Schlechtes Krisenmanagement

10.08.2011
Der amerikanische Journalist Frederick Kempe überrascht in seinem neuen Sachbuch über die Ereignisse des Jahres 1961 mit einer bemerkenswerten Botschaft: Kennedy habe durch sein unentschlossenes Auftreten mit Schuld am Mauerbau. Fazit: sehr spannend, sehr lesenswert.
Noch ein Buch über den Mauerbau. Noch einmal Chruschtschows Berlin-Ultimatum, sein Zögern, Ulbrichts Drängen, die Uneinigkeit des Westens, das Gipfeltreffen mit Kennedy in Wien, die Massenflucht aus der DDR und "die Maßnahmen", die dem Exodus einen Riegel vorschoben. Schließlich der Showdown der Supermächte im Oktober 1961 am Checkpoint Charlie. Wer die neue Literatur dieses Jahres zu diesem Thema gelesen hat, kennt die Vorgänge bis in die Details. Dass Chruschtschow beeindruckt von einem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des sozialistischen Lagers ab 1958 den Westen in Angst und Schrecken versetzte, letztlich aber nur bluffte; dass er mit Krieg drohte, aber den Atomkrieg unbedingt vermeiden wollte; dass ihm Ulbricht im Nacken saß, weil der viel zäher und strategischer sein Ziel verfolgte, das Schlupfloch West-Berlin zu stopfen und die Kontrolle über die Verkehrswege zu erhalten: All das hat man schon ausführlich lesen können.

Nun also das dicke Buch des amerikanischen Journalisten Frederick Kempe, der die Entwicklung chronologisch verfolgt - an den Orten, an denen die führenden Politiker der beteiligten Mächte (und, nicht zu vergessen, ihre Berater) Pläne schmieden, konferieren, Briefe schreiben, ans Rednerpult treten, Entscheidungen fällen. "Großes Haus, SED-Parteizentrale, Ostberlin. Mittwoch, 4. Januar 1961. Walter Ulbricht stand vor den Teilnehmern einer geheimen Sondersitzung seines Politbüros und kratzte schlecht gelaunt seinen Spitzbart." Kempe vermittelt den Eindruck, ganz dicht dabei zu sein, wenn die entscheidenden Gespräche hinter verschlossenen Türen geführt werden. Sein Buch ist wie ein Dokumentarfilm: Die Kamera schwenkt von einem Ort zum anderen, wir sehen förmlich Jackie Kennedys betörenden Auftritt, der Chruschtschow zu einem balzenden Schuljungen zu machen scheint - oder ihren Mann, wie er in der heißen Badewanne seine dauernden Rückenschmerzen lindert und zugleich seine Berater konsultiert. Lohnt das die Lektüre?

Das Buch ist überaus spannend geschrieben, es liest sich phasenweise wie ein Krimi - wobei allerdings das anekdotische Beiwerk zuweilen eher stört, zumal man nicht sicher ist, wie viel Fantasie des Autors in der szenischen Darstellung steckt. Der Grund für die Spannung ist ein anderer: Kempe verfolgt, wie die US-Administration, und das heißt: vor allem Kennedy und dessen Stab, mit Chruschtschows Angriffen fertig wird. Er beschreibt, wie die Kennedy-Regierung von einer Verlegenheit in die nächste getrieben wird, wie schlecht ihr Krisenmanagement ist, wie sie durch mangelnden Mut Chruschtschow Auftrieb gibt, bis er und Ulbricht schließlich die Verriegelung der Berliner Sektorengrenzen wagen.

Man fragt sich im Laufe der Lektüre mehr und mehr, wie Kennedys Stab überhaupt noch Fuß fasst in diesem Machtkampf der Supermächte. Und erfährt: eigentlich gar nicht. Kennedy selbst erscheint in Kempes Darstellung als intelligent und beratungsoffen, aber die Lösung der Berlin-Frage möchte er am liebsten hinausschieben. Deshalb scheut er auf dem Kampfplatz Berlin den Konflikt und provoziert dadurch den Bruch der alliierten Vereinbarungen durch Chruschtschow am 13. August 1961. Das ist die bemerkenswerte Botschaft dieses Buches: Kennedy habe durch sein widersprüchliches und unentschlossenes Auftreten einen wesentlichen Anteil am Mauerbau. Chruschtschow war, so Kempe, eigentlich sehr unsicher. Diese Schwäche hat Kennedy nicht erkannt, nicht genutzt und durch sein Schwanken selbst beim Showdown im Oktober 1961 am Checkpoint Charlie einen Rückzieher gemacht, der die Position der Westalliierten in Berlin schwächte: Das ist Kempes Vorwurf an Kennedy. Die Folge sei die Kubakrise gewesen, in der es letztlich auch um Berlin gegangen sei, um die Fähigkeit der Sowjets, in Berlin ihren Willen gegen den Westen durchzusetzen. Erst in dieser Krise habe Kennedy begriffen, worum es ging, und durch entschlossenes Handeln Chruschtschow Einhalt geboten.

Diese westliche Perspektive auf den Mauerbau ist - nach den auf die östliche Seite konzentrierten Darstellungen - in der Tat interessant und aufschlussreich. Allerdings ist Kempes Kritik an Kennedy (und seine Sympathie für die Hardliner im US-Regierungsapparat) nur zum Teil nachvollziehbar. Denn Kempe lässt außer Acht, dass Kennedy letztlich konsequent auf der Linie seines Vorgängers blieb: Auch der Republikaner Eisenhower ließ der Sowjetunion in ihrem Machtbereich freie Hand. Dieser Logik folgte der Demokrat Kennedy bei seinem Insistieren auf die alliierten Rechte in West-Berlin. Das war Kennedys Stärke im weltpolitischen Ringen mit Chruschtschow, und deshalb konnte Chruschtschow sich letztlich nicht gegen ihn durchsetzen mit dem Versuch, die Amerikaner im Kalten Krieg entscheidend zu schwächen. Das kommt bei Kempe zu kurz. Sein Buch ist vor allem ein journalistisches Werk, nicht das Werk eines Historikers. Er leistet sich, wo der Historiker abwägen müsste, publikumswirksame Zuspitzung. Trotzdem: sehr anregend, sehr lesenswert!

Besprochen von Winfried Sträter

Frederick Kempe: Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Siedler-Verlag 2011
672 Seiten, 29,99 Euro

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Interview mit dem Autor Frederick Kempe zu "Berlin 1961"
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