Schieflagen

Von Eckhard Jesse |
Während Publikationen über intellektuelle Linksextremisten rar sind, ist die Zahl der Veröffentlichungen zum intellektuellen Rechtsextremismus Legion. Dabei gibt es eine beträchtliche Diskrepanz zwischen Quantität und Qualität. Vor allem springt der diffuse Gebrauch des überstrapazierten Begriffs der "Neuen Rechten" ins Auge, der unterschiedliche Deutungen erfährt, aber stets negativ konnotiert ist.
Immer wieder ist von der "Gefahr" die Rede, ohne dass eine realistische Einschätzung erfolgt. Vor allem kommt die Analyse zu kurz. Wer vollmundige Aussagen von Rechtsextremisten für bare Münze nimmt, könnte zum Ergebnis gelangen, die Strategie der kulturellen Hegemonie kleiner rechtsextremistischer Zirkel sei von Erfolg gekrönt. Für viele Autoren setzen sich Konservative nicht ausreichend von Rechtsextremisten ab.

Der Topos vom Anti-Antikommunismus spielt seit den siebziger Jahren in intellektuellen Kreisen der Bundesrepublik eine deutlich größere Rolle als etwa der Antikommunismus. Der Antifaschismusbegriff findet bis ins liberale Lager hinein Verwendung, während der Antikommunismusbegriff - oft mit dem Epitheton "primitiv" versehen - schnell unter Ideologieverdacht gerät.

Antiextremistisches Denken hat sich partiell aufgelöst, Äquidistanz fehlt. Die Erosion der Abgrenzung zumal zwischen demokratischen und linksextremistischen Intellektuellen hält auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus an. Allerdings bedarf die These von der Abschwächung antiextremistischen Denkens einer vierfachen Differenzierung: Erstens kommt es nicht so sehr auf das politische Klima an als vielmehr auf die reale Politik. Hier haben antifaschistische Denkmuster weniger durchgeschlagen.

Zweitens ist die Verstiegenheit gesellschaftsverändernder Theorie und deren Relevanz gegenüber den 70er Jahren im Rückgang begriffen. Drittens sind bei der - wenig meinungsbildenden - "schweigenden Mehrheit" die Vorbehalte gegenüber linksextremistischen Positionen ausgesprochen groß, während rechtsextremistische Denkmuster - in populistischer Verkleidung - zum Teil auf fruchtbaren Boden fallen. Viertens schließlich ist die Distanz linker demokratischer Intellektueller gegenüber antidemokratisch-antifaschistischen Strategien durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa etwas gestiegen.

Gleichwohl: In Teilen der Gesellschaft hat ein doppelter Wandel eingesetzt. Gegenüber dem politischen Extremismus von links dominiert halbherzige Abwehrbereitschaft, gegenüber dem von rechts hingegen eine militante. Es handelt sich mithin um ein relativistisches Demokratieverständnis nach links, um ein gleichsam absolutistisches nach rechts. Das gilt zumal für das Feld der links- und rechtsextremistischen Intellektuellen. Solche Orientierungen verstoßen gegen die Prinzipien einer selbstbewussten streitbaren Demokratie, die Freiheitlichkeit weder aufs Spiel setzt noch Streitbarkeit als Attrappe ansieht.

Gewiss gibt es beträchtliche Unterschiede im Argumentationshaushalt von Rechts- und Linksextremisten. Die extreme Linke bejaht - jedenfalls verbal - die "Ideen von 1789", während die extreme Rechte sie entschieden bekämpft. Gleichwohl darf diese fundamentale Differenz zwischen rechts- und linksextremistischen Intellektuellen den folgenden Punkt nicht vergessen machen: Beide Strömungen lehnen den demokratischen Verfassungsstaat ab.

Gegenwärtig laufen viele Gefahr, die intellektuelle extreme Rechte zu überschätzen, dieselbe Variante von links hingegen in ihrem Wirkungsradius zu unterschätzen. Der demokratische Verfassungsstaat darf aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht mit zweierlei Maß messen.

Wer auf der einen Seite einer Strategie der "Ächtung" und des blinden "Alarmismus" das Wort redet, auf der anderen Integration um jeden Preis propagiert, perpetuiert die Schieflage. Die unterschiedliche Wahrnehmung links- und rechtsextremistischer Intellektueller ist ein Kennzeichen der politischen Kultur Deutschlands.

Machen wir zum Schluss ein Gedankenexperiment: Wäre der "Schwarze Block" in Heiligendamm ein "brauner Block" gewesen, die Suche nach Hintermännern aus der "Neuen Rechten" hätte Hochkonjunktur.

Eckhard Jesse, 1948 geboren in Wurzen bei Leipzig. Studium der Politik- und der Geschichtswissenschaft an der FU Berlin (1971-1976). Von 1978 bis 1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Hochschulassistent und Hochschuldozent an der Universität Trier. 1990 bis 1993 Gastprofessuren an den Universitäten München, Trier, Mannheim und Potsdam. Seit 1993 Lehrstuhlinhaber im Fach Politikwissenschaft ("Politische Systeme, politische Institutionen) an der TU Chemnitz. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Extremismus-, Demokratie-, Parteien- und Deutschlandforschung. Er ist seit 1989 Herausgeber des "Jahrbuchs Extremismus & Demokratie".