Schreiben als Therapie

04.03.2009
Der schwedische Autor Per Olov Enquist blickt in "Ein anderes Leben" auf seine eigene Vergangenheit zurück. Er schildert, wie sein Leben durch seine Alkoholsucht aus dem Takt geraten ist - und wie er mit Hilfe des Schreibens wieder Tritt gefasst hat.
Per Olov Enquist ist ein rastloser Autor. 1934 in der nordschwedischen Provinz Västerbotten geboren, verlässt er nach der Schule die Heimatregion, studiert und arbeitet in Uppsala, Kopenhagen, Berlin, Los Angeles, Paris und Stockholm. Diese Rastlosigkeit zeichnet sich nicht nur in seiner Biografie ab. Enquists literarisches Schaffen, das in den 1960er-Jahren beginnt, erfüllt eine rätselhafte Unrast und wird von der scheinbar simplen Frage in Bewegung gehalten: Wie ist man ein Mensch geworden. Dabei entstehen literarische Landschaften, die immer wieder in die Kindheit des Autors führen, auch wenn es um historische Personen wie Lewi Pethrus, den Anführer der schwedischen Pfingstkirche im Roman "Lewis Reise" (2001) oder den Nervenarzt Charcot an der Pariser Salpêtrière in "Das Buch von Blanche und Marie" (2004) geht.

In "Ein anderes Leben" verzichtet Enquist auf Figuren der Zeitgeschichte und macht die eigene Person zum Gegenstand des Erzählens. In der dritten Person führt er eine schonungslose Recherche, bei der er fragendes Subjekt und befragtes Objekt gleichermaßen ist. Neugierig wie ein Fremder sucht er nach jenem Punkt, "von dem aus sein Leben betrachtet werden" kann. So hinterfragt er erneut die strenge Kargheit der Kindheit, die vom fundamentalen Pietismus beherrscht war. Er kommentiert die als "Exil" bezeichneten Jahre in Westberlin, Paris und Kopenhagen und unterzieht die eigenen Romane, Theaterstücke und Essays einer kritischen Lektüre.

Um zu verstehen, wann sein Leben aus dem Takt geraten ist, muss er den Schmerzpunkt identifizieren, an dem seine Alkoholsucht begann und das Schreiben unmöglich wurde. Während er bis Mitte der sechziger Jahre ohne einen Tropfen Alkohol lebt, kommt es 1989 zum ersten Entzug. Weitere folgen. Dann, im Februar 1990, beginnt er in einer dänischen Heilanstalt einen Roman zu schreiben, der ein Jahr später unter dem Titel "Kapitän Nemos Bibliothek" erscheint.

"Er hatte ja geglaubt, er hätte sich die Fähigkeit zu schreiben weggesoffen. Dass sie fort war, für immer, aber jetzt fühlte er, dass er schrieb wie früher, es war wie ein Wunder."

Die "Dichtsucht" wird zur Rettung, schreiben zum Akt der Wiederauferstehung. Ein neues, ein "anderes Leben" scheint möglich zu sein.

Per Olov Enquist hat ein Buch geschrieben, das in seiner kompromisslosen und selbstkritischen Offenheit betroffen macht. 18 Jahre mussten vergehen, um diesen Weg des Selbsterkennens literarisch gehen zu können. Um die Gefahr des Verkennens so gering wie möglich zu halten, nutzt er die Mittel autobiographischen Erzählens. Autor-Ich und Text-Ich gehen eine narrative Symbiose ein. Dabei entsteht ein Meisterstück moderner Erzählkunst. Denn Enquist versteht Authentisches geschickt mit der belletristischen Wahrheit zu verknüpfen, um an die Schmerzzentren zu kommen. Auch wenn dabei, wie er vermutet, "ganz sicher ein unmöglicher Roman" entstanden ist, siegt der Romancier Enquist, indem er mit der Frage aus dem Text geht, ob "das wirklich die ganze Geschichte" war.

Rezensiert von Carola Wiemers

Per Olov Enquist: Ein anderes Leben
Roman
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Hanser Verlag München 2009
544 Seiten, 24,90 Euro