Schlagabtausch mit dem Ich

Von Tobias Wenzel · 18.09.2006
Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész hat seine Autobiographie in ungewöhnlicher Form geschrieben: Er befragt sich darin selbst in Form eines Interviews. Der fragende und der antwortende Kertész hätten sich dabei unter seiner Feder verselbstständigt, gibt der Schriftsteller verschmitzt zu.
Imre Kertész: "Ich habe eine Autobiographie auf zwei Stimmen geschrieben. Alles ist von mir, was da ist. Doch ich habe sozusagen ein zweites Ich losgelassen. Ich selbst hätte nie eine Autobiographie gemacht, wenn diese Form mich nicht verführt (hätte)."

Diese Form, ein Gespräch mit sich selbst über sein Leben, drängte sich Imre Kertész auf. Sein Freund und Lektor Zoltán Hafner hatte mit Imre Kertész ein langes Interview über dessen Leben geführt und dem ungarischen Nobelpreisträger eine Abschrift der Tonbandaufzeichnung geschickt. Schon die ersten Sätze des Interviews missfielen Imre Kertész. Doch die Form faszinierte ihn. Und so setzte er sich an den Computer und schrieb sein eigenes großes Interview, seine autobiographische Selbstbefragung.

Allerdings ist der fragende Imre Kertész in einigen biographischen Details dann doch ein wenig verschieden von dem antwortenden. Aber das gehört zum Spiel des Selbstgesprächs. Das führt Imre Kertész schnell zu der Zeit, in der er als 14-jähriger Junge aus Budapest aus einem Bus geholt und nach Auschwitz und später nach Buchenwald gebracht wurde. Als Kind hatte Imre das, was Jean Améry "Weltvertrauen" nannte. Den Glauben an die Mitmenschen und die Zuversicht:

"Ein Kind hat von Natur dieses Weltvertrauen. Und ich glaube, dieses Weltvertrauen hat mich in diesem Konzentrationslager erhalten. Mir war es ganz klar, (...) dass diese erwachsenen Leute um mich werden mir nach Hause helfen. Ich hatte dieses Weltvertrauen nicht verloren, trotz dem, was ich alles gesehen habe. Ich glaube, das ist nur bei einem Kind möglich, weil wenn man älter wird, zerbricht dieses Weltvertrauen viel schneller."

Imre Kertész hatte aber dieses Weltvertrauen, blieb, wie der Junge Köves in seinem "Roman eines Schicksallosen", durch eine Kette unglaublicher Zufälle am Leben und wurde 1945 von den Alliierten befreit. Doch die Freiheit währte nicht lang. Imre Kertész schlitterte von der nationalsozialistischen Diktatur ins stalinistische Ungarn. Die neue Diktatur hat ihm, so absurd das klingen mag, das Leben gerettet, analysiert er in seinem Selbstgespräch "Dossier K."

Als Imre Kertész über diese Zeit sprechen soll, zögert er und bemerkt schließlich, er habe Angst, das zu "verwässern", was er so präzise in seiner Autobiographie formuliert habe. Dann spricht er doch darüber, inwiefern die zweite Diktatur für ihn eine Rettung bedeutete:

"Wenn man die Freiheit erfahren hat, einmal, und wenn man angefangen hat, diese Freiheit zu seiner zu machen, dann muss man diese schrecklichen Erfahrungen, die man in einer Diktatur gemacht hat, beiseite schieben irgendwie, oder, wenn man sich damit auseinandersetzen will, dann muss man daran sterben. Und die Welt um ihn spricht von etwas anderem. Und dort ist seine Erfahrung, die von der Diktatur kamen, so zerbrechlich, so überflüssig vielleicht, dass man diese Einsamkeit sehr schwer ertragen kann."

Es sei kein Zufall, so Kertész, dass einige Holocaust-Überlebende wie Jean Améry und Tadeusz Borowski gerade in Demokratien Selbstmord begangen haben. Er, Imre Kertész, jedoch lebte in einer Diktatur. Es ärgert ihn, wenn Außenstehende behaupten, das kommunistische Ungarn von einst sei keine wirkliche Diktatur gewesen:

"Solange eine Diktatur, die Kádar-Dikatur, als Gulasch-Diktatur gelobt ist, so lange versteht man nicht, warum das eine Diktatur ist. Fast alles war da, nur die Freiheit nicht. Also das war sehr korrumpierend, dieser lockere Kommunismus. Das hat so tiefe Frustration in dem allgemeinen Bewusstsein, dem allgemeinen Konsens, eingebracht, eigentlich noch heute kann man diese verzerrte und groteske Denkweise nicht überwinden."

