Schriftstellerin Dilek Güngör

Was einen Menschen ausmacht

09:28 Minuten
Dilek Güngör sitzt vor einem dunklen Hintergrund und schaut in die Kamera.
Dilek Güngör schreibt in "Ich bin Özlem" über eine junge Frau, die sich mit ihrer Identität auseinandersetzt. © Ingrid Hertfelder
Dilek Güngör im Gespräch mit Andrea Gerk · 11.03.2019
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In "Ich bin Özlem" schreibt Dilek Güngör über ihr Lebensthema "deutsch-türkische Identität". Innerlich habe sie jetzt eine Etappe geschafft, sagt sie im Gespräch − doch sie ist frustriert, dass die Herkunft nach wie vor eine große Rolle spielt.
Andrea Gerk: Was uns als Personen eigentlich ausmacht, darüber wird in Zeiten eines neuen Nationalismus diskutiert. Die Frage spielt auch in die Genderdebatten mit hinein – und sie ist natürlich ein großes Thema, wenn es um Migration und Integration geht.
Die 1972 in Schwäbisch-Gmünd geborene Journalistin und Autorin Dilek Güngör hat sich als Kolumnistin unter anderem für die Berliner und die Stuttgarter Zeitung einen Namen gemacht und 2007 ihren ersten Roman, "Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter", veröffentlicht. Jetzt ist ihr neues Buch erschienen, "Ich bin Özlem" ist der Titel.
Ihre Hauptfigur, die Ich-Erzählerin Özlem, das ist ja eine schöne, junge Frau, sie hat Kinder, einen Mann, nette Freunde. Aber irgendwas zerreißt sie innerlich, es ist so das Echo ihrer Herkunft. Der Satz, meine Eltern kommen aus der Türkei, der geistert da immer durch. Ich habe mich gefragt, wie man das eigentlich beschreiben kann für die Hörer, was das bei Özlem auslöst, dieser Satz.
Güngör: Also, sie merkt ganz lange nicht, dass sie sich selbst ständig mit diesem Satz vorstellt, wenn sie neue Leute kennenlernt, dass sie denkt, dass, wenn sie diese Information nicht dazu gibt, dass ihre Eltern aus der Türkei kommen, dass man sie als Person und alles, was sie erlebt hat, überhaupt nicht verstehen kann. Und dass es quasi eine Zusatzinformation ist, die notwendig ist, um überhaupt mit ihr ins Gespräch kommen zu können.
Bis ihr irgendwann aufgeht, dass das eigentlich total merkwürdig ist und wieso das für sie der Anfangspunkt ihres Selbst ist.

Deutsch sein lässt sich schwer definieren

Gerk: Das fand ich auch toll an dem Text, dass es eigentlich ja sehr darum geht, was die Özlem sich selbst dauernd für Zuschreibungen anzieht, also, es geht einerseits darum, natürlich, wie guckt die Umwelt auf sie. Die Freundin, die sagt einmal, für mich bist du gar keine richtige Türkin. Aber interessanter fand ich, wie sie selbst, was sie eigentlich da macht mit ihrer Identität. Das ist schon so ein Wechselspiel auch aus beidem, oder?
Güngör: Das lässt sich auch gar nicht klar umreißen. Ich finde, das umfasst so viel. Ich würde mir wünschen, man könnte sagen, ich bin Deutsche, und das würde alles umfassen, was man ist. Aber jeder Begriff hat ja irgendwo auch seine durchlässigen Grenzen. Also hat sie diese Erklärung, meine Eltern sind aus der Türkei, das sind wie so wabernde Blasen, die so ineinander gehen und sich dann vereinen. Das lässt sich gar nicht so klar abgrenzen.
Und was kann ich selbst nach außen geben, was mache ich aber, wenn die anderen kommen und sagen, du bist für mich gar keine Türkin? Dann muss man sich fragen, was ist denn für dich eine Türkin – es ist so ganz schwierig abzugrenzen.
Gerk: Und sie spielt aber ja auch dauernd damit. Gleich am Anfang kocht sie da für ihre Freunde und macht sich Gedanken darüber, was das eigentlich ist mit diesem Kochen, die Nahrung spielt ja irgendwie eine große Rolle. Also, sie kann sich auch gar nicht selbst einfach davon lösen und sagen, ja, ich bin halt jetzt, wer ich bin, sondern sie muss auch dauernd mit diesem Erbe umgehen.
Güngör: Ich glaube, dass es unheimlich schwer ist, zu sagen, ich bin der, der ich bin. Özlem hat quasi immer so im Nacken noch mal so eine zweite Stimme sitzen, die auch bewertet und kommentiert und beurteilt, was Özlem macht.
Also, sie kocht und sie erinnert sich an die Kochszene oder an Momente in der Küche mit ihrer Mutter, an Momente beim Essen mit Verwandten. Es läuft quasi zu der aktuellen Situation, da läuft immer noch so ein Nachdenken mit.

