Schriftsteller Umberto Eco

"Ohne Solidarität funktioniert Europa nicht mehr"

Der italienische Philosoph und Autor Umberto Eco.
Umberto Eco zu Korruption und Amtsmissbrauch: "Bis '92 wurden die Politiker geschmiert und finanzierten damit ihre Parteien. Heute geben sie das Geld für sich aus." © dpa / picture alliance / Carmen Siguenza
Moderation: Tilmann Kleinjung · 25.09.2015
Verleumdung, Gerüchte und Falschmeldungen: In seinem Roman "Nullnummer" wendet sich der italienische Autor Umberto Eco den Schattenseiten der Medien zu. Im Interview spricht er über schlechten Journalismus, das Ende der Ära Berlusconi - und die Zukunft Europas.
In seinem neuen Roman hat Umberto Eco der Realität mal wieder über die Schulter geschaut. Seine Geschichte über eine Zeitung, die nur als "Nullnummer" existiert, beruhe auf wahren Begebenheiten, sagte Eco im Deutschlandradio Kultur:
"Es gab in den 70er-Jahren einen Herren namens Pecorelli, der eine Art Presseagentur betrieb. Er gab jeden Tag ein Bulletin heraus. Und dieses Bulletin wurde nicht veröffentlicht, man bekam es an keinem Kiosk, es landete nur auf den Schreibtischen der Politiker und ließ durchblicken, dass Pecorelli einen Tick mehr wusste und deshalb Geld erwartete."
Eco beschreibt und seziert genüsslich italienische, auch selbst erlebte Medien-Wirklichkeit: Verleumdung, Verdächtigungen, düstere Verschwörungstheorien. Er weiß, warum Journalisten sich so gerne damit beschäftigen:
"Die Verschwörungstheorie nimmt uns die Verantwortung. Wir haben keine Schuld, sondern jemand anders."
Apropos, Verschwörungstheorie und Verantwortung: Auch zum Thema Europa in der Krise hat Eco etwas zu sagen.
"Ich bin ein Pionier Europas, wir waren schon immer eine besondere europäische Generation. Ich bin von jeher ein überzeugter Europäer. Gemeinsam mit Habermas habe ich viele Initiativen unterstützt. In diesem Moment bin ich sehr pessimistisch, weil der Sinn für Solidarität abnimmt. Und ohne Sinn für Solidarität funktioniert Europa nicht mehr. Deshalb bin ich gerade jetzt sehr besorgt."


Das Interview im Wortlaut:
Tilmann Kleinjung: In Ihrem neuen Buch geht es um eine Zeitung, die nie erscheinen wird und auch nie erscheinen soll. Wie kommen Sie denn auf diese Idee?
Umberto Eco: Nun, oft werden Zeitungen für Erpressungen benutzt, die Veröffentlichung ist dann nicht mehr nötig. Mich hat eine wahre Begebenheit inspiriert. Es gab in den 70er-Jahren einen Herren namens Pecorelli, der eine Art Presseagentur betrieb. Er gab jeden Tag ein Bulletin heraus. Und dieses Bulletin wurde nicht veröffentlicht, man bekam es an keinem Kiosk, es landete nur auf den Schreibtischen der Politiker und ließ durchblicken, dass Pecorelli einen Tick mehr wusste und deshalb Geld erwartete. Eines Tages ist Pecorelli ermordet worden. Wie Sie sehen, kann man auch erpressen, ohne zu veröffentlichen. Die Drohung allein, es könnte in der Zeitung landen, reicht aus. Oder besser: Die meisten Formen der Erpressung sehen so aus. Deshalb ist es überhaupt nicht verwunderlich, wenn ich mir eine Zeitung ausdenke, die nie veröffentlich werden, sondern nur Angst machen sollte, dass sie veröffentlicht werden könnte.
Kleinjung: Viele Dinge, die Sie in ihrem Buch beschreiben, kommen einem hier in Italien seltsam vertraut vor: Anspielungen, Kampagnenjournalismus. Wie nah kommen Sie der Realität?
Eco: In meinem Roman gibt es die Szene im chinesischen Restaurant, die mir auch passiert ist. Eine Zeitung hat einmal geschrieben: Professor Eco ist mit einem Unbekannten in einem chinesischen Restaurant gesehen worden, wie er mit Stäbchen gegessen hat. Nichts Außergewöhnliches. Mir war der Unbekannte nicht unbekannt, es war ein Freund. Der Artikel hatte keinerlei Aussage und doch wurde ein Verdacht heraufbeschworen, dieses Treffen kriminalisiert: das mysteriöse China des Doktor Fu Manchu. Das ist ein typischer Fall von dem, was man in Italien "la macchina del fango", die Dreckschleuder nennt. Die Verunglimpfung des Gegners durch Unterstellungen. Die Unterstellung darf dabei nicht sein: "Du hast deine Großmutter ermordet". Es wäre ja zu einfach, zu beweisen, dass die Großmutter noch lebt. Nein, aber das chinesische Restaurant!
