Schicksale des Stalinismus

01.04.2013
Victor Zaslavsky beschreibt in der titelgebenden von insgesamt sechs Erzählungen einen hoch geachteten Professor, der in Ungnade fällt, als er sich weigert, grundlos eine Kirche zu zerstören. Aus Not nimmt er einen neuen Job an: die Ausbildung von Studenten aus Entwicklungsländern für terroristische Anschläge.
Ein Junge verbringt die Kriegsjahre elternlos in der Evakuierung. Zur neuen Bezugsperson am fremden Ort, Tausende Kilometer entfernt, wird die alternde Nadeschda. Ihr Name ist im Russischen das Wort "Hoffnung" – so heißt auch die erste der sechs Geschichten.

Sie beginnt mit einer frühen Erkenntnis des Kindes und Ich-Erzählers Zaslavsky, die weitgehend den Grundton der hier versammelten Prosa prägt: Selbst in angstvollen Momenten lohnt es nicht der Tränen. Nadeschda hat in antisemitischen Zeiten ihre Angst überwunden. Viktor, das jüdische Kind, ersetzt ihr den verlorenen Sohn. Geradezu paradiesisch die Schlussszene, als Nadeschda dem Jungen in einer Lichtung frisch gepflückte Walderdbeeren reicht und die eigentliche Bedeutung ihres Namens erklärt: "Ich vergesse die unangenehmen Dinge und behalte nur die schönen in Erinnerung."

Der Soziologe und Wissenschafts-Autor Zaslavsky (1937-2009) vergisst die "unangenehmen Dinge" in der früheren Sowjetunion keineswegs. Er vermittelt sie hier in sehr persönlicher Form: "Lebensgeschichten" lautet der Untertitel. Zaslavsky beschreibt Einzelschicksale, aber auch Alltagserfahrungen seiner Verwandten, Schulfreunde oder Dozenten und beschreibt an ihren Beispielen das System der Einschüchterung in den 40er- bis 70er-Jahren (als Zaslavsky emigriert). Selbst für tragische Geschichten findet er einen sanften, fast humorvollen Ton und enthüllt wie beiläufig die ihnen innewohnenden Absurditäten und Details sowjetischer Lebensrealitäten. Auch das macht den Sog der Lektüre so groß.

"Der Aufstand der alten Damen" beschreibt den Protest zweier Rentnerinnen gegen die wochenlange Verdunkelung ihrer Wohnung mit riesigen, über den Fenstern ausgerollten Transparenten von Funktionärs-Köpfen ("Bild-Propaganda"). Erst als das Studium einer Nichte in Gefahr gerät, beenden die Damen ihren Kampf - nicht ohne Spott angesichts der bizarren Gesichtszügen der gemalten Plakate, die aufgrund des hohen Bedarfs recycelt und mit anderen Politikerköpfen kombiniert wurden: "Und überhaupt … kann man das ein Gesicht nennen? Passt doch eher in seinen Hosenboden."

Die titelgebende "Sprengprofessor" ist ein hochgeachteter Dozent und Experte im Einsatz von Sprengstoff - ein "Dichter des Sprengens". Auf dem Höhepunkt seiner Karriere fällt er in Ungnade, als er sich weigert, grundlos eine Kirche zu zerstören, in der schon Dostojewskijs "Raskolnikow" gebetet hat. Aus Not nimmt er einen neuen Job an: die Ausbildung von Studenten aus Entwicklungsländern für terroristische Anschläge. Terror statt Kultur ist ein wiederkehrendes Muster der Geschichten. Sie gehen einem nicht mehr aus dem Kopf.

Rezensiert von Olga Hochweis

Victor Zaslavsky: Der Sprengprofessor
Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Judith Elze beziehungsweise aus dem Russischen von Sylvia List
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013
144 Seiten, 15,90 Euro
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