Im kommunistischen Ungarn schrieb Imre Kertész sein bis heute bekanntestes Werk, den "Roman eines Schicksallosen", auch als Bewältigung der eigenen Holocaust-Vergangenheit. Seinen Lebensunterhalt verdiente der Autor damals, indem er Komödien für das Budapester Theater schrieb. Ironisch bemerkt Kertész in "Dossier K.", er sei morgens ein konformistischer Komödienschreiber gewesen und nachmittags ein kritischer Romancier.

Für Imre Kertész bedeutete die Wende in Ungarn 1989 die zweite Befreiung nach Buchenwald. Jedenfalls am Anfang. Später fühlte er sich unwohl in Budapest, verspürte eine Schreibhemmung. Seine Frau ermutigte ihn dazu, nach Berlin umzuziehen, um dort weiter zu schreiben. Es funktionierte. Imre Kertész erklärt das mit einem Satz aus seinem Buch "Ich - ein anderer":

"'Man kann nicht die Freiheit dort kosten, wo man die Knechtschaft erduldet haben musste‘. Aber ich habe nicht gedacht, dass ich eine ganz tiefe Wahrheit beschreibe mit diesem Satz, für mich entscheidenden Satz. Es war nicht über Nacht eine Entscheidung, dass ich in Berlin werde leben. Sozusagen langsam bin ich ein Berliner geworden."

Und da er nun vor allem in Deutschland lebt und arbeitet, wird er sehr oft zu Holocaust-Gedenkveranstaltungen eingeladen. Doch die lehnt er in der Regel ab. Das Gedenken an Auschwitz sei zu sehr zum Ritual geworden, heißt es in "Dossier K." an einer Stelle:

"Man geht hin, legt die Blumen hin und geht nach Hause und fortsetzt sein Leben wie bisher. Auschwitz ist nicht erlebt, nur von denen, die gestorben sind oder den wenigen, die rausgekommen sind. Und die rausgekommen sind, die denken nach Auschwitz vielleicht nicht genug radikal über Auschwitz. Und die nicht dort gewesen sind, können und wollen Auschwitz sich nicht vorstellen. Das ist ganz gut verständlich. Also diese jährlich sich wiederholende Feier hat immer weniger Lebendiges."

Diese Betrachtungen könnten den Eindruck entstehen lassen, Imre Kertész habe eine Autobiographie geschrieben, die frei von Humor ist. Weit gefehlt. Immer wieder lässt der Autor den Leser unerwartet auflachen. So auch, als Imre Kertész über seine frühesten Kindheitserinnerungen spricht, die Zeit, in der sich seine Eltern kurz vor ihrer Trennung unaufhörlich stritten. Sein Vater wollte verhindern, dass seine Mutter ins Schwimmbad ging. Er war nämlich eifersüchtig und vermutete, sie würde dort neue Männer kennenlernen. Letztlich endete die Auseinandersetzung in beiderseitiger Zerstörungswut:

"Diese Szene dort, wo mein Vater zerreißt die Badekappe meiner Mutter [LACHT] und meine Mutter kommt mit der Schere und dem Hut ... Das ist natürlich humoristisch. Da zu sein in diesem Moment und da zu sein als vierjähriges Kind, war kein Humor. Das Kind hat nicht gelacht, es hat geweint. Dann, später, also zurückblickend, war es natürlich eine Groteske."

Imre Kertész' Autobiographie entbehrt jedoch nicht der Lebendigkeit. Und das liegt auch an der Form: dem eigentlich unmöglichen Gespräch mit sich selbst:

"Ja, das ist ein großer Widerspruch. Wenn wir Widersprüche ablehnen, dann werden wir zu theoretisch. Die Widersprüche halten die Sachen am Leben, von denen neue Ideen entstehen, solche Gedanken, die die Welt nicht in die Tasche stecken, also mit einem Urteil. Das ist das Leben: die Widersprüche!"

Service:
Imre Kertész Autobiographie erscheint unter dem Titel "Dossier K. Eine Ermittlung" am 22.9.06 bei Rowohlt.