Schreckensjahre nach dem Krieg

Von Arno Orzessek · 17.10.2013
In ihrem neuen Buch beschreibt Anne Applebaum stalinistische Diktaturen und konzentriert sich vor allem auf Polen, Ungarn und die DDR in der Zeit bis 1956. Sie hat etwa untersucht, wie aus Konzentrationslagern sowjetische Speziallager wurden.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs war bekanntlich der Anfang neuen Schreckens. In wenigen Jahren wurden die Länder hinter dem eisernen Vorhang unter sowjetischem Druck zu mehr oder weniger stalinistischen Diktaturen. Anne Applebaum konzentriert sich auf Polen, Ungarn und die Sowjetische Besatzungszone/DDR, um Wesen und Wirkung der kommunistischen Methoden zur Verwandlung ganzer Gesellschaften, Volkswirtschaften, nationaler Kulturen und jedes Individuums zu zeigen.

Eingangs macht sich Applebaum für den einst von Hannah Arendt verfochtenen Begriff "Totalitarismus" stark: "Er ist reif für eine Renaissance". Allerdings taucht das Wort erst wieder im Epilog auf, in dem Applebaum resümiert: "Der Totalitarismus funktionierte in Osteuropa nie so, wie er sollte." Da Applebaums Stärke im erzählerischen Nachvollzug der Repressions-Mechanismen liegt, weniger in der theoretischen Analyse, bleibt unklar, warum sie das umstrittene Totalitarismus-Konzept überhaupt bemüht.

Osteuropäische Trümmerwüste
Sei es drum. Die Pulitzer-Preisträgerin versteht es, die Wechselwirkungen zwischen großer Geschichte und Alltagsleben plastisch auszuleuchten. Sie stellt die "kleinen Stalins" vor: Boleslaw Bierut in Polen, Mátyás Rákosi in Ungarn, Walter Ulbricht in der SBZ/DDR. Aber sie sitzt auch mit Wladyslaw Szpilmann ("Der Pianist") in der "Stunde Null" in Warschau, durchstreift mit verlorenen Gestalten die osteuropäische Trümmerwüste, erzählt, dass in Budapest im Februar 1945 angesichts der Massenvergewaltigungen ungarischer Frauen durch Soldaten der Roten Armee stillschweigend das Abtreibungsverbot aufgehoben wurde, schildert das Schicksal von Menschen, die in Buchenwald eingekerkert wurden, im ehemaligen KZ der Nazis, das plötzlich ein sowjetisches Speziallager war.

Um der holistischen Darstellung eine Ordnung zu geben, konzentriert sich Applebaum kapitelweise auf Einzelthemen. Im ersten Teil ("Falsche Morgenröte") sind das etwa "Polizisten", "Ethnische Säuberung", "Jugend", "Radio", "Wirtschaft". Im zweiten Teil ("Hochstalinismus") untersucht sie "Innere Feinde", "Homo Sovieticus", "Idealstädte" wie Eisenhüttenstadt. Das Große und Ganze ist bekannt, im Kleinen erfährt man viel Neues, zumal Applebaum Zeitzeugen interviewt und unveröffentlichte Quellen gesichtet hat.

Das Buch endet nicht mit Stalins Tod
Polen, Ungarn, SBZ/DDR: Die Auswahl erscheint recht beliebig, zumal es Applebaum ausdrücklich auf den Nachweis länderspezifischer Merkmale der kommunistischen Verwandlung ankommt. An Jugoslawien, Rumänien, Albanien und den der UdSSR angegliederten baltischen Republiken hätten sich stärkere Unterschiede zeigen lassen. Das Buch endet nicht etwa mit Stalins Tod, sondern mit der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956, ebenfalls eine fragliche Zäsur, da damals vor allem die kommunistischen Parteien Westeuropas und Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre ihre Moskau-Gläubigkeit verloren.

Gleichwohl ist "Der Eiserne Vorhang" lesenswert, zuerst und zuletzt, weil das Buch die brutalen Konsequenzen der kommunistischen Welteroberungsidee in allen Aspekten sichtbar macht. Applebaums frohe Botschaft aber lautet: "Die Menschen werden nicht so leicht zu 'totalitären Persönlichkeiten'."

Besprochen von Arno Orzessek

Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 - 1956, Siedler Verlag, München 2013, 637 Seiten, 29,99 Euro
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