Schneller als Phileas Fogg

03.04.2013
Jules Vernes Roman "In 80 Tagen um die Welt” erschien 1873 und wurde zu einem internationalen Bestseller. 14 Jahre später versucht Nellie Bly, Reporterin der New Yorker Tageszeitung "The World", schneller als dessen Held Phileas Fogg zu sein. Ihre Reise dauerte 72 Tage, und ihr Buch darüber, damals ein Bestseller in den USA, ist nun erstmals auf Deutsch erschienen.
Es bietet nicht nur kurzweilige Lektüre und einen Blick in die Frühzeit des Tourismus, sondern auch auf Stereotype kolonialen Denkens am Ende des 19. Jahrhunderts.

Nellie Bly war zum Zeitpunkt ihrer Reise keine Unbekannte. Sie hatte bereits große Reportagen veröffentlicht, darunter eine, für die sie sich undercover in eine psychiatrische Klinik hatte einweisen lassen. Ihr Buch "Zehn Tage im Irrenhaus", in dem sie die Erniedrigungen der Patientinnen beschrieb, sorgte für Empörung und Ruhm.

Warum sie nicht nur solcher Themen wegen damals zu den bekanntesten Reportern gehörte, erschließt sich schnell: Sie beschreibt ihre Reise detailliert, selbstironisch, lakonisch, in kurzen lebhaften Sätzen. Herrlich die Schilderung der Seekrankheit, die sie immer wieder überfällt, und der Seltsamkeiten der Passagiere: von denen einer die Schifffahrtsgesellschaft verklagen will, weil man zu früh am Reiseziel anlangt, ein anderer eine Frau sucht, die mit kleinem Gepäck reist, selbst aber mit 19 Koffern unterwegs ist.

Es ist Spott über ihresgleichen. Die Schiffsgesellschaft funktioniert wie ein abgeschlossener Kosmos. Reisen ist Ende des 19. Jahrhunderts für die oberen Schichten normal geworden. Man kauft Tickets von Calais nach Hongkong, sitzt gemeinsam im Zug, dann auf demselben Schiff, das von Brindisi über Port Said, durch den Suezkanal, über Aden und Singapur (Schiffswechsel dort) schließlich Hongkong erreicht. Bly, die nie zuvor auf einem Schiff unterwegs war und keine andere Sprache als Englisch spricht, meistert ihre Reise leicht: Technische und politische Veränderungen der Welt machen es möglich – und Bly rühmt folgerichtig den englischen Imperialismus dafür, sich die wichtigsten Seehäfen angeeignet zu haben. Es folgt das Lob der kolonialen Gesellschaft – mit Theatern, eleganten Kleidern, Kricketplätzen, Sänften und Trägern.

Hier fühlt sich Bly zu Hause, darüber kann sie spöttisch schreiben und emphatisch lästern, weniger klug und mitfühlend ist sie anderswo. Zwar gibt es schöne Beobachtungen, wie man in Aden kleine Äste zum Zähneputzen benutzt oder sich die Männer dort die Haare mit Kalk ausbleichen. Doch werden die Araber in Port Said stereotyp als schreiende, die Fremden betrügende braune Wesen bezeichnet und China und die Chinesen mit noch üblerem Rassismus beschrieben – begründet wohl in der damaligen antichinesischen Stimmung in den USA.

Was bleibt? Ein erhellender Ausflug in die Anfänge des Tourismus und das Denken der frühen Touristen, sowie ein schöne, ganz unironische und liebevolle Beschreibung eines Treffens mit Jules Verne in Amiens. Denn dafür unterbrach die Reporterin ihre hektische Reise – für einen Tag.

Besprochen von Günther Wessel

Nellie Bly: Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts
Herausgegeben von Martin Wagner, übersetzt von Josefine Haubold
Aviva Verlag, Berlin 2013
320 Seiten, 19,90 Euro
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