Schriftsteller Zafer Şenocak

"Berlin könnte mehr als das Kiezdenken"

Der Publizist Zafer Şenocak
Der Publizist Zafer Şenocak © Deutschlandradio / Torben Waleczek
Zafer Şenocak im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.01.2019
Berlin habe große Schwierigkeiten, eine Weltstadt zu werden, meint der Autor Zafer Şenocak: Seine Bewohner hätten das Kiezdenken auf die Identitäten transportiert. Es sei wichtig, dass Menschen ihre "Sprachtür" öffnen, anstatt Fremdheitsdebatten zu führen.
"Joachim Scholl: Zafer Şenocak ist Jahrgang 1961, kam als kleiner Junger mit seinen Eltern nach Deutschland, wurde hier zum Schriftsteller, über 20 Bücher hat er inzwischen geschrieben, Gedichte und Romane. Das Neueste ist aber ein Sachbuch: "Das Fremde, das in jedem wohnt: Wie Unterschiede unsere Gesellschaft zusammenhalten". Willkommen in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur, guten Tag, Zafer Şenocak!
Zafer Şenocak: Hallo, schönen guten Tag!
Scholl: Ihr Buch, das ist eine intensive Reflexion über Ihre eigene Identität, aber man hat beim Lesen auch den Eindruck, da ging Ihnen was gehörig gegen den Strich, so als ob Sie sich gesagt hätten, angesichts unserer aktuellen Diskussion über Migration, Integration, also über das Fremde, das reicht mir jetzt, ich muss jetzt mal was loswerden. War das so?
Şenocak: Im Grunde genommen ist es ja ein Buch der Geschichten. Es werden ja Geschichten erzählt, und über diese Geschichten kommt vielleicht so eine Art Puzzle, von dem man sprechen könnte, weil ich Identitäten immer als Puzzle wahrnehme. Es ist wie ein Puzzlespiel, und es ist ein Buch, das gegen die Fixierung von Form anschreibt, glaube ich. Das habe ich auch versucht formal zu bearbeiten. Es ist ja eigentlich ein Zwischenbuch. Also es hat literarische Passagen, es hat tatsächlich eben auch essayistische Passagen, nachdenkliche Passagen, analysierende Passagen, beobachtende, aber es ist ein Ganzes, das eben auch ein Manifest ist. Das stimmt. Ein Manifest gegen die Zeit, gegen den Eindruck, dass in dieser Zeit etwas schiefläuft.
Scholl: Es ist ein Buch auch über die Sprache, über Ihre Sprache, und auch über unseren – ich nenne ihn jetzt mal – unseren aktuellen Imperativ in der Integrations- und Migrationsdebatte, der lautet nämlich: Spracherwerb. Fremder, kommst in unser Land, lern sofort unsere Sprache und zwar hopp, hopp, hopp, anders geht Integration nicht. Da sagen Sie, das ist zu kurz gedacht. Warum, Zafer Şenocak?
Şenocak: Weil ich die deutsche Sprache liebe. Das ist mein Ausgangspunkt. Ich bin ja in dieser Sprache großgeworden, auch Schriftsteller geworden, aber ich habe noch eine andere Sprache in mir, und genau darum geht es mir. Diese andere Sprache ist das Türkische, das habe ich nicht verlernt, und ich habe eigentlich keinen Konflikt zwischen diesen Sprachen gesehen. Was ich versuche, ist, eigentlich seit den 90er-Jahren, eine Schreibstrategie zu entwickeln, die da nicht sagt, ich erkläre dir den Fremden, der da draußen steht vor der Tür oder auch … Ich erkläre dir den Fremden in dir selbst. Darum geht es mir. Das ist sozusagen ein Kulminationspunkt dieses Versuchs, dieses Buch, dass ich versuche, die Fremdheit ganz woanders zu sehen und auch dann so zu beschreiben, als wäre es etwas, ein Teil von einem selbst. So ist auch die andere Sprache, diese fremde Sprache, ein Teil von mir und auch ein Teil von Deutschland, und das nehmen wir aber viel zu wenig wahr, und weil wir das zu wenig wahrnehmen, haben wir große fixierte, formale Fremdheitsdiskussionen. Das wollte ich eigentlich brechen.

