Schichten freilegen

Von Tobias Wenzel |
Dass in guter Dichtung nicht viel passieren muss, dafür ist der 36-jährige Nico Bleutge ein Beispiel. Man könnte ihn einen modernen Landschafts- oder Naturdichter nennen. Gerade hat er seinen zweiten Lyrikband "fallstreifen" mit Texten vor winterlicher Kulisse veröffentlicht. Die Kritik ist begeistert.
Aus Gedichtband "fallstreifen", Zyklus "dienstbare Tiere":

wasser inzwischen, reifenspuren
wo nachts die farne sich bewegen
war der marder unterwegs, hier
hat er blut gelassen, federn
das vogeljunge im schnee


Nico Bleutge, ein großer, schlanker Mann mit blauen Augen und zum Pferdeschwanz gebundenen blonden Haaren, spaziert durch den zugeschneiten Rudolph-Wilde-Park in Berlin. Es sind minus 15 Grad. Trotz der Handschuhe, dem schwarzen Wollmantel und dem dicken Pullover darunter – gegen die Kälte hilft nur eins: die Schrittgeschwindigkeit zu erhöhen.

Immer wieder das Wort "Schnee" in Nico Bleutges zweitem und aktuellem Gedichtband "fallstreifen". Schließlich beschreibt der 1972 in München geborene Autor und Literaturkritiker in seinen neuen Versen Landschaften im Winter. Es ist aber viel mehr als Landschaftsdichtung. Der Schnee zum Beispiel ist für Nico Bleutge auch ein Mittel, um Phänomenen wie Vergänglichkeit und Erinnerung nachzuspüren:

Bleutge: "...indem der Schnee eben Dinge bedeckt, in Schichten sich ablagert, zu Eis gefrieren kann. Und je nachdem, wie er seine Struktur verändert, wahrscheinlich auch die Dinge, die darunter liegen. Diese ganze Bildlichkeit, die damit zusammen hängt, die verschiedenen Schichten und Materialien und wie sie andere Dinge bedecken – das hat mich sehr gereizt am Schnee und auch am Eis."

Touristen suchen die Insel Sylt meist im Sommer auf. Nico Bleutge lebte dort aber einmal im Winter. Und machte eine Entdeckung:

"Im Schnee und Eis durch eisüberzogene Dünen zu laufen, ne ganz neue Wahrnehmungserfahrung. Und dort bin ich eben eines Tages durch die Dünen marschiert und über einen Stein gestolpert. Und als ich dann näher nachgeforscht habe, hat sich dann herausgestellt, dass es kein Stein ist, sondern die Kante eines Bunkers, der dort in die Dünen eingelassen ist."

Die vermeintliche Idylle einer malerischen Insel wird gebrochen durch die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Bleutge forscht nach, geht in Archive, spricht mit Zeitzeugen auf der Insel, um mehr über die Rolle Sylts im 1. und 2. Weltkrieg zu erfahren. Es entsteht ein Gedichtzyklus.
Woher kommt die Neigung zur Literatur? Vom Vater jedenfalls nicht:

"Ein sehr nüchtern denkender Jurist, wie man ihn sich auch klassisch vorstellt. Der hat Sachbücher gelesen. Aber mit Belletristik hat er herzlich wenig am Hut gehabt. Ganz anders meine Mutter, die nicht nur sehr sprachbegeistert ist selber, Übersetzerin, sondern auch leidenschaftlich schon immer gelesen hat. Das waren schon sehr schöne Anregungen, die ich da bekommen habe."

Mit seiner Mutter hat Nico Bleutge viel über Bücher gesprochen. Vielleicht arbeitet er heute auch deshalb als Literaturkritiker. Anfangs war er freier Mitarbeiter der Stuttgarter Zeitung. Im nahe gelegenen Tübingen hat Nico Bleutge Germanistik, Rhetorik und Philosophie studiert und dort lange gelebt. Zuletzt am Rande der Stadt, jahrelang, ohne in die Altstadt zu gehen. Jetzt lebt er in Berlin. Denn er braucht die Kulisse der Großstadt für einen längeren Prosatext:

"Und nach 15 Jahren schwäbischer Provinz ist da auch irgendwie mal die Luft raus. Und so ein Luftwechsel kann ganz gut tun. Im Grunde ist Tübingen eine schwäbische Kleinstadt, die sehr provinziell ist auch, was die Haltung der Leute dort betrifft, und nur durch die große Uni – 30.000 Stundenten sind da immerhin – ein bisschen Weltläufigkeit bekommt. Sonst, glaube ich, wäre es sehr schwer, Tübingen dauerhaft zu ertragen."

Aus der Provinz in die vor Menschen wimmelnde Großstadt. In Nico Bleutges beiden Gedichbänden begegnet man, zumindest auf den ersten Blick, fast keinen Menschen. Dafür Landschaften, Geräuschen, Gerüchen. Zeugnisse eines zurückgezogen lebenden Menschen?

"Ich habe viele, gute, enge Freunde, mit denen ich sehr gern zusammen bin. Aber das Schreiben funktioniert eben gerade so, dass man, wenn man in einem bestimmten Text drin ist, sich dann wochenlang aus der Welt ausklingt. Der Rekord ist wirklich so drei Monate, in denen ich dann ganz für mich nur war. Wenn man dann auf einmal merkt, man fängt an, mit sich selber zu reden, dann ist es höchste Zeit, wieder nach draußen zu gehen, wieder in die Welt hineinzuwachsen und zurückzukommen."

Fragt sich, ob irgendwann auch Menschen seine Gedichte zahlreich bevölkern. In seinem zweiten Band "fallstreifen" trifft man im Gegensatz zu seinem Erstling etliche Tiere an. Nico Bleutge schmunzelt:

"Das ist auf Anregung einer Bekannten, die mal meinte: 'Es kommen wirklich keine Lebewesen in deinen Gedichten vor.' Und ich dachte mir: Wenn schon nicht Menschen, dann wenigstens Tiere."

Aus Gedichtband "fallstreifen", Zyklus "dienstbare Tiere":

baumwurzeln, unter der feuchten erde
schlagen die maulwürfe wieder zu
auf dem zaunpfosten, unruhig, sitzt der bussard
und hebt ab. schraubt sich tief
in den wachsenden weißen himmel
rändert die luft


Service:
Heute (14.1.2009) um 19 Uhr liest Nico Bleutge in Karlsruhe aus seinem neuen Gedichtband "fallstreifen". Und zwar im Blauen