Schriftsteller

Berlin wird das neue New York

Von Irene Binal · 19.03.2014
Mit Romanen wie "Motherless Brooklyn", "Die Festung der Einsamkeit" oder "Chronic City" hat sich Jonathan Lethem einen Platz unter den großen US-Autoren der Gegenwart gesichert, sein jüngster Roman "Der Garten der Dissidenten" wird als Porträt des 20. Jahrhunderts hochgelobt. Nun ist Jonathan Lethem für einige Monate nach Berlin gezogen und entdeckt die deutsche Hauptstadt.
"Ich schreibe in jeder Lebenslage. Die einzige Regel, an die ich mich halte, lautet, jeden einzelnen Tag zu schreiben, und ich nehme die Gelegenheiten, wie sie kommen."
Schreiben - das ist für Jonathan Lethem eine Notwendigkeit. Seit Jahren verfasst er einen Roman nach dem anderen, Romane, in denen er seine Herkunft aufarbeitet, seine Familiengeschichte oder seine politischen Überzeugungen:
"Die Möglichkeit, mein Leben nicht nur damit zu verbringen, Bücher zu lesen, sondern auch selbst Geschichten zu schreiben und eine interessierte Leserschaft zu haben, das ist eine große Freude. Ein wahr gewordener Traum."
Zum Schreiben drängt es ihn auch, wenn er eigentlich mit anderen Dingen beschäftigt ist. Mit Interviews zum Beispiel: Lethem ist freundlich und zuvorkommend, aber eine gewisse Unruhe ist ihm anzumerken, die unterschwellige Ungeduld, bald an seinen Schreibtisch zurückzukehren. Der steht zur Zeit in Berlin, wo Lethem mit seiner Familie einige Monate verbringt:
"Es ist eine sehr kosmopolitische Stadt, aber in gewisser Hinsicht auch sehr zerklüftet. Sie erinnert mich an das New York der 70er oder 80er-Jahre. Damals war New York ursprünglicher, sozusagen noch im Verhandlungsstadium. Es versuchte, sich über sich selbst klar zu werden. Berlin ist interessant, weil es eine so reiche und oft schmerzhafte Geschichte hat, aber gleichzeitig ganz in der Gegenwart steht. Die Stadt ist nicht in der Vergangenheit gefangen. Ich denke, sie ist gerade dabei, sie selbst zu werden."
Ein New Yorker in Berlin: Seine New-York-Romane haben Lethem bekannt gemacht und in New York ist er verwurzelt, auch wenn er immer mal wieder für einige Jahre nach Kalifornien zieht. Seine Kindheit im Big Apple könnte selbst einem Roman entsprungen sein. Als Sohn eines Malers und einer politischen Aktivistin wuchs er in einer antiautoritären Kommune in Brooklyn auf, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und Politik den Alltag bestimmte:
"Meine Kindheit stand niemals still, sie war nie gleichförmig, sie entwickelte sich immer weiter. Sie machte mich belastbar, sie machte mich neugierig, sie gab mir die Fähigkeit, mit älteren Leuten befreundet zu sein und sie eröffnete mir viele Themen, die mich später begeisterten."
Aus dem Hippiekind wurde ein Punk
Aus dem Hippiekind wurde ein jugendlicher Punk, der das Abenteuer suchte - wie damals, als er Anfang der achtziger Jahre von Denver nach Kalifornien trampte, mit gerade mal 40 Dollar in der Tasche. Keine gute Idee, urteilt er heute:
"Niemand nahm einen mit, es war schwierig, durch das Land zu kommen."
Inzwischen ist der Abenteurer erwachsen geworden, 50 Jahre, verheiratet, Vater zweier Kinder im Alter von vier und sechs Jahren. Aber irgendwo in ihm steckt noch der Rebell, der Hippie, auch wenn sein Alltag heute recht alltäglich anmutet:
"Von außen betrachtet bewege ich mich auf ganz bürgerlichen Bahnen, ich bringe die Kinder in die Schule und dann sitze ich an meinem Schreibtisch, wenn ich nicht irgendwelche Termine habe. Aber innerlich definiere ich mich immer noch über die Welt der Möglichkeiten, der Entdeckungen, die ich geerbt habe."
Jonathan Lethem, US-Autor des Buchs "Der Garten der Dissidenten", das von einer zerrissenen amerikanischen Familie handelt, beim Interview im Deutschlandradio Kultur am 5. März 2014.
Jonathan Lethem, US-Autor des Buchs "Der Garten der Dissidenten", das von einer zerrissenen amerikanischen Familie handelt, beim Interview im Deutschlandradio Kultur am 5. März 2014.© Bettina Straub / Deutschlandradio
Und so sind seine Romane immer auch Ausdruck seines Idealismus, ob er über die kommunistische Bewegung in den USA schreibt, über den Kapitalismus oder die amerikanische Popkultur. Seine Bücher sind ebenso politisch wie persönlich und sie spiegeln nicht zuletzt Lethems Interesse an der Literatur wider:
"Aus irgendwelchen Gründen bevorzuge ich lange Bücher. Vielleicht helfen besonders umfangreiche Romane mir dabei, das Gefühl heraufzubeschwören, das ich als junger Leser hatte. Damals war ich im glücklichsten Sinne überwältigt."
Eine besondere Vorliebe hat Jonathan Lethem für Science-fiction. "Star Wars" sah er dutzende Male in der Bühnenfassung und er las sämtliche Werke des Sciencefiction-Autors Philip K. Dick - immerhin mehr als 40 Romane:
"Als ich diese Geschichten das erste Mal las, wurde mein Bewusstsein wunderbar erweitert, und ich wollte mehr davon. Ich denke noch immer, dass die Welt der Phantasie, der Träume, die Welt des Unheimlichen, meine Begeisterung für das Geschichtenerzählen bedingt hat."
Bücherfreund, Hausmann und politischer Beobachter
Jonathan Lethem vereint in sich viele Identitäten. Da ist der Intellektuelle, der die Vergangenheit kennt und die Gegenwart in ihr spiegelt, der Bücherfreund, der sich in umfangreichen Romanen verlieren will, der politische Beobachter, der die Zeichen der Zeit zu deuten versucht - da ist aber auch der Hausmann, der sogar ganz profanen Tätigkeiten noch etwas abgewinnen kann:
"Ich spiele mit meinen Kindern, ich wasche das Geschirr ab, ich lebe ein Alltagsleben. Wenn man aus dem Traum des Schreibens auftaucht, ist es gut, sich in der banalen Aktualität zu erden. Da kann es wichtig sein, Geschirr abzuwaschen."
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