jugoslawischen Modell - auch wenn es tragisch gescheitert ist - lernen kann. Für mich persönlich ist diese mehrspurige Identität eigentlich immer etwas normales gewesen und ist es auch immer noch. Also auch ohne jegliche Romantisierung, denn ich bin tatsächlich in diesem Jugoslawien groß geworden und habe schon als Kind verstanden, dass die Nationalität oder die eigene Religion sich auch unterordnen können ohne diese Bedeutung für einen selbst persönlich zu verlieren.

Und für mich war das größere meiner Identität eben diese Gemeinschaft, das Jugoslawische. Und dennoch wusste ich immer, ich bin ein katholisches Kind vom Dorf, und meine Eltern sind Kroaten. Das war also kein Widerspruch für mich. Die Idee ist tragisch gescheitert. Ich glaube aber dennoch, dass man einiges davon lernen kann. Die Mehrsprachigkeit war da ja auch vorhanden, die verschiedenen Religionen. Man kann aus dieser Struktur vieles, vieles en miniature, aber auch en grande lernen.

Karkowsky: Aber war Jugoslawien nicht ein durch Zwang zusammengehaltenes Mini-Europa?

Bodrožić: Die Frage ist eben, ob man das anders machen muss und kann, und natürlich sollte man keinen Zwang daraus machen, aber wenn man sich für eine Gemeinschaft entscheidet, für eine Gruppe, in der man wirken möchte, dann muss man natürlich Regeln aufsetzen, und zum Glück haben wir die Möglichkeit, eben das außerhalb einer diktatorischen Idee oder einer zwanghaften Idee zu tun.

Karkowsky: Sie haben Jugoslawien verlassen, da waren Sie zehn Jahre alt und sind dann in ein fremdes Land namens Hessen gezogen. War das entscheidend für Ihre persönliche Entwicklung hin zu einer überzeugten Europäerin?

Bodrožić: Ich glaube schon, durchaus. Zunächst einmal bin ich jemand, der mit einem Dialekt groß geworden ist ...

Karkowsky: Mit dem hessischen?

Bodrožić: ... in Dalmatien zum Ersten, und zum Zweiten dann mit dem Hessischen. Ich habe verstanden, dass Identität etwas mit Sprache zu tun hat, und dass regionale Identitäten immer mit so einem bestimmten Rhythmus oder eben einem Dialekt auch zu tun haben, und dass Sprache all das ausdrückt, was Menschen über sich denken und in sich tragen. Und das ist sozusagen mein erster Berührungspunkt mit der sogenannten Fremde. Und dann ist das natürlich in meiner Biografie zu diesem, wenn man es negativ sagen will, Bruch gekommen, wenn man es positiv sagen will, zu einer neuen Herausforderung gekommen, und die hat durchweg mein Bild auf die Welt und eben ganz konkret auch auf Europa geprägt.

Karkowsky: Nun sucht Europa verzweifelt nach gemeinsamen Wurzeln, nach einer europäischen Identität. Bundespräsident Christian Wulff hat diese Wurzeln in seiner wichtigsten Rede als christlich-jüdische Geschichte bezeichnet, noch bevor er den Islam als zu Deutschland gehörig adelte. Das war sicherlich nicht ganz glücklich formuliert. Sehen Sie denn die Wurzeln Europas auch in der Geschichte seiner Religionen liegen?

Bodrožić: Mir liegt das ein bisschen fern, das über die Religionen zu sehen, weil ich eben auch in meiner Kindheit die Erfahrung gemacht habe, dass Religionen gar nicht so sehr die Menschen bestimmt, wie es zum Beispiel die Kultur oder eine gemeinsame Sprache oder eben ein kultureller Raum machen kann. Natürlich spielt religiöse Identität vielleicht auch eine Rolle für Menschen, die religiös sind, denen das wichtig ist, sollte man auch diesen Platz auch geben, aber ich glaube, dass Europa in dieser mehrschichtigen Identität, in seiner Kultur und in seinen geistigen Räumen zu verorten ist.

Auch wenn jetzt natürlich durch die Finanzkrise, durch diese schwierige Situation auf der Ebene der Ökonomie und der Wirtschaft Lösungen gefunden werden müssen, glaube ich doch, dass man zu den geistigen Ursprüngen zurückkehren sollte im denken. Man muss sich natürlich fragen: Wozu? Wo kommen wir her, was verbindet uns? Was ist eigentlich unser anliegen? Und das kann eigentlich nur in diesen geistig-kulturellen Räumen liegen, auch in der Vorstellung, dass man natürlich durch Visionen etwas erreichen kann.

