Schonungslose Reflexion

Rezensiert von Richard Herzinger · 18.07.2010
Dass wir an einer "Zeitenschwelle" stehen, ist auch ohne akademische Analyse allenthalben spürbar. Vertraute Strukturen der Weltordnung werden unter oft heftigen Erschütterungen in Frage gestellt - im globalen Maßstab wie im heimischen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Gefüge.
Doch aus den treibenden Kräften und Konflikten der Gegenwart - die rasant voranschreitende Globalisierung etwa, der Siegeszug des Internets oder die Schockwellen, die vom 11. September bis heute ausgehen - lässt sich kaum ablesen, welche von diesen uns heute in Atem haltenden Problemen man in Zukunft einmal als entscheidend für die Herausbildung eines neuen Zeitalters ansehen wird.

Für umso wichtiger aber hält es der Historiker Dan Diner, die Umbrüche der Gegenwart erst einmal in ihrer Tiefendimension zu verstehen. Und zwar, indem man die historischen Einflüsse in den Blick nimmt, die das Hier und Jetzt in langen Linien maßgeblich beeinflussen. Diner betreibt Zeitdiagnostik, die bemüht ist,

"….sich den zeitgeistigen Eindrücken in ihrer blendenden Unmittelbarkeit zu entziehen. Eine solche Distanzierung erfolgt vor dem Hintergrund vorausgegangenen Geschehens und eines urteilenden Nachdenkens darüber. Damit stellt sich noch lange kein die Aufdringlichkeit der Gegenwart distanzierender historisch abgeklärter Blick ein, aber vielleicht doch so etwas wie ein entlang der Konturen des Vergangenen sich orientierender, historisierender Blick auf das Heute."

Diese historischen Ausdeutungen widmen sich einer großen Bandbreite von Phänomenen und Herausforderungen, auf die wir Zeitgenossen noch keine überzeugenden Antworten finden konnten: Die Erosion zivilisatorischer Mechanismen zur Einhegung des Krieges unter dem Eindruck asymmetrischer Kriegsführung und des Selbstmord-Terrorismus, die Veränderungen des Völkerrechts im Zeichen eingeschränkter Souveränität der Nationalstaaten, die rechtsphilosophischen und kulturhistorischen Differenzen, die einer tendenziellen Entfremdung zwischen Amerika und Europa zugrunde liegen, die Wiederkehr des Antisemitismus im Kontext einer aggressiven Abwehr von Modernisierungsschüben in der islamischen Welt.

Da Diners Buch eine Zusammenstellung überarbeiteter Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 2003 bis 2008 ist, fehlt ihm freilich ein wenig der rote Faden, der den Leser durch die Komplexität der aufgezeigten Zusammenhänge leitet.

Inhaltlich aber zeichnet sich ein klarer Standpunkt ab, von dem aus der Autor seine Erkundungen der faszinierenden Windungen und Wirren der Historie unternimmt: Er verteidigt die Errungenschaften von westlicher Rationalität und Aufklärung gegen eine grassierende Moderne-Skepsis, die nur allzu geneigt ist, alle aktuellen politischen und kulturellen Eruptionen einem vermeintlichen Irrweg anzulasten, den der Westen der Welt seit der frühen Neuzeit aufzwinge.

"Der Moderne ist kein guter Leumund beschieden, sie wird haftbar gemacht für die Zivilisationsverbrechen des 'Westens’ - für die über Jahrhunderte eine Blutspur hinterlassende europäische Expansion nach außen, nach Übersee. Und sie wird haftbar gemacht für die nach innen gerichtete Praxis frühneuzeitlicher Sozialdisziplinierung – einer gleichsam von Staats wegen erfolgten Zurichtung und Anpassung des Menschen an die Erfordernisse der sich abzeichnenden neuen Ordnung der Maschinenwelt. Was die Moderne als praktisch gewordene Aufklärung angeht, so werden derweil willkürlich ihre Schattenseiten herausgekehrt."

Diner verkennt dabei aber keineswegs die Widersprüche und Begrenztheiten des westlichen Modernisierungswegs und des mit ihm eng verknüpften Aufklärungsprogramms. Deutlich wird dies etwa bei seiner Analyse des Nahost-Konflikts und der Rolle, die eine grundlegend divergierende Sicht auf den Holocaust als Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts dabei spielt.
"Die Anerkennung des Holocaust als universelles Ereignis setzt eine vornehmlich, wenn nicht ausschließlich westliche Sicht der Dinge voraus, eine Sicht, die den Holocaust als einen Zivilisationsbruch begreift, in dem eine anthropologisch zwar universelle, historisch aber westlicher Form verpflichtete Rationalität zutiefst beschädigt worden ist. In Auschwitz verdampften Kategorien, die zur Grundvoraussetzung eines aufgeklärten Weltverständnisses gehören. Eine solche Widerlegung in ihrer niederschmetternden Bedeutung nachvollziehen heißt, diese mit dem Hintergrund des westlichen Kanons von Säkularisierung und Aufklärung zu kontrastieren. Die Geltung dieses Kanons und erst recht die Wucht seiner Negation durch das Ereignis ‚Auschwitz’ ist nicht allerorts vorauszusetzen."

Diner stößt uns mit dieser Diagnose auf eine Herausforderung, deren Dimension die westlichen Gesellschaften noch nicht adäquat wahrnehmen: Weil das Gedenken an den Holocaust in Teilen der Welt, namentlich der islamischen, vielfach als eine vom Westen oktroyierte Norm verstanden wird, gerät sie in die globale Auseinandersetzung um die politisch-kulturelle Deutungshoheit über die Geschichte – und Holocaust-Relativierung wird zu einer propagandistischen Waffe im Kampf sich "antikolonialistisch" gebender antiwestlicher Kräfte.

Dass Dan Diner Tiefenstrukturen dieser Art unter den hektisch aufeinander folgenden Ereignissen der Gegenwart freilegt, macht sein neues Buch so wertvoll und lesenswert – als eine Quelle unaufgeregter, aber dennoch schonungsloser Reflexion.

Dan Diner: Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte
Pantheon Verlag, München 2010
272 Seiten, 12,95 Euro


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Kritik: Dan Diner - Versiegelte Zeit
Cover: "Dan Diner: Zeitenschwelle"
Cover: "Dan Diner: Zeitenschwelle"© Pantheon Verlag