Schriftsteller Jan Böttcher über Fußballvereine

"Dieses Soziotop hat mir immer wahnsinnig gefallen"

Der Schriftsteller Jan Böttcher
Der Schriftsteller Jan Böttcher © imago/Gerhard Leber
Moderation: Andrea Gerk · 10.07.2018
Auf dem Platz habe man als Spieler einen autonomen Raum, sagt Jan Böttcher. Man wolle dort einfach kicken und diese Freiheit gebe der Fußball. Nach dem WM-Aus der deutschen Mannschaft solle man sich daher "tunlichst wieder den Ball schnappen".
Andrea Gerk: Über Schriftsteller und Fußball haben wir ja im Lauf der WM in der "Lesart" immer wieder gesprochen. Heute ist der Schriftsteller und Musiker Jan Böttcher unser Gast. Er ist selbst begeisterter Fußballer, auch in der Autoren-Nationalmannschaft, und sein aktueller Roman "Das Kaff" hat auch nicht gerade wenig mit Fußball zu tun. Jetzt ist Jan Böttcher hier bei mir im Studio. Guten Morgen!
Jan Böttcher: Guten Morgen!
Gerk: Schauen Sie denn die WM-Spiele dann auch mit den Kollegen aus der Autoren-Nationalmannschaft zusammen, oder wie eng ist da der Kontakt?
Böttcher: Ja, mitunter. Wir haben Mittwoch jetzt Training, und dann werden wir das zweite Halbfinale dort schauen am Platz, zusammen.
Gerk: Also das wird kombiniert, das wird auch in so einer Hochzeit wie Fußball-WM wird trotzdem noch auch aktiv gespielt.
Böttcher: Ja, wir ziehen das Training extra vor auf 18:30 Uhr, um dann zusammen zu gucken.

Nationalismus gehört nicht dazu

Gerk: Sind Sie daher auch trotzdem, obwohl Deutschland rausgefallen ist, noch so mit der gleichen Leidenschaft dabei, oder gehört so Nationalismus zum Fußball unbedingt dazu?
Böttcher: Nein, der gehört nicht dazu. Aber ich wundere mich schon auch ein bisschen. Es liegt vielleicht auch an meinem Sohn, der die erste WM wirklich erlebt – er ist jetzt sechseinhalb – und mitfiebert, natürlich auch mit Deutschland mitgefiebert hat, aber der auch ein großer Statistikfan ist und also seine Pläne da führt und bis in die Spielergrößen und -gewichte auf Quartettkarten, das alles runterrattern kann. Und er ist auch großer Fan der übriggebliebenen vier Mannschaften, und wir gucken das dann natürlich zusammen.
Gerk: Und spielt auch schon Fußball?
Böttcher: Ja, der kickt im Hof. Er ist jetzt niemand, den ich sofort ins Leistungszentrum schicken müsste vom Talent her, aber er macht das mit großer Leidenschaft, und das ist ja auch das Wichtigste.
Gerk: Und haben Sie da nicht Ambitionen, wie Ihre Romanfigur, der dann Trainer in der Provinz, aus der er kommt, wieder wird, dann auch die eigene Jugend zu trainieren?

Mit 20 alles um den Fußball herum gebaut

Böttcher: Nein, die habe ich nicht mehr so, die Ambitionen. Die hatte ich als 20-Jähriger, da war ich tatsächlich in der Kleinstadt, in der ich groß geworden bin, Spieler, Jugendtrainer, auch Schiedsrichter, weil Schiedsrichter dann unbedingt gesucht wurden vom Verein. Da habe ich wirklich alles gemacht, sogar meinen Lebensmittelpunkt als Zivi, Zivildienstleistender da zwischen die Sportplätze gelegt, da habe ich mir den Platz genau da gesucht, dass ich 200 Meter zum Stadion und 300 Meter zum Trainingsplatz fahren musste, und habe da alles um den Fußball herum gebaut. Aber das waren zwei, drei Jahre, in denen es wirklich so mein ein und alles war. Und danach ist das jetzt wirklich ein Freizeitsport.
Gerk: In Ihrem Roman geht ja ein Architekt zurück in die Provinz, er baut da so eine Art Town-House-Anlage und wird dann aber Fußballtrainer in einer Jugendmannschaft. Da hat man ja den Eindruck, dass der Fußball so in der Provinz doch noch viel mehr auch so als soziales Gleit- und Klebemittel irgendwie funktioniert. Ist das so?
Böttcher: Ja, wir versuchen das mit der Autorenmannschaft auch wieder dahinzuführen, dass es so etwas übernehmen kann, wo man Kinder und Erwachsene zusammenführt vielleicht. Das ist auf dem Sportplatz sicher möglich, und je kleiner der Ort wird, das Dorf, desto größer und wichtiger dieses Soziotop Fußballverein, glaube ich, der große Sportplatz, der ja auch schon räumlich eine ganze Fläche einnimmt. Und dort gibt es eben diese ehrenamtlichen Posten, die besetzt werden, und dadurch eben auch die Typen, die helfen, und die sich um dieses Geflecht Fußballverein ranken und sich eben so bemühen.
Das hat mir immer wahnsinnig gefallen und mich da gehalten, dass man irgendwie in andere Konstellationen noch mal gerät, nicht Schule, nicht Familie, sondern noch ein Drittes hat, wo am besten auch die Eltern gar nichts zu sagen haben und wo einem auch der Trainer nicht so auf die Nerven gehen sollte, sondern wo man so ein bisschen einen autonomen Raum hat als Spieler. Man will kicken, und diese Freiheit, die gibt der Fußball einfach. Deswegen sollte man auch nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft jetzt tunlichst sofort wieder den Ball sich schnappen und selbst spielen.
Gerk: Ist denn dieser Roman auch so ein bisschen so eine Fantasie, die Sie sich auch tatsächlich vorstellen könnten, dass man da eben tatsächlich noch mal so in die Heimat geht und da wieder so andocken kann?

"Ich hab mal die Autoren-Nationalmannschaft trainiert"

Böttcher: Ganz unmöglich ist das nicht. Aber mein Ehrgeiz, Jugendliche zu trainieren, hält sich in Grenzen im Moment. Wie gesagt, ich hab das gemacht, da war ich selbst 22 und habe 16-, 17-Jährige trainiert und bin mit denen auch rumgefahren, und das hat mir auch großen Spaß gemacht. Sicher, ich hab auch die Autoren-Nationalmannschaft mal zwei, drei Jahre, als ich selbst einen Kreuzbandriss hatte, trainiert und war dann mal Trainer. Das macht mir schon Spaß, auch solche Übungen zusammen zu machen. Aber heute treffen wir uns wirklich nur noch zum Kicken. Da gibt es überhaupt kein Vorgeplänkel mehr, weil man sich diese Zeit, diese wichtigen eineinhalb Stunden auch dann nicht rauben will mit irgendwelchen Übungen, die man gar nicht mehr versteht.
Gerk: Ihr Roman hat ja einen schönen Titel, so ein bisschen abfällig, "Das Kaff", aber er ist dann doch eigentlich sehr liebevoll, finde ich, dieser Kleinstadt gegenüber, und man spürt die ganze Zeit so eine Sehnsucht auch. Ich konnte das sehr gut nachvollziehen, weil ich komme auch aus der Provinz. Was ist das eigentlich, was man da vermisst?

Die "Nivea-Nutella-Mannschaft"

Böttcher: Was den Fußballverein angeht, ist das schon ein längerer Weg, das zu beschreiben. Das erste Spiel, das sich der Michael Schürz, der Architekt, der wieder zurückkommt, wider Willen zurückkommt, weil er einen Job annehmen muss dort in der Heimatstadt, sich anschaut, das erste Spiel ist das Derby. Und damit verbindet er also eine große Rivalität. Er war selbst eher so ein Manndeckertyp, der da mit gelben und roten Karten zu tun hatte und wirklich gegrätscht hat. Für ihn sind das große Kindheits- und Jugend- und Früherwachseenerinnerungen, und er sieht also, dass diese Mannschaft, die jetzt so in der sechsten, siebenten Liga spielt, längst völlig anders strukturiert ist. Da spielen nur noch 19-, 20-, 21-Jährige, es werden Nudeln gegessen und kein Bier getrunken danach. Es geht ins Eisbad, und man professionalisiert sich auf eine fast komische Art schon. Und er schaut darauf, die Fairness ist riesengroß, und er denkt auch an die Nationalmannschaft und nennt sie ein bisschen gehässig die "Nivea-Nutella-Mannschaft", in der alles auch so schön cosy und warm ist.
Blick auf den Fußballplatz des Kirchhörder SC im Südwesten Dortmunds
Jan Böttcher ist begeisterter Fußballer und sein aktueller Roman "Das Kaff" hat auch nicht gerade wenig mit Fußball zu tun.© Deutschlandradio / Heinz Schindler
Man kann sagen, er vermisst sich selbst und seine Aggressivität in der Provinz, die er da ausgelebt hat. Und das ist vielleicht auch ein Anknüpfungspunkt, als er diesen Job dann angeboten bekommt als Jugendtrainer, dass er vielleicht wieder ein bisschen da hineinführen will in eine Welt, die auch tatsächlich eine Art Ventil bieten kann. Denn das ist kurzgeschlossen im Roman auch mit dem von uns so titulierten "Wutbürgertum", das so anonym ins Netz hinein disst und hasst. Das ist Michael Schürz nicht, sondern er möchte wirklich in den Konflikt gehen und mit Menschen zu tun haben und da aber auch Reibung durchaus haben, erzeugen und spüren. Und da ist der Fußballplatz sicher auch wichtig dafür. Und wenn man das alles weichspült, verliert das auch eine wichtige Funktion. Das ist auch meine Meinung.
Gerk: Wobei man dazu sagen muss, "Das Kaff" ist jetzt kein reiner Fußballroman, man hat auch seinen Spaß, wenn man nicht so ein Fußballfan ist. Es ist auch eine schöne Liebesgeschichte, es ist auch so eine Selbstfindungsgeschichte und eben ein sehr schönes Porträt auch der Provinz. Aber offenbar haben Sie ja auch in der Autorennationalmannschaft dann so was gefunden, wie man eben da früher in so einem Regionalverein auf so einem Sportplatz dann hatte, oder?

"Wir treffen auch andere Autorenmannschaften"

Böttcher: Ja, ganz sicher ist das so, dass wir uns den Raum so ein bisschen für uns erobert haben. Das Bier danach, und die Gespräche über Kultur, über Literatur, auch über Politik und alles, was uns ausmacht, sind genauso wichtig wie dieses Sich-Austoben. Aber wir genießen das jetzt schon seit über zehn Jahren, und es ist natürlich nicht nur Selbstzweck, sondern wir fahren dann auch mindestens einmal, zweimal im Jahr hinaus nach Europa und treffen andere Autorenmannschaften, um dann nach dem nachmittäglichen Spiel dann abends auch zusammen Kulturveranstaltungen zu machen und zweisprachig auf der Bühne dann diesen Kulturaustausch zu schaffen. Und da sind schon tolle Reisen zustande gekommen, und wir werden das weiter pflegen.
Gerk: Und ich nehme an, man lernt auch die Kollegen doch noch mal von einer anderen Seite kennen auf dem Platz als nur beim Vorlesen oder Lesen ihrer Bücher.
Böttcher: Ja, das ist ganz sicher so. Es gibt auch durchaus Analogien zwischen dem, was die Menschen schreiben, also wo die Dramatiker sind, wo die Lyriker. Das sieht man auf dem Platz schon ganz gut. Fand ich auch schon, als ich zum ersten Training kam, ganz interessant, wer den Ball einfach nur an den Maschendraht piddelt und eigentlich gar keine Lust hat, jetzt in der Aufwärmphase mit anderen Menschen zu beschäftigen, also Solipsisten und Alleingänger. Und andere, die eher dynamisch spielen – das ist schon interessant zu sehen. Aber im Spiel kann man irgendwie feststellen, dass wir alle eigentlich an das große Drama gebunden sind, denn egal, welches Spiel, ob es 3:0 oder 4:0 zur Pause steht, für uns oder gegen uns, es wird am Ende immer knapp. Es ist ganz komisch. Es gibt diese 90-Minuten-Spiele, wo eine Mannschaft dominiert, gibt es im Autorenfußball überhaupt nie.
Gerk: Haben Sie auch mal überlegt, da Frauen mit reinzulassen?

"Autorenmannschaft - für Frauen steht die Tür immer offen"

Böttcher: Ich glaube, dass die Tür immer offen ist, aber es immer schwieriger geworden ist, weil wir jetzt so 30, 40 Männer schon in Berlin geworden sind über die Jahre und immer Interesse da war von anderen, noch dazuzustoßen. Wir haben ja auch ein paar Richtlinien sozusagen, dass man zwei fiktive oder fiktionalisierte Bücher geschrieben haben muss in Prosa, Drama, Lyrik und so. Dann sind aber auch hin und wieder mal Journalisten da hinzugestoßen, die aber auch Bücher gemacht haben.
Ich glaube, am Anfang gab es ein bisschen so das Versäumnis, als es gegründet wurde, da hätte man gleich halb und halb machen sollen. Aber da war vielleicht die Zeit auch noch eine andere, 2005. Und heute gibt es schon immer wieder Anfragen von uns auch an einzelne Frauen, von denen wir wissen, dass sie Fußball spielen. Aber allein oder zu zweit kommen die dann auch nicht dazu. Das heißt also, im Moment würde ich eher denken, dass es eine komplette Frauennationalmannschaft geben sollte, und dann durchmischt man für Spiele. Aber ich glaube, den ersten Schritt wagt keine.
Gerk: Und was ist Ihr Tipp für heute Abend? Sie haben doch bestimmt auch so eine Tippgemeinschaft?
Böttcher: Das ist ein total schwieriges Spiel. Die Dynamik der Belgier ist ja immens, und ich glaube trotzdem, dass die Abgebrühtheit von Griezman und Co. noch höher einzuschätzen ist, und ich glaube, dass Frankreich knapp gewinnt.
Buchcover: Jan Böttcher: "Das Kaff"
Buchcover: Jan Böttcher: "Das Kaff"© Buchcover: Aufbau Verlag, Hintergrundfoto: Deutschlandradio / Ellen Wilke
Gerk: Jan Böttcher, vielen Dank, dass Sie hier waren! Und der aktuelle Roman von Jan Böttcher ist unter dem Titel "Das Kaff" beim Aufbau-Verlag erschienen, 269 Seiten kosten 20 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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