Wenn wir uns die deutsch-französische Freundschaft anschauen und die diplomatischen Beziehungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, das ist harte Arbeit. Das bedeutet auch, dass man sich etwas vornimmt, dass man gemeinsam auch einen Weg gehen möchte. Und der Weg ebnet sich nicht von alleine, sondern der muss auch gegangen werden, und die Wiederstände müssen auch überwunden werden.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" in unserer Europa-Serie die Schriftstellerin Marica Bodrožić. Frau Bodrožić, die europäische Integration bringt ja auch immer eine Gegenbewegung mit sich. Wir haben jetzt über die Identitäten gesprochen, aber die Gegenbewegung gibt es ja auch, die Regionalisierung. Burgund ist nicht das Burgenland, Galizien in der Ukraine ist nicht Galizien in Spanien, und überall ist man stolz auf die eigene selbsterfahrene Heimat. Wie kann denn da etwas so abstraktes wie Europa zu einer gemeinsamen Identität führen? Es kann ja nicht allein aus der Geistesgeschichte herrühren.

Bodrožić: Das ist natürlich für jemanden, der sich gar nicht aus seiner Region heraus bewegt oder aus seiner Sprache heraus bewegt, etwas abstraktes und schwieriges. Aber ich glaube, dass es sehr viele Menschen auch gibt, die sich bewegen, die natürlich dann auch den eigenen Heimatbegriff, wenn man so will, auch anders besetzen können. Also wenn ich in Amerika bin, dann bin ich definitiv jemand, der aus Deutschland ist oder der in Berlin lebt und der diese Identität für sich hervorhebt.

Karkowsky: Vielleicht hat ja auch die Euro-Zone eine gemeinsame Identität von Euro-Europäern geschaffen. Als Euro-Europäer können wir ja die Probleme der Griechen und der Spanier viel besser mitfühlen in der europäischen Schuldenkrise, anders als etwa die Briten. Glauben Sie, dass diese Schuldenkrise womöglich sogar mehr getan hat für die Einheit Europas als für den Überdruss?

Bodrožić: Ich glaube, das ist wirklich eine sehr wichtige und interessante Beobachtung, eine Frage, der man sich noch intensiver widmen sollte. Es ist ja in einem ganz normalen Leben, aber auch in Gesellschaftsformen, in Umbrüchen immer dieser Moment, wo ein Bruch da ist, ja auch eine sehr, sehr große Chance da, Dinge zu verändern, aber eben auch zu verstehen, wie sehr man aneinander gekoppelt ist.

Und das ist natürlich durchweg negativ, wenn man denkt, dass man es nur wegen der Finanzen ist. Das ist es ja nicht, das war ja eine andere Idee dahinter, und ich glaube schon, dass man die auch verlebendigen kann und auch sollte.

Karkowsky: Und das ist ja eigentlich der Anlass unseres Gespräches gewesen, wie können wir diese Idee wiedererwecken, wie können zum Beispiel auch die europäischen Intellektuellen, die Autoren, die Schriftsteller, die Lyriker, wie können die das Überleben des europäischen Traums befördern? Können die überhaupt eine Idee beflügeln - Sie zum Beispiel -, die von Bürokraten verwaltet wird?

Bodrožić: Ich glaube, dass, sobald man sich auf seine Individualität und auch die Kraft der Persönlichkeit besinnt, kann man das sehr wohl. Zum Beispiel wenn wir schauen, wie das jetzt in Ungarn sich verändert, die Situation dort. Das ist doch sehr beunruhigend, und ich bin fest davon überzeugt, dass Intellektuelle, Schriftsteller, Philosophen da eine Aufgabe haben und eine wichtige Rolle übernehmen können, und dann natürlich auf der politischen Ebene Europa selbst, denn wir können ja nicht wirklich einfach nur so zuschauen wie in Europa.

Also eigentlich dachte ich, es gibt nur noch eine Diktatur in Europa, und das ist die in Weißrussland, und ich hoffe, dass es die bald nicht mehr geben wird. Aber wenn wir sehen, wie sich das in Ungarn verändert, ist das sehr beunruhigend, aber da hat eben Europa, und die europäischen Intellektuellen haben da eine wichtige Rolle und sollten auch ihre Stimmen erheben. Was man nicht mehr zurückdrehen kann, ist, glaube ich, dass die Menschen einfach so schweigen und das so hinnehmen. Und ich finde es großartig, dass die Ungarn demonstrieren und da die Möglichkeiten, die ihnen noch bleiben, auch ausnutzen und benutzen.

Und das ist sicher auch etwas, was Europa schon mit sich gebracht hat, ein Ergebnis dieser etwas größer gefassten Identität und der Möglichkeiten, die eine solche Gemeinschaft im Hinblick auf die Demokratie und das Durchdenken der Demokratie eben gibt.

Karkowsky: "Unser Europa" - Sie hörten Teil drei unserer Serie, heute mit der Berliner Schriftstellerin mit kroatischen Wurzeln Marica Bodrožić. Ihnen vielen Dank!

Bodrožić: Herzlichen Dank!

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