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Gebrüder de Goncourt
Tagebuch über ein halbes Jahrhundert

Fast ein halbes Jahrhundert haben die Brüder Goncourt akribisch Tagebuch geführt. Ihre skandalösen Aufzeichnungen über das Pariser Leben zwischen Staatsstreich und Fin de Siècle wurden lange nur in Ausschnitten in "purgierter Fassung" publiziert. Nun erscheint die deutsche Übersetzung dieses monumentalen Werks.

Von Richard Schroetter | 19.05.2014
    Edmond Goncourt
    Der ältere der Brüder Goncourt sagt von sich: "Ich bin ein Melancholiker, ein Träumer." (dpa / picture alliance / bifab)
    Ihre Romane und kulturgeschichtlichen Arbeiten liest heute kaum einer mehr, um so häufiger werden ihre Tagebücher frequentiert als Auskunftei und Anekdotensammlung, als intime Enthüllungen über eine Epoche der gescheiterten Revolutionen und der zynischen Vernunft und der Herrschaft der kapitalistischen Warenwelt. Die ambitionierten Verfasser dieser verkappten "Sittenchronik", die Brüder Goncourt, waren wohlhabende Bürgersöhne, die von der väterlichen Erbschaft lebten. Edmond, der acht Jahre ältere der beiden, sagt von sich:
    "Ich bin ein Melancholiker, ein Träumer."
    Jules hingegen besäße:
    "Fröhlichkeit, lebhaften Esprit, Logik und Ironie."
    Trotz unterschiedlicher Temperamente und der großen Altersdifferenz lebten sie wie Siamesische Zwillinge; teilten sie alles: Haus, Wohnung, Geld, Freundschaften und Frauen, machten sie Ausflüge und Reisen - sammelten sie Kunstwerke und schrieben zusammen Artikel, Aufsätze und Bücher. Ihre Neugierde war unersättlich wie ihr eher naiver Forscherdrang. Ihre Interessen breit gestreut, doch was sie wirklich wollten, blieb ihnen lange verschlossen.
    "Beim Blättern in meinen Erinnerungen entdeckte ich bei mir während meiner ganzen Jugend keinerlei Verlangen, eine Persönlichkeit ersten Ranges zu werden. Ich hatte nur den Ehrgeiz, ein unabhängiges Leben zu führen, in dem ich mich bequem mit Kunst und Literatur beschäftigte, aber als Liebhaber und nicht, wie es gewesen ist, als Sklave des Ruhms."
    Vielleicht am stärksten fühlten sie sich anfangs zu den bildenden Künsten hingezogen. Um sich zu perfektionieren, besuchten sie in Paris Malkurse. Die Zeichnungen, Aquarelle, und Radierungen, die sie in jenen Tagen zustande brachten, befriedigten sie jedoch nicht. Für künstlerische Qualität besaßen sie ein unbestechliches Auge. In dem Moment, wo Jules sich die "volle technische Beherrschung der Malkunst" angeeignet hatte, so erinnert sich Edmond später, hätten sie zur Literatur gefunden.
    "Unvergesslich wie wir eines Abends, von einer unerklärlichen Eingebung getrieben, an dem gleichen Tisch, an dem wir von morgens bis abends zu aquarellieren pflegten, ein Vaudeville schrieben, mit einem in chinesische Tusche getauchten Pinsel."
    Wir wollen nicht wissen, was ohne chinesische Tusche aus den Goncourts geworden wäre. Jedenfalls sei das der Startschuss zu ihrer Schriftstellerlaufbahn gewesen. Die bildenden Künste verlieren sie aber keineswegs aus der Augen. Als Kenner des Metiers, besonders versiert hinsichtlich künstlerisch-technischer Verfahren - als frühe Experten des Rokoko und der japanischen Kunst - machten sie sich über Frankreich hinaus publizistisch einen Namen.

    Doch ihre sensiblen Betrachtungen und Empfindungen werden überlagert und überrollt von den aktuellen politischen Ereignissen von der ganz und gar ästhetikfeindlichen Gegenwart. Von Hochkultur, so stöhnen sie, kann keine Rede sein. Raffinement, Kennerschaft, Esprit sind nicht mehr gefragt. Es regieren das Geld und ein opportunistischer Staatsdirigismus. Statt petit four serviert man lieber Schweinebraten:
    "Jetzt, da die Aristokratie nur noch aus Unkraut, Putzwolle, aus zu Millionären gewordenen Weberknechten aus Lyon und durch die Börse zu Geld gekommenen Leuten besteht, brauchen die Dinge nicht mehr fein, delikat, exquisit zu sein; sie müssen nur noch den Anschein von Reichtum und Unerschwinglichkeit haben. Das grässliche Essen der Restaurants heutzutage ist davon der schlagende Beweis."
