Schreiben, ohne zu gefallen

Von Tobias Wenzel · 08.03.2011
Privates öffentlich zu machen, ist in Zeiten gnadenloser Selbstdarstellung eigentlich nichts besonderes mehr. Und doch hat der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgårds mit seinem autobiografischen Roman "Sterben" in seiner Heimat für Aufsehen gesorgt, denn hier erzählt er radikal über sein Leben und seine Mitmenschen.
Karl Ove Knausgård, ein schlanker Mann mit Bart und schulterlangen, grau melierten Haaren, sitzt an einem großen Esszimmertisch in seiner Wohnung, im fünften Stock eines Mietshauses. Die beiden Murmelgläser auf der Garderobenablage, die kleinen, bunten Mäntel darunter, das Plastikflugzeug auf dem Boden erinnern daran, dass der 1968 geborene norwegische Autor drei Kinder hat. Über die hat er ebenso in seinem sechsbändigen autobiografischen Romanprojekt geschrieben wie über seine Frau, seine Ex-Frau, seinen Bruder, seine Eltern. Und vor allem über sich selbst. Das Ergebnis: eines der am meisten diskutierten Bücher in der Geschichte der norwegischen Literatur.

Karl Ove Knausgård: "Die Zeitungen waren voll von Berichten über mein Buch und dessen Folgen, fast ein Jahr lang, fast jeden Tag. Die Medien sind durchgedreht. Journalisten haben alle meine Freunde, wirklich alle kontaktiert, auch die, die ich mit sieben Jahren hatte. Sie riefen alle Mitglieder meiner Familie an. Und jeder sollte - natürlich! - etwas Schreckliches über mich sagen."

Eigentlich wollte Karl Ove Knausgård in verschlüsselter Form einen Roman über den Tod seines Vaters schreiben, eines Alkoholikers, den die beiden Söhne als unnahbar und lieblos erlebten. Aber die fiktiven Worte wirkten unglaubwürdig. Also entschied er sich für die radikale Autobiografie. Die allerdings hat Knausgård mit seiner Sprache, seinem Blick und seinen theoretischen Betrachtungen über den Tod und die Kunst zu großer Literatur geformt.

Karl Ove Knausgård hat die Wohnung verlassen, um zur nahe gelegenen Kunsthalle Malmös zu laufen. Am und im Fahrstuhl sind Aufkleber mit zwei Piktogrammen angebracht. Auf dem einen ist ein Mensch mit einer großen Mülltonne im Fahrstuhl abgebildet, auf dem anderen drückt die obere Kante der Tonne dem Menschen die Kehle zu:

"Das ist sehr typisch für Schweden. Solche Warnungen hängen hier überall. Wenn man seine Mülltonne mit in diesen Fahrstuhl ohne Tür nimmt, dann kann die Tonne an einem Stockwerk hängen bleiben und einen strangulieren. Und dann ist man tot!"

Der Tod ist das zentrale Thema des ersten Romans innerhalb Knausgårds großem Projekt. Der Tod des Vaters ebenso wie der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Tod im Allgemeinen. Warum berühren uns die Toten in den Medien kaum?, fragt Knausgård, warum lassen wir aber Leichen in unserem Umfeld möglichst schnell aus unserem Blick verschwinden?

Karl Ove Knausgård, Lesung aus "Sterben":
"Der Lehrer, der auf dem Schulhof einen Hirnschlag erleidet, muss nicht zwingend auf der Stelle weggeschafft werden, es passiert nichts Schlimmes, wenn er liegen bleibt, bis der Hausmeister die Zeit findet, sich um ihn zu kümmern, selbst wenn dies erst am Nachmittag oder Abend der Fall sein sollte. Wenn sich ein Vogel auf ihn setzt und pickt, was macht das schon?"

Der 42-jährige Knausgård zündet sich vor dem Haus eine Zigarette an und blickt auf die hässliche Fassade eines Einkaufszentrums und auf die hin- und herhuschenden Menschen.

"Mich halten Leute auf der Straße an und fragen etwas zu meinem Vater: 'Wie ist Ihre Beziehung zu Ihrem Vater jetzt? Hat sie sich geändert?' Oder: 'Ihre Tochter ist doch jetzt sieben Jahre alt. Geht sie schon zur Schule?' Leute, die ich noch nie gesehen habe, fragen mich das. Sie kennen die Namen meiner Kinder, meiner Frau, meines Bruders. Es fühlt sich sehr seltsam an, aber nicht so, als hätte ich meine Seele verkauft."

In Malmös Kunsthalle ist gerade eine Ausstellung des Fotografen Moholy-Nagy zu sehen. Karl Ove Knausgård geht langsam an den experimentellen Aufnahmen aus den 20er-Jahren vorbei.

"Muss ich etwas über die Bilder sagen?"

Nein, muss er nicht. Denn wer seinen Roman "Sterben" liest, erfährt, dass es für den studierten Kunsthistoriker Knausgård etwas gibt, das so privat ist, dass er darüber nicht sprechen oder schreiben kann: die überwältigende Empfindung beim Betrachten von Kunst. Eines bestimmten Gemäldes von Rembrandt oder Turner zum Beispiel. Ist Knausgård als Kind mit seinem Vater ins Museum gegangen?

"Nein, nie. Er hat mir nie etwas gezeigt. Er hat mich nur zehn Mal oder so zu einem Fußballspiel mitgenommen. Das war's. Er hat sich nicht für mich und meinen Bruder interessiert. Und auch nicht für Kunst. Soweit ich weiß."

Sicher ist, dass Karl Ove Knausgård überrascht an sich selbst beobachtete, wie sehr ihn der Tod des fremden Vaters mitgenommen hat. Sicher ist auch, dass er sich als Kind nach anerkennenden Worten des Vaters sehnte. Immer habe er allen gefallen wollen, erzählt Karl Ove Knausgård in der Kunsthalle Malmö. Sein autobiografisches Mammut-Romanprojekt war für ihn das Experiment, es einmal nur sich selbst recht zu machen, das fängt schon beim norwegischen Titel des Projekts "Min kamp", "Mein Kampf", an. Er wollte Tabus brechen, gnadenlos die eigenen Gedanken und Gefühle aufzuschreiben.

Er holte zwar vor der Veröffentlichung das Einverständnis der in den Büchern erwähnten Personen ein. Allerdings rechnete damals niemand damit, dass sich das Buch allein in Norwegen 200.000 Mal verkaufen würde und nun in 13 Sprachen übersetzt wird. Hat er, Karl Ove Knausgård, nun mehr Feinde?

"Ja, das habe ich. Einige Personen haben mir verboten, mit ihnen zu sprechen oder mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Das ist sehr traurig. Und ich weiß auch: Über andere Menschen zu schreiben, heißt, andere Menschen zu benutzen. Aber man kann nicht über sich selbst schreiben, ohne andere Menschen zu erwähnen. Wäre es möglich, hätte ich es so gemacht."