Kleinjung: Und manche Nachrichten werden ja in dieser Zeitung völlig frei erfunden, gefälscht. Auch in ihrem letzten Buch ging es ja um eine Fälschung: Die sogenannten "Protokolle der Weisen von Zion" sind in Wahrheit eine antisemitische Hetzschrift. Das Thema Original und Fälschung scheint Sie zu interessieren!
Eco: Ich bin von Haus aus Philosoph und ein Philosoph sucht immer und überall nach der Wahrheit. Doch es ist schwierig festzustellen, was wahr ist. Es ist viel leichter festzustellen, was falsch ist. Die Analyse einer Fälschung kann helfen, besser zu verstehen, was real und wirklich ist und was nicht. Wenn Sie zwei Bilder der Mona Lisa von Leonardo da Vinci gegenüberstellen, können Sie mit guten chemischen Untersuchungen feststellen, welches die Fälschung ist. Doch man kann nicht absolut sicher sein, dass das wahre Bild auch das Original von Leonardo ist.
Kleinjung: Es gibt einen Journalisten, der an dieser "Nullnummer" mitarbeitet, der fest davon überzeugt ist, dass nichts so ist, wie es scheint, dass hinter allem ein Komplott, eine Verschwörung steckt, der sogar herausgefunden haben will, dass Mussolini am Kriegsende nicht ermordet wurde, sondern in Argentinien weiterlebte. Warum sind solche Verschwörungstheorien so unglaublich beliebt?
Eco: Die Verschwörungstheorie nimmt uns die Verantwortung. Wir haben keine Schuld, sondern jemand anders. Popper hat sogar gesagt, der Komplott übernimmt dieselben Funktionen, die in gewissen Religionen Gott hat. Wer hat all das angerichtet? Wir doch nicht! Das war jemand anderes. Den Leuten gefallen Erklärungen, die über die einfachen Antworten hinausgehen. Warum ändert sich das Klima? Das ist unsere Schuld, weil wir zu viel Strom und Benzin verbrauchen. Doch das wäre zu einfach. Vielleicht steckt doch Bilderberg dahinter, oder Davos, irgendjemand, der hinter allem steckt.
"Typen wie Berlusconi gibt es viele"
Kleinjung: Als ich Ihr neues Buch gelesen habe, musste ich ständig an Berlusconi denken. Aber das ist vielleicht auch eine deutsche Untugend, dass wir Italien allzu oft auf Silvio Berlusconi reduzieren. Trotzdem: Der Verleger Vimercate in ihrem Roman soll schon an den Medienmogul Silvio Berlusconi erinnern?
Eco: Nun, wenn Sie so wollen, ja. Doch der Grundsatz ist: Solche Typen gibt es viele. Denken Sie doch nur an Murdoch. Wenn die Deutschen eine Leidenschaft für Berlusconi entwickelt haben, dürfen sie gern an Berlusconi denken. Sollte mein Buch allerdings ein Jahrtausend überleben - oder gar so lange wie die Gedichte Homers - wird sich keiner mehr an Berlusconi erinnern, doch der Verleger in meinem Buch wird eine Spezies Mensch sein, die es auch dann immer noch gibt.
Kleinjung: Sind Sie sicher, dass sich in tausend Jahren niemand mehr an Berlusconi erinnern wird?
Eco: Die Vergangenheit verschwimmt. Es gibt Persönlichkeiten des Risorgimento, an die sich außer den Historikern keiner mehr erinnert.
Kleinjung: Ihr Roman "Nullnummer" spielt im Jahr 1992 - am Ende der sogenannten ersten Republik. Ein Jahr der Wende, nachdem dieser gigantische Skandal um Korruption, Amtsmissbrauch, illegale Parteifinanzierung aufgeflogen ist. Wissen Sie noch, was Sie damals empfunden haben?
Eco: Man hatte den Eindruck, es gäbe tatsächlich eine Wende. Politiker, die bis dahin unantastbar waren, wurden vor Gericht gebracht. Aber es ist nichts passiert. Es gibt weiter Korruption - mit einem kleinen Unterschied: Bis '92 wurden die Politiker geschmiert und finanzierten damit ihre Parteien. Heute geben sie das Geld für sich aus.
