Schmaler Grat

Rezensiert von Frank Meyer · 09.08.2005
In dem Abenteuerroman "Im Rausch der Stille" von Albert Sanchez Piñol flüchtet ein irischer Freiheitskämpfer auf eine Insel ans Ende der Welt. Doch in der ersten Nacht geschieht Außergewöhnliches. Wasserwesen greifen ihn an, bis aus einem Kampf auf Leben und Tod schließlich eine besessene Liebe entbrennt.
"Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken." Der erste Satz des Romans "Im Rausch der Stille" von Albert Sanchez Piñol enthält schon die ganze Geschichte – aber das macht nichts, spannend bleibt sie trotzdem.

Das Buch spielt auf einer einsamen, kleinen Insel nahe der Antarktis. Ein ehemaliger irischer Unabhängigkeitskämpfer lässt sich als Wetterbeobachter auf die Insel verpflichten, für ein Jahr in der Stille, wie er glaubt. Er ist noch jung, sein bisheriges Leben galt dem Kampf um die Freiheit von den verhassten Briten. Als sie verjagt waren, errichteten die irischen Führer das gleiche Unterdrückungsregime wie die Briten vorher –das erste Beispiel dafür, wie ähnlich man dem Gehassten werden kann.

Der junge Freiheitskämpfer ist bitter enttäuscht. Auf der einsamen Insel will er zu sich selbst und durch beharrliches Lesen zu den Menschen zurückfinden.

In der ersten Nacht lernt der Wetterbeobachter die Insel wirklich kennen. Plötzlich bersten die Fenster seiner kleinen Hütte, tentakellange Arme drängen herein, mit Haifischhaut, mit sehnigen Muskeln, mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Dutzende von Haimenschen drängen sich um die Hütte, schreien wie Hyänen, krallen sich in die Fensteröffnungen. Sie wollen, glaubt unser Mann, sein Fleisch. Mit brennenden Holzscheiten und panischem Um-Sich-Schießen kann er sie mit knapper Not vertreiben. Wenn sie wiederkommen, denkt der Ire, sterbe ich.

Aber als Logistikfachmann im irischen Untergrund hat er gelernt: Geh ein Problem von seiner technischen Seite an. Er versucht, die Hütte zu befestigen. Die Haimenschen nehmen die Verteidigungsanlagen auseinander. Doch er kommt noch einmal davon.

Ein Ausweg bleibt noch: der Leuchtturm. Dort lebt der zweite Mensch auf der Insel, der vierschrötige, gewalttätige Batis Caffó. Zuerst vertreibt Caffó den neuen, ihm unerwünschten Neben-Insulaner. Der Wetterbeobachter greift zu einem Trick, um Caffó zur Kooperation zu zwingen: Er raubt Caffó die Frau – keine Menschenfrau, sondern eine Haimenschen-Frau. Sie ist auf eine unheimliche Art schön. Caffó hält sich das scheue Wesen als Haustier und Sexsklavin.

Also zwei Männer, eine – sehr eigentümliche – Frau, dazu die Gefahr von draußen. Natürlich greifen die Haimenschen den Leuchtturm an, zu Dutzenden, zu Hunderten, Nacht für Nacht, immer wieder. Die Männern wehren sich mit Gewehren, mit angespitzten Pfählen, mit Äxten und Feuer, am Ende mit Dynamit, das sie aus einem Schiffswrack geborgen haben. So viele Haimenschen sie auch töten, deren Zahl nimmt nicht ab. Die Munition wird knapp.

Die Bedrängten müssen einen anderen Weg finden. Caffó ist dazu nicht in der Lage, er kann sich nichts anderes als den Kampf vorstellen. Der Wetterbeobachter aber entdeckt mit dem Rücken zur Wand die Nähe zu den Haimenschen. Vielleicht verteidigen sie hier nur ihr Revier, das sie von den fremden, menschlichen Wesen bedroht sehen? Vielleicht wollen Sie lediglich ihre Frau aus dem Turm befreien? Vielleicht kann er die Haimenschen ansprechen, auf menschliche Art?

Der Roman könnte mit der simplen Maxime enden: Du musst den Hass in dir selbst besiegen. Albert Sanchez Piñol steuert elegant daran vorbei. Das Buch endet mehrdeutig. Stark ist es in seiner Spannung und der Vision des Anderen. Die haiartigen Raubtiere scheinen uns Menschen sehr fern zu stehen, erst nach und nach zeigen sie mit winzigen Gesten das Menschliche in ihnen.

Geschickt hat Albert Sanchez Piñol mehrere Konfliktebenen übereinander gelegt: der Existenzkampf des Menschen in der südpolaren Natur, die Auseinandersetzungen der beiden Männer, die Konkurrenz um die Frau.

Unaufdringlich zitiert der Roman mit Fischmenschen und Meerjungfrauen populäre Mythologeme. Er lässt an Horrorfilme wie "The Fog – Nebel des Grauens" denken. Das Buch kreist um die Ähnlichkeit mit dem Verhassten, mit der schon der erste Satz eröffnet. Aber das vergisst, wer atemlos und gebannt Seite um Seite umschlägt.

Albert Sanchez Piñol: Im Rausch der Stille
Aus dem Katalanischen übersetzt von Angelika Maass.
S.Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2005.
252 Seiten, 18,90 €