Frage nach der Herkunft ist nicht immer abwertend

Gerk: Genau, das macht das auch spannend, da kommt zum Beispiel an einer Stelle, über die habe ich auch schon oft nachgedacht, da fragt einer der Freunde, was soll man denn eigentlich fragen, wenn man jetzt wissen will, woher jemand kommt. Und wir haben da vorhin auch noch drüber gesprochen, da ist ja eine große Verunsicherung inzwischen.
Wenn ich jetzt jemanden treffe, der zum Beispiel einen hessischen oder bayerischen Akzent hat, oder einen neuen Kollegen frage ich ja auch, wo kommst du denn eigentlich her, wenn er offensichtlich nicht hier aus Berlin ist. Was ist da eigentlich der Unterschied?
Güngör: Also, ich frage das auch ganz oft, vor allem, wenn ich da so einen Zungenschlag höre oder ich höre da so ein Schwäbisch raus, dann möchte ich wissen, kommt der daher, wo ich auch herkomme und hat man irgendeine Gemeinsamkeit. Das ist ja eine Neugierde, man versucht vielleicht gar nicht so sehr, den anderen in so Kategorien einzuordnen, sondern zu gucken, haben wir ähnliche Erlebnisse gehabt.
Aber dieses Fragen ist wirklich eine sehr heikle Sache. Es gibt Leute, die sind darüber sehr schnell sehr empört, die sagen, das geht dich überhaupt nichts an und warum ist das wichtig. Ich glaube, es ist immer der Tonfall und die Intention. Also ich störe mich manchmal auch gar nicht daran, wenn jemand zu mir sagt, ach, Sie sind aus der Türkei. Und dann gehe ich manchmal darüber hinweg, weil es in dem Moment keine Rolle spielt. Und ich merke an der Art zu fragen, dass das nichts Abwertendes oder nichts Böses hat.
Es kann aber sein, jemand sagt zu mir, Mensch, das ist ja allerhand, was Sie alles schon geleistet haben, Sie sind sogar Autorin – und da kommt ja irgendwo eine Zuordnung, also mit Worten, findet da gar nicht statt. Und trotzdem weiß man ganz genau, der will dich da gar nicht haben. Also, das ist eine ganz vielschichtige Angelegenheit.
Gerk: Ich wollte grade sagen, da kommen ja auch so verschiedene Parameter zusammen. Zum Beispiel gibt es eine Szene in dem Buch, da ist die Erzählerin mit Freunden an die Ostsee gefahren und steht vor so einem Wäscheschrank, wo so kostbare, schwere Bettwäsche drin ist, die schon über Generationen da angeschafft wurde.
Und dann denkt sie quasi über ihre kleinbürgerliche Herkunft nach. Und das ist ja auch, was man jetzt wiederum herkunftsunabhängig auch hat, also, da kommt ja auch noch ein Schichtenproblem dazu. Wird da nicht auch vieles einfach vermischt oder ist alles komplexer, als wir denken?
Güngör: Es ist viel komplexer. Dass Özlem eine Frau ist, spielt eine Rolle. Sexismus spielt eine Rolle, die Klassenzugehörigkeit spielt eine Rolle. Und das wollte ich eigentlich auch aufzeigen, diese ganze Bandbreite, was eigentlich zu einer Person alles dazugehört.
Und deshalb ist man manchmal auch gar nicht so böse, wenn jemand dieses Türkischsein oder nicht Türkischsein falsch einordnet, weil trotzdem ein gemeinsamer Boden oder ein gemeinsames Fundament da ist, weil das ist dann irgendwie nur ein Teil des Ganzen.