Kleinjung: Mit dem Jahr 1992 begann der Aufstieg Berlusconis, der dann ja fast 20 Jahre dem Land seinen Stempel aufgedrückt hat. Hat Berlusconi tatsächlich Italien verändert oder ist er nur Ausdruck dafür, dass sich Italien verändert hat?
Eco: Meiner Meinung nach war und ist er ein extrem schlauer Mann, der den Gang der Dinge durchblickt und sich zu Nutze macht. Er hat verstanden, dass er mit dem Versprechen, keine Steuern mehr bezahlen zu müssen, Erfolg haben würde. "Ihr seid unschuldig!", das war seine Botschaft. Er ist dafür verantwortlich, dass die kollektive Ethik Schaden genommen hat.
Schriftstller Umberto Eco nach dem Interview.
Schriftstller Umberto Eco nach dem Interview.© Deutschlandradio / Tilmann Kleinjung
Kleinjung: Jetzt will Matteo Renzi, der mich schon ein bisschen an Silvio Berlusconi erinnert, Italien reformieren, in eine andere Richtung bringen. Was halten sie von Renzi?
Eco: Renzi hat den Verdienst, Beschleunigungen durchgesetzt zu haben. Ob gute oder schlechte, er führt Reformen durch. Berlusconi hat 20 Jahre welche versprochen, aber nie welche durchgeführt. Renzi ist also der erste durchsetzungsfähige Politiker nach den Politkern der Nachkriegszeit, mit allen Fehlern, allen Problemen. Wenn man es pessimistisch ausdrücken will: Er ist ein notwendiges Übel.
"Ich bin ein Pionier Europas"
Kleinjung: Sprechen wir über Europa, das ja in einer schweren Krise steckt. Zuerst Griechenland, jetzt in der Flüchtlingskrise scheinen sich die europäischen Partner auf keine gemeinsame Linie verständigen zu können. Ist das Projekt Europa gescheitert?
Eco: Ich bin ein Pionier Europas, wir waren schon immer eine besondere europäische Generation. Ich bin von jeher ein überzeugter Europäer. Gemeinsam mit Habermas habe ich viele Initiativen unterstützt. In diesem Moment bin ich sehr pessimistisch, weil der Sinn für Solidarität abnimmt. Und ohne Sinn für Solidarität funktioniert Europa nicht mehr. Deshalb bin ich gerade jetzt sehr besorgt.
Kleinjung: Fürchten auch Sie wie viele Ihrer Landsleute eine deutsche Hegemonie?
Eco: Das wird übertrieben. Natürlich gibt es eine wirtschaftliche Hegemonie. Früher sprach man von der amerikanischen Hegemonie. Da waren dann alle antiamerikanisch, jetzt sind alle antideutsch.
Kleinjung: Darf ich Ihnen noch eine Frage zu Ihrem großen Werk stellen: In Deutschland verbindet jeder mit dem Namen Umberto Eco Ihren Bestseller "Der Name der Rose". Nervt Sie das?
Eco: Und wie! Wenn ich von all meinen Romanen nur einen retten könnte, würde ich das "Foucaultsche Pendel" retten und nicht den "Namen der Rose". Der Roman gefällt mir besser, er ist reifer. Doch das ist ein Schicksal, das viele Schriftsteller teilen. Gabriel Gracia Márquez hat wunderschöne Romane geschrieben, "Hundert Jahre Einsamkeit" ist geblieben. Vielen ist das so ergangen. Das Problem ist, man müsste nicht mit dem ersten, sondern erst mit dem letzten Erfolg haben. Wenn du mit dem ersten Buch Erfolg hast, bist du verdammt.
Kleinjung: Sie sind ja erst relativ spät Schriftsteller geworden. Mit 48 Jahren haben sie den "Namen der Rose" geschrieben. Wie kommt ein renommierter Wissenschaftler, ein Philosoph auf die Idee einen Roman zu schreiben?
Eco: Ich habe dafür verschiedene Erklärungen. Eine Antwort, die ich immer gegeben habe, war: Normalerweise brennt man, wenn man sich dem 50. Geburtstag nähert, mit einer kubanischen Tänzerin durch. Einen Roman zu schreiben, war weniger kostspielig. Ich hatte meine Professorenstelle gehabt, meine Bücher waren in mehrere Sprachen übersetzt und es fehlte an einer Herausforderung. Deshalb hatte ich eines Tages Lust, etwas Neues auszuprobieren. Ich dachte damals, ich schreibe einen Roman mit einer Auflage von 3000, so zum eigenen Vergnügen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Umberto Eco: "Nullnummer",
Carl Hanser Verlag, München 2015,
240 Seiten, 21,90 Euro
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