Schönheitsbedürftig

03.11.2012
Er gehörte zu den kreativsten und individuellsten Künstlern unserer Zeit - vor einer Woche ist er in Dresden im Alter von 86 Jahren gestorben: Hans Werner Henze. "Die Menschen sind doch ein anbetungswürdiges Geschlecht" - das sagte der Komponist in einem seiner letzten Interviews. Er deutete damit Optimismus an - er, der lange Zeit mit Deutschland, vielen Kollegen, der Musikwelt und dem kulturellen Establishment überkreuz gelegen hatte.
Über 40 Werke für die Bühne, zehn Sinfonien, vokale Stücke für die unterschiedlichsten Besetzungen vom Oratorium bis zum Kunstlied, Kammermusik, musikpädagogische Projekte, ästhetische Schriften, Tagebücher, Briefwechsel und eine Autobiografie, Ideen für Festivals aller Art - der Mann aus Gütersloh schöpfte aus scheinbar nie versiegenden Quellen.

Und er achtete zeitlebens darauf, eine Umgebung zu finden, die ihn in seiner Schaffenskraft unterstützte. 1953 ging er ins italienische "Exil" - als in Ostdeutschland die Arbeiter demonstrierten, zuerst in die mönchische Einsamkeit auf der Insel Ischia. Später pflegte er ein gutsherrschaftliches Leben in Marino südlich von Rom, scheute aber auch nicht die episodenhafte Koexistenz mit Kampfgenossen in den politischen Jahren der Studentenbewegung in deutschen Großstädten. Er war der italienischste aller deutschen Komponisten, zuletzt sehr kritisch gegenüber dem Zustand der Kultur im Berlusconi-Land, dem ehemaligen Sehnsuchtsland der Nachkriegsdeutschen.

Zum linken Künstler wurde Henze erst in den 60er Jahren, nach einschneidenden Erfahrungen in Nordamerika. Mit der Hinwendung zur Politik suchte er auch eine Schaffenskrise abzuwenden. Er war zwischen die Fronten geraten, zwischen die Traditionalisten und die Avantgardisten. Vor allem Letztere machten ihm das Leben schwer und fügten ihm manch seelische Verletzung zu. Doch er blieb beharrlich bei seinem Stil, der immer konkret und menschlich war und stets mit Gesang und Theater zu tun hatte, auch wenn er sich in instrumentalen Werken äußerte. Eine Musica Impura schwebte ihm vor, eine Musik, die das Leben abbildet, wie es ist, unsystematisch, subjektiv, aber sinnlich, gefühlstief und schönheitsbedürftig.

Im Themenabend begegnet uns der große Komponist noch einmal in eigenen Statements, Ausschnitten aus wichtigen Werken und in Erinnerungen und Aussagen von Wegbegleitern, die mit seiner Musik wesentlich zu tun hatten.



"Die Menschen sind doch ein anbetungswürdiges Geschlecht"
Hans Werner Henze zum Gedenken

Gespräche mit der Verlegerin Christiane Krautscheid
den Komponisten Detlef Glanert und Jörg Widmann und
den Dirigenten Markus Stenz und Marek Janowski

Hans Werner Henze in historischen O-Tönen

Ausschnitte aus Hans Werner Henzes Werken:

"Das Ende einer Welt"
WDR-Rundfunkchor
WDR-Sinfonieorchester
Leitung: Markus Stenz

Requiem
Hakan Hardenberger, Trompete
Ueli Wiget, Klavier
Ensemble Modern
Leitung: Ingo Metzmacher

"Pollicino"
Schülerinnen und Schüler der Musikschule Marzahn-Hellersdorf
Leitung: Jobst Liebrecht

"König Hirsch"
Chor und Orchester der Städtischen Oper Berlin
Leitung: Hermann Scherchen

"Der Junge Lord"
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Leitung: Christoph von Dohnanyi

"Das Floss der Medusa"
Chor des NDR
RIAS Kammerchor
NDR-Sinfonieorchester
Leitung: Hans Werner Henze

"Orpheus behind the wire"
Rundfunkchor Berlin
Leitung: Robin Gritton

7. Sinfonie
9. Sinfonie
Rundfunksinfonieorchester Berlin
Leitung: Marek Janowski

ca. 21:30 Uhr Nachrichten