Es gibt mehr als die Kategorien Deutsch und Türkisch

Gerk: Wie haben Sie selbst es denn erlebt, Sie sind ja selbst in Schwäbisch-Gmünd geboren, ich habe das schon gesagt, als Kind eben türkischer Eltern. Wie haben Sie sich da gefühlt, was haben Sie da so erlebt?
Güngör: Ich glaube, ich habe das selber sehr kategorisch sortiert immer in Deutsch und Türkisch, bis mir aufgegangen ist, wie vielschichtig das eben ist und dass es nicht nur, dass das, was ich erlebe, zum Beispiel, dass ich um zehn zu Hause sein muss mit 16, dass das nichts damit zu tun hat, dass wir aus der Türkei kommen, sondern dass meine Freundinnen auch alle um zehn zu Hause sein müssen.
Das geht einem erst so nach und nach auf, aber für mich gab es diese Kategorie Deutsch und Türkisch und da habe ich alles so schön sortiert, bis mir das alles auseinandergefallen ist irgendwann.
Gerk: Aber das ist schon Ihr Lebensthema, Sie schreiben ja auch in Ihren Kolumnen viel über den deutsch-türkischen Alltag, ich weiß schon gar nicht, wie ich das sagen soll, aber das bestimmt Sie auch.
Güngör: Das ist total mein Lebensthema, wobei ich mit diesem Buch jetzt das Gefühl habe, ich habe jetzt wirklich so eine große Etappe geschafft, für mich innerlich, und dachte ich, jetzt kannst du auch Liebesromane schreiben.

Unzufrieden, dass die Herkunft immer noch ein Thema ist

Gerk: Sie haben ja mal gesagt, habe ich gelesen, Unzufriedenheit sei Ihr Antrieb. Womit sind Sie denn besonders unzufrieden, auch in Bezug auf dieses Thema?
Güngör: Ich bin, glaube ich, darüber unzufrieden, dass es einfach immer noch ein Thema ist. Das Buch ist jetzt, man könnte meinen, das passt total gut zur aktuellen Debatte, aber es hätte vor zehn Jahren auch gut zur aktuellen Debatte gepasst.
Also, ich habe das Gefühl, wir wiederholen uns, und gerade für Leute wie uns ist dieses Hashtag Herkunft, darf man fragen, woher jemand kommt, das sind wirklich uralte Sachen. Wir haben uns da schon tausendmal erklärt, das ist nichts Neues, ist die Integration gescheitert oder nicht, also da gähnen wir bloß noch.
Gerk: Sie beschreiben das ja jetzt in dem Roman wirklich sehr schön auf so einer individuellen Ebene, wo man auch sich sofort identifizieren kann, das ist so ein aufgeklärtes Akademikermilieu, wo man sich auch oft ertappt fühlt. Aber was müsste denn, wenn man von dem Individuellen weggeht, gesellschaftlich passieren Ihrer Meinung nach, damit diese öden Wiederholungen mal aufhören?
Güngör: Tja, keine Ahnung. Ich gucke tatsächlich sehr auf das Individuelle, weil ich glaube, das ist der Punkt, wo wir uns verständigen können. Also dieses sich Hineinversetzen in jemanden, das kann ich, glaube ich, nur, wenn da keine Anklage ist und wenn da kein Vorwurf ist und wenn da kein Beschämen des anderen ist, sondern: Schau mal, ich fühle mich so. Ich glaube, da kann der andere viel besser andocken und viel besser mitfühlen, ohne dass man dann irgendwie an ihn appelliert, sein Verhalten zu ändern, als mit einem Vorwurf.
Gerk: Also einfach mit einer echten Neugier aufeinander zugehen …
Güngör: Ja! Und vielleicht, also, vielleicht ist es auch naiv, zu denken, es muss im Kleinen anfangen, aber es muss auch im Kleinen anfangen, es muss auch im Miteinander funktionieren.
Gerk: Der Roman, über den wir gesprochen haben, ist unter dem Titel "Ich bin Özlem" beim Verbrecher Verlag erschienen, hat 160 Seiten und kostet 19 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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