    Die neue Ära hatte sich mit einem lauten Paukenschlag angekündigt, mit dem Staatsstreich von Louis-Napoléon Bonaparte, der sich ein Jahr später zum Kaiser der Franzosen ausrufen ließ. Am Tag des Putsches, am 2. Dezember 1851 eröffnen sie das Journal. Edmond de Goncourt:
    "Dieses Tagebuch ist unsere alltägliche Beichte. Unser Bemühen richtete sich darauf, unserer Nachwelt ein getreuliches, lebendiges Bild von unseren Zeitgenossen zu hinterlassen, sie in der eifrigen Mitschrift wieder aufleben zu lassen, durch eine Geste, die ihre Überraschung widerspiegelt, durch diese Anflüge von Leidenschaft, in denen sich die Persönlichkeit enthüllt, durch dieses gewisse Etwas, das dem Leben Intensität verleiht."
    45 Jahre wird dieses Enthüllungs-Journal geführt. 45 Jahre wird abgerechnet, wird darin der Beweis erbracht, dass die Welt um sie herum hohler und hohler wird. 45 Jahre dokumentieren sie auch ihre eigene Ohnmacht als Intellektuelle und letztlich verkannte Künstler. 45 Jahre kämpfen sie gegen ihre eigene nervöse Konstitution, die sie antreibt, beglückt, belastet.
    "Dieses Tagebuch ist unsere alltägliche Beichte"
    "Vom höchsten Gipfel des Vergnügens sind wir zurückgefallen in die Langeweile. Wir sind schlecht organisiert, ermüden schnell. Eine Woche verleidet uns drei volle. Und wir lassen die Liebe zurück mit einer Mattigkeit des Herzen, einem Verblassen unseres ganzen Daseins, einer Erschöpfung unseres Verlangens, einer unbestimmten, unausgesprochenen, grenzenlosen Traurigkeit. Nach ein paar leichten Erregungen und Leidenschaften überkommt uns gewaltiger Überdruss. Ausgequetschte Früchte, Asche bleibt uns."
    Extremer Degoût, das Gefühl der Nichtigkeit wechseln mit euphorischen Momenten und ästhetischen Hochgefühlen ab. Das ist der gewöhnliche Alltag der Goncourts. Das einzige Elixier gegen den Ennui und "die Mattigkeit des Herzens", sei die Arbeit, die Arbeit am Text, an den Büchern, an dem großen work in progress, ihrem Journal.
    So sehr sie das Bürgertum auch hassten, das bürgerliche Arbeitsethos hatten sie blind übernommen. So sind sie Bürger wider Willen wie fast alle ihre Freunde und Kollegen - wie Gustave Flaubert, Alexandre Dumas, Victor Hugo, wie Maupassant, Sainte-Beuves, Ivan Turgenjew oder Emile Zola. Regelmäßig trifft sich eine kleine Clique, mal bei Flaubert, mal Chez Magny, einem beliebten Pariser Restaurant oder bei der Prinzessin Mathilde, der Cousine des Kaisers. Es wird kräftig dann losschwadroniert. Man mokiert sich über die Aufsteiger, das neureiche Gesindel genau so wie über das "gemeine Volk".
    Gewissenhaft wird alles aufgezeichnet, auch was gegen die Verfasser spricht, selbst wenn die Gespräche aufs platteste Stammtischniveau sinken. Auch der Kater danach. Nach einem der Diners Chez Magny notieren die Brüder:
    "Trauriger und ekelhafter Gedanke: die meisten Einfälle hat man beim Dessert. Der Geist entsteht aus der Scheiße, die sich zu bilden beginnt."
    Nur nicht an Höheres glauben, das gehörte zur unausgesprochenen Philosophie, zum Naturalismuskonzept der Goncourts. Sie waren ja der Überzeugung, mit ihren Romanen vor Zola den Naturalismus erfunden zu haben. Dabei war ihnen die Natur ein Dorn im Auge.
    "Die Natur ist eine Schlampe, die im Überfluss Planeten und Filzläuse hervorbringt."
    Zu den strikten Geboten, die sich diese überzeugten Antibürger auferlegen, gehört es, die Wahrheit schonungslos sich ins Gesicht zu sagen. Auf gute alte Freunde wird keine Rücksicht genommen:
    "Es gibt Trennendes zwischen uns und Flaubert. Im Grunde hat er etwas Provinzielles und etwas von einem Poseur an sich. Man spürt irgendwie, dass er all die großen Reisen ein wenig unternommen hat, um die Leute aus Rouen in Erstaunen zu versetzen. Sein Geist ist derb und klebrig wie sein Körper. Seinem büffeligen Frohsinn fehlt es an Charme."
    "Schlecht über andere zu reden und besonders über seine Freunde und Verwandten", gehört zu Programm der Goncourts. Die médisance, die Kunst des Lästerns
    "ist immer noch die größte Belustigung, die der gesellschaftliche Mensch erfunden hat. Was ist die Gesellschaft? Eine Vereinigung der üblen Nachrede."
    Im Visier dieses Journals steht, man kann es an den vielen heute größtenteils vergessenen aber einst um so prominenteren Namen ablesen, der moderne Kulturbetrieb, der sich damals formierte und der unzählige Parallelen zu dem von heute aufweist.