Erweiterung des Raums

Scholl: Haben Sie den Eindruck, dass sozusagen in unserer Diskussion diese Sprache, die die Fremden – in Anführungszeichen jetzt – mitbringen, dass die zu vernachlässigt wird?
Şenocak: Absolut. Es gibt hier wunderbare Schriftsteller, die in ihren Muttersprachen schreiben, die sind fast nicht bekannt, das ist ein Beispiel, und zwar über Jahre schon. Dabei wird sehr, sehr viel in unsere, also in die deutsche Sprache übersetzt aus den Weltsprachen. Wir haben es aber auch bei uns zu Hause, und das nehmen wir viel zu wenig wahr, und wir nehmen das auch viel zu wenig wahr, dass es eine Chance ist, wenn Menschen sozusagen ihre Sprachtür öffnen zu etwas anderem. Es ist eine Erweiterung des Raums.
Scholl: Sie schreiben sehr zupackend über Ihre eigene Einwanderung, Herr Şenocak. 1970 war das, Sie waren neun Jahre alt. Wie wuchsen Sie denn in die deutsche Sprache hinein? Aus dem Zafer wurde gleich ein bayrischer Xaver.
Şenocak: Ja, ich habe dieses Aufwachsen in die Sprache in meinem vor sechs Jahren erschienenen Buch "Deutschsein" beschrieben, und zwar eine pensionierte Deutschlehrerin hat mir das Deutsch sozusagen in einem Crashkurs in sechs Monaten mehr oder weniger beigebracht, aber mir auch diese Liebe eigentlich gegeben, mit der ich diese Sprache betrachte, die Möglichkeiten der Sprache betrachte. Da bin ich eigentlich sehr froh, dass ich diese Möglichkeit noch ausschöpfen kann.
Scholl: Aber das Türkische, das haben Sie, schreiben Sie auch, immer behalten, und Grund waren auch Ihre Eltern.
Şenocak: Ja!

"Was ist jetzt das Fremde?"

Scholl: Ihre Mutter beschreiben Sie als eine sehr moderne, säkulare, emanzipierte Frau, Ihren Vater eher so als Mann der Tradition, der Religion auch, der Tradition. Also diese Mischung dieser beiden Temperamente hat da wahrscheinlich eine Rolle gespielt.
Şenocak: Da sehen Sie schon die Fremde in einem selbst, also in der Familie, im engsten Kreis. Was ist jetzt das Fremde? Ist das Säkulare das Fremde oder das Muslimisch-Traditionelle das Fremde – das muss erst mal ausdiskutiert, entschieden oder vielleicht auch einfach so gelassen werden, unberührt, und das hat mich immer sehr gereizt. Ich glaube, das ist die Wurzel meines Schreibens überhaupt, diese Differenz. Es ist gar nicht dieser Unterschied zwischen Deutschem und Türkischem, diese großen Identitätsentwürfe, sondern es ist tatsächlich diese Erfahrung in der Familie, in der auch die türkische Sprache immer lebendig geblieben ist.
Scholl: Ich habe mir etliche Sätze aus Ihrem Buch rausgeschrieben, Herr Şenocak. Einer davon lautet: "Die Möglichkeit, Goethe und die deutschen Romantiker mit der Brille der türkischen Sprache zu lesen, löst in mir erst jene Kreativität aus, die mich Gedichte schreiben ließ." Also diese Mehrsprachigkeit ist so bedeutend und entscheidend für Sie gewesen, auch als Schriftsteller.
Şenocak: Absolut. Ich habe auch immer parallel gelesen in den beiden Sprachen und auch parallel geschrieben. Ich habe ja auch Bücher auf Türkisch, die teilweise jetzt übersetzt werden in die deutsche Sprache. Nicht von mir selber. Das ist ein Beruf, das darf man überhaupt nicht unterschätzen. Ich schätze sehr den Beruf des Übersetzers. Das ist eine Kunst auch. Aber diese Berührung zweier unterschiedlicher Sprachnaturen, das sind ja auch wirklich zwei sehr verschiedene Sprachräume, ist ja nicht wie Deutsch und Englisch oder so, sondern das sind natürlich sehr verschiedene Sprachräume, die auch im Kopf etwas anderes auslösen.
Das unterschätzen wir nämlich bei unseren ganzen Diskussionen über die Wanderschaft. Die Menschen nehmen doch ihren Kopf mit. Die lassen das nicht irgendwo draußen stehen und setzen sich ein neues Haupt auf. Nein. Dieses Mitnehmen des Kopfes müssen wir vielmehr genauer anschauen, und dann entdecken wir auch, dass wir auch einen Kopf haben, der sich nach verschiedenen Seiten öffnet, und das ist nicht schlecht.

"Strauß hat Rechtsnationale zur Folklore gemacht"

