Schon die Wikinger hatten Pocken

Der Evolution der Viren auf der Spur

06:12 Minuten
Dr. Eske Willerslev sitzt in einem Raum mit Artefakten aus der Wikingerzeit
Das Forschungsteam von Eske Willerslev untersucht, wie sich Viren über Jahrhunderte an den menschlichen Wirt anpassten. © laif /The New York Times / Laerke Posselt
Von Christine Westerhaus · 06.08.2020
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Forschende haben die Gene von Wikingern analysiert und herausgefunden, dass diese an Pocken erkrankten. Das Virus war aber längst nicht so bedrohlich. Erst allmählich mutierte es zu einem der gefährlichsten Krankheitserreger.
Die wichtigsten Räume am Zentrum für Geogenetik der Universität von Kopenhagen liegen im Keller. "Reinraumlabore" nennen die Forschenden diese Bereiche, in denen sie jahrtausendalte Knochen und Zähne analysieren. Damit die Erbsubstanz nicht mit der DNA heute lebender Menschen vermischt wird, herrschen strenge Vorschriften. Wer das Labor betreten will, muss einen Ganzkörperoverall aus weißem Plastik und mehrere Paar Gummihandschuhe anziehen.
Eske Willerslev führt den Besuch in die Umkleidekabine vor dem Reinraumlabor. Hier sie sie schon lange nicht mehr hier gewesen – zum Glück, meint sie. "Denn es ist ziemlich anstrengend, in diesen Anzügen zu arbeiten." Willerslev leitet seit Längerem ein ganzes Forschungsteam. In den Reinraumlaboren arbeiten vorwiegend Doktoranden. So wie Maya Lunn, die im Nachbarraum gerade dabei ist, einen menschlichen Knochen aufzubereiten.

Über die Genome mehr über unsere Vorfahren lernen

Mit einem Bohrer bearbeitet die Forscherin ein Felsenbein, also den Knochen, in dem das Innenohr liegt. Weil es der härteste Knochen des menschlichen Körpers ist, schließt das Felsenbein die DNA wie eine Zeitkapsel ein.
Aus dem Knochenmaterial rekonstruiert sie das Genom des Menschen, dem es einst gehörte. So versuchen die Forschenden, mehr über unsere Vorfahren zu lernen. Und darüber, welche Krankheiten sie plagten. In ihrer jüngsten Untersuchung hat das Kopenhagener Team herausgefunden: Schon die Wikinger waren mit Pocken infiziert, sagt einer der Studienautoren Martin Sikora: 13 der archäologischen Proben aus dem frühen Mittelalter und dem Wikingerzeitalter hätten das Pockenvirus enthalten. "Und eines der Hauptresultate unserer Studie war, dass die Pocken bereits 1000 Jahre früher relativ weit verbreitet waren, als wir bis jetzt gewusst haben, in Nordeuropa und damit höchstwahrscheinlich auch in ganz Europa."
Allerdings waren die Wikinger nicht von denselben Virusstämmen befallen, die in späteren Jahrhunderten verheerende Epidemien auslösten. Die Forschenden vermuten, dass die frühen Formen des Erregers leichtere Krankheitssymptome hervorgerufen haben. Denn die Erbsubstanz der Wikingerpocken unterscheidet sich von den Viren, die später grassierten.
Nun bekommt die Wissenschaft erstmals Einblick in die Entwicklung dieser: "Wir können sehen, wie sich bestimmte Viren oder Bakterien im Laufe der Zeit verändert haben und durch welche Schritte der Evolution sie dann eben zu diesen hochgefährlichen Stämmen geworden sind", sagt Martin Sikora. Wie sich die Pockenviren zu einem der gefährlichsten Krankheitserreger der Menschheitsgeschichte entwickelt hätten.

Lange Anpassung an den menschlichen Wirt

Das Erbmaterial der frühen Pockenviren verrät: Im Laufe der Evolution haben die Viren, die die Wikinger befallen haben, ein paar genetische Eigenschaften verloren. Wann genau sich die Pocken in eine hochansteckende und in vielen Fällen tödliche Krankheit verwandelt haben, ist aber noch unklar. Dokumentierte Epidemien traten in Europa erstmals im 17. Jahrhundert auf.
Die Pocken hatten also Hunderte Jahre Zeit zu mutieren. Die Details wolle sein Team nun analysieren, die genetischen Veränderungen katalogisieren, so Sikora. Dadurch lasse sich feststellen, welche Mutation oder welches Gen bereits im frühen Stadium der Evolution dieser Viren inaktiviert wurde. "Und das könnte zum Beispiel ein wichtiges Gen sein oder ein Teil davon, der diese Anpassung an den menschlichen Wirt zum Beispiel beschleunigt, oder die notwendig ist, um die Krankheit besser von Mensch zu Mensch übertragbar zu machen oder die Symptome schwerwiegender werden zu lassen."

Infektionskrankheiten sind Teil der Menschheitsgeschichte

Pockenviren sind aber nicht die einzigen Erreger, die Forschende in antiken Zähnen und Knochen gefunden haben: Unsere Vorfahren waren schon in der Bronzezeit, vor rund 5000 Jahren, von der Pest befallen. Deren Erbsubstanz steckt in zehn Prozent der menschlichen Überreste. Und auch die DNA von Hepatitis- und Tuberkulose-Erregern lässt sich dort nachweisen.
Die Wissenschaft interessiert nun, wie sich diese Keime genetisch so angepasst haben, um Menschen infizieren zu können. Jüngstes Beispiel ist Sars-CoV-2, das durch Mutationen vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist und so die Coronapandemie ausgelöst hat.
Solche Veränderungen können auch mit anderen Erregern jederzeit geschehen, sagt Martin Sikora. Infektionskrankheiten seien jedenfalls schon immer Teil der Menschheitsgeschichte gewesen. "Von dem her ist die jetzige Pandemie natürlich eine Erinnerung daran, wie es eigentlich früher mal war, und dass wir schon damit rechnen sollten, dass es auch weiter so sein wird. Und dass es immer wieder Teil der Menschen war und wieder sein wird."
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