    "Ich finde meine Zeitgenossen zum Kotzen. Da herrscht eine Verflachung der Urteilskraft, ein Verblödung von Meinungen und Denkungsart in der aktuellen Literaturwelt, und zwar in der höchsten. ... ( Bequem und verweichlicht haben in der allgemeinen Atmosphäre der Niedertracht selbst die Freimütigsten, die Engagiertesten und Vollblütigsten den Sinn für Empörung verloren. Nicht alles schön zu finden, was Erfolg hat, tun sie sich schwer."
    Es ist auffällig, wie das einerseits so fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert gerade in der zweiten Hälfte einem oft ressentimentgeladen Pessimismus verfiel. Die Goncourts stehen da keineswegs allein. Man denke nur an Schopenhauer, Nietzsche oder Wagner bei uns. Man denke an die rußgeschwärzten Reflexionen, wie sie Amiel, Leopardi, Kierkegaard oder Tolstoi ihren Tagebüchern anvertrauten. Das gilt auch für Flaubert, dem sich die Goncourts bei allen Differenzen noch am verwandtesten fühlen :
    "Flaubert erzählt mir von seinem tiefen Überdruss, von seiner allgemeinen Enttäuschung, von seiner Sehnsucht, tot zu sein - und tot ohne Seelenwanderung, ohne Weiterleben, ohne Auferstehung, für immer seines Ichs entledigt.
    Während ich ihm zuhörte, kam es mir vor als hörte ich meine täglichen Gedanken. Es ist wirklich so, wir sind alle krank, quasi verrückt, und alle dabei, voll und ganz verrückt zu werden!"
    Es gab aber noch einen anderen weitaus trivialeren Grund, um an dieser Welt irre zu werden. Eine neue Generation rückte nach, die nicht mehr ihre Ideale teilte. Gegen Ende des Journals zieht Edmond Bilanz:
    "27. Jan. 1895 - Welches sind denn im Augenblick die Götter der Jugend? Es sind Baudelaire, Villiers de l'Isle-Adam, Verlaine, - zweifellos drei Männer von Talent: ein sadistischer Bohemien, ein Alkoholiker, ein homosexueller Mörder."
    Wir haben die ganze Zeit von den Gebrüdern Goncourt gesprochen. Doch das ist nur bedingt richtig. Jules, der Begabtere der beiden, starb bereits im Alter von vierzig Jahren an den Folgen der Syphilis - wenige Monate bevor der Krieg 1870/71 ausbrach und die Epoche Napoleon-Bonapartes schmachvoll zuende ging. Ein unersetzbarer Verlust und eine einschneidende Zäsur, wie sich Edmond später erinnert.
    "Nach dem Tod meines Bruders betrachtete ich unser literarisches Werk als fast unmittelbar darauf bewegten mich die tragischen Ereignisse der Belagerung der Commune, das Tagebuch fortzuführen, dem ich noch immer von Zeit zu Zeit meine Gedanken anvertraue.
    Edmond überlebt den jüngeren Bruder um 26 Jahre. Cirka 75 Prozent dieses monumentalen Werks - die Bände 5 bis 11 in dieser Ausgabe, die den Zeitraum von den Anfängen der 3. Republik bis zum Fin de Siècle umspannen - hat also Edmond allein verfasst. Seine Stimme überwiegt, er hat das Journal fortgesetzt, redigiert und redaktionell betreut, - hat ihm den letzten Stempel aufgesetzt.
    Fast ein halbes Jahrhundert französische Kultur- Literatur- Alltagsgeschichte haben die Goncourts durchlebt und mitprotokolliert. Sie gehören zu den Vätern, das veranschaulichen diese 6728 Seiten sehr gut, der heutigen Bloggerkultur.
    Der Haffmanns Verlag hat sich alle Mühe gegeben, dieses gewaltige Textmassiv verdaulich zu machen. Hilfreiche Anmerkungen sorgen für mehr Transparenz und helfen dem heutigen Leser, sich in diesem uferlosen Labyrinth einigermaßen zurecht zu finden. Ein zusätzliches Beibuch mit einem einführenden Essay von Klaus Harpprecht mag den Einstieg erleichtern. Dort findet man neben einer kleinen Bildergalerie auch eine Goncourt-Chronik und ein fast 300 Seiten langes Register, in dem die Namen von circa fünftausend Personen alphabetisch aufgeführt sind, von all den Leuten, die den Goncourts begegneten und die ihnen wichtig waren.
    Die Übersetzungen von Cornelia Hasting und Petra-Susanne Räbel sind um größtmögliche Verständlichkeit bemüht. Die vielen Passagen in indirekter Rede, der saloppe, bisweilen unverschämt aufgereizte Ton des französischen Originals, sind ja nicht leicht zu treffen. Merkwürdigerweise hat man für den letzten Band noch die viel gefragte Caroline Vollmann hinzugezogen. Doch ausgerechnet ihre Übersetzung wirkt weniger gelungen.
    Edmond und Jules de Goncourt: "Journal 1851 - 1896".
    11 Leinenbände (Lesebändchen. Fadenheftung) plus Beibuch (Broschur) im Schmuckschuber.
    Zweitausendeins 2013, 250,00 Euro.