Scholl: Sie sind jeweils von München dann nach Berlin gewandert später, leben jetzt schon sehr lange in der Hauptstadt, bewahren aber immer noch anscheinend zärtlichste Erinnerungen an München. In einer Passage in Ihrem Buch musste ich wirklich schmunzeln, weil Sie sich da nämlich wörtlich "dankbar" für einen Mann wie Franz Josef Strauß zeigen, weil der nämlich ganz besonders integrativ gewesen sein soll. Ich meine, damals hat noch keiner das Wort in den Mund genommen, vermute ich mal. Was bewundern Sie heute denn noch an FJS?
Şenocak: Ja, und integrativ war Franz Josef Strauß nicht Richtung sogenannte Fremde, also Richtung Türken und so weiter, sondern gegenüber den Deutschen. Er hat nämlich dieses Rechtsnationale integriert, und zwar hat er die Rechtsnationale so integriert – das habe ich ja in diesem kleinen Stück beschrieben –, dass er sie zur Folklore gemacht hat und nicht zu Politik. Das ist der Unterschied zur heutigen AfD, wo dieses Rechtsnationale wieder zu Politik wird, und das ist gefährlich.
Scholl: Aber es ist auch ganz interessant, in welchem Gegensatz Sie dazu zum Beispiel Berlin beschreiben, das sei nämlich überhaupt nicht immer diese vielbeschworene Multikulti-Integrationsstadt, sondern eigentlich eine Riesenblase von abgeschotteten, nebeneinander herlebenden Communitys. Nehmen Sie das so wahr hier in Berlin?
Şenocak: Ja, ich nehme das ein bisschen so wahr. Es ist natürlich jetzt sehr modern, dieses Berlin-Bashing. Da möchte ich eigentlich gar nicht so mitmachen. Ich lebe gerne hier, aber ich sehe, dass diese Stadt große Schwierigkeiten hat, wirklich eine Weltstadt zu werden. Das hat, glaube ich, stark auch mit diesem – was auch immer wieder sympathisch ist –, mit diesem Kiezdenken zu tun, dass man im Grunde genommen das Kiezdenken auch auf die Identitäten transportiert. Natürlich gibt es Szenen in Berlin, die sich sehr wunderbar mischen und auch Neues hervorbringen, kreativ sind, aber die Stadt könnte mehr, und das ist eine Herausforderung sozusagen. Vielleicht ist es auch ein bisschen Nostalgie. Ich bin ja in meinem Freundeskreis ein absoluter Außenseiter mit meiner München-Liebe. Das passt aber ganz gut in dieses Buch, weil es solche widersprüchlichen Borsten sozusagen in sich trägt.

Auflösung des fixen Fremden

Scholl: Lassen Sie uns noch mal auf dieses Motiv Mehrsprachigkeit und der Kultur kommen, Herr Şenocak. Sie kritisieren ja auch, dass das Thema Migration vor allem bei uns soziale Reflexe auslösen würde. Wir würden mit der, so wörtlich, "Arbeiterwohlfahrtsbrille" auf das Thema schauen. Wie sollten wir denn Ihrer Meinung nach hinblicken, also wie das anders besser wahrnehmen?
Şenocak: Sehen Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der Literatur: Die Wanderschaft wird in der Literatur hauptsächlich als die Beschreibung des Anderen, des Fremden wahrgenommen. Durch diese Beschreibung versuchen wir etwas Eigenes zu definieren. Das ist mir zu konservativ, zu einfach gedacht. Ich versuche eigentlich genau die Wanderschaft durch die Auflösung dieses fixen Fremden in uns selbst zu erfahren – das ist für mich eigentlich Literatur. So entstehen diese Texte, die auch hybrid sind. Ich werde oft gefragt: "Das soll ein Sachbuch sein? Ich habe das eigentlich wie einen Roman gelesen!" Da sage ich: Na ja, gut, das ist doch kein Problem. Ich versuche, auch die Genregrenzen anzustrengen, zu übergehen oder auch ein bisschen zu übertreten, und dadurch wird im Grunde genommen diese Angst relativiert, weil die Angst sitzt ja in einem selber, so wie der Fremde in einem selber sitzt.
Scholl: An einer Stelle musste ich auch lachen. Da schreiben Sie von der Türkei, wie Sie als Knirps im Sonntagsanzug ausstaffiert wurden und welche Worte man dem kleinen Zafer damals so eingetrichtert hatte, und da schreiben Sie: "Ich erinnere mich an Vokabeln wie Stolz, Nation, Ehre. In Deutschland vergaß ich diese Wörter. Sie wurden ersetzt durch Milch, Butterbrot, Schokolade." Ich finde das eigentlich ein ganz prima Ersatz, oder?
Şenocak: Wunderbar. Das hat mir auch das Einleben erleichtert. Ich möchte hoffen, dass das heute noch so ist. Das ist die große Frage, ob diese Begriffe wieder zurückkommen und wie wir dann damit umgehen, wenn diese großen Marschbegriffe wieder Einzug halten in unserer Kultur.
Scholl: Wir können Sie natürlich nicht springen lassen, ein Mann wie Sie, ohne zu fragen, wie sehr Sie unter der Situation in Ihrer Heimat leiden. Da geht es nämlich wieder sehr viel um Stolz, Nation und Ehre.
Şenocak: Tatsächlich, ja. Das ist ein sehr starkes Leiden, weil ich auch mit der Sprache verbunden bin. Ich habe Bücher dort, ich habe Freunde dort, ich habe auch Freunde, die in großen Schwierigkeiten sind. Den Verlagen geht es nicht gut. Der ganzen Wirtschaft geht es sowieso nicht gut. Auch die Sprache des Landes hat sich sehr verdüstert. Die Türkei hatte ja immer große Krisen und so, aber das ist schon diesmal eine andere Qualität. Ich reise trotzdem oft hin, um nahe dran zu sein.
Scholl: Danke, Herr Şenocak, für Ihren Besuch und dieses Gespräch!
Şenocak: Ich danke auch!
Scholl: "Das Fremde, das in jedem wohnt: Wie Unterschiede unsere Gesellschaft zusammenhalten", das Buch von Zafer Şenocak ist in der Edition Körber erschienen, hat 224 Seiten, kostet 18 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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