Schikanen, Folter, Massaker

01.07.2013
Mit "Der Schrecken verliert sich vor Ort" bricht die Autorin Monika Held die Routine im Gedenken an Auschwitz auf. Ihr Doku-Roman schildert den Lagerhorror aus der Sicht eines überlebenden Häftlings - und wie ihn das monströse Kapitel deutscher Geschichte auch nach 1945 nicht loslässt.
Heiner Rosseck, Häftlingsnummer 63387, ein Kommunist aus Wien, hat zwei Jahre Auschwitz überlebt – im Akkord Todesmeldungen schreibend. Von den 1860 Menschen, die im September 1942 mit seinem Transport ins Lager kamen, starben 1856. Gleich nach der Ankunft mussten sie stundenlang splitternackt im kalten Regen stehen:

"Der Mann neben Heiner hieß Simon. Ein Jude aus Wien, Rechtsanwalt, Heiner kannte ihn. Ein starker Kerl. Nach zwei Stunden fiel er um. Herzinfarkt, der schönste Tod, der hier passieren konnte."

Es sind viele unschöne Tode, die in Monika Helds Doku-Roman "Der Schrecken verliert sich vor Ort" geschildert werden. Grässliche Tode, Schikanen, Folter, Massaker, die Heiner beobachtet hat, denn das war sein Impuls zum Durchhalten: eines Tages Bericht erstatten zu können. Als in den 60er-Jahren die Auschwitz-Prozesse stattfinden, reist er als Zeuge erstmals wieder nach Deutschland und kollabiert auf dem Flur des Frankfurter Gerichts. Die junge Dolmetscherin Lena hilft ihm auf – es ist der Beginn einer großen, unendlich viel Verständnis erfordernden Liebe. Denn Überlebende sind anstrengend in ihrer Fixierung, auf das, was einmal war und für sie nicht mehr vergeht.

So wechseln die dokumentarischen Szenen, die in krassem Realismus den KZ-Horror vergegenwärtigen (die Autorin hat viele authentische Berichte von Überlebenden eingearbeitet), mit einfühlsamen Passagen über das heikle Zusammenleben mit einem gezeichneten Mann. Bei ihrem ersten Besuch in Wien fordert Heiner Lena auf, den Finger in ein Senfglas voller Muschelreste zu bohren – so sieht es jedenfalls aus. Aber es ist keine Reminiszenz an einen Strandurlaub, es sind feingemahlene Knochensplitter, wie sie auf den Wegen in Birkenau leise unter den Füßen knirschen. Täglich wartet nun auf Lena ein solches Glas, randvoll mit bitterer Erinnerung. Auschwitz bleibt eine pervertierte Form von Heimat für Heiner und seine Gefährten.

Strategien des Weiterlebens
Das Besondere dieses Buches ist der weite zeitliche Rahmen: von den 20er-Jahren und der gefestigten linken Sozialisation Heiners in Wien bis zum Kriegsrecht-Polen von 1982, als Heiner und Lena mit einem Lastwagen voller Hilfsgüter in die ehemaligen Regionen des Lagerschreckens fahren und andere Überlebende besuchen, die ihre Geschichten und Weiterlebensstrategien beitragen.

Anders als in Romanen wie Littells "Wohlgesinnten" geht es in keinem Moment um moralisches Zwielicht und interessante Nazis. Oder um die entsetzlichen Versuchungen der Kollaboration wie in Aleksandar Tismas "Kapo". Für die Abgründe, Verwerfungen und Schattierungen des Bösen in den Täterseelen interessiert Monika Held sich nicht. Heiner wirft den Deutschen vielmehr vor, dass sie sich zu sehr mit den Tätern beschäftigen. In diesem Buch sind die Nazis schemenhafte Schergen, Funktionäre des Grauens.

Ob dies ein gelungener Roman ist – diese Frage stellt sich bei der Lektüre bald nicht mehr. Es ist ein sehr eindringliches Buch, das die Routine im Gedenken an Auschwitz aufbricht und den Leser mit frischer Erschütterung auf dieses monströse Kapitel deutscher Geschichte blicken lässt, das 1945 nicht zu Ende war. Denn die überlebenden Opfer waren meist noch so jung wie die in der Banalität des Unbösen untergetauchten Täter.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Monika Held: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Roman. Nachwort von Margarte Mitscherlich
Eichborn Verlag, Berlin 2013
271 Seiten, 19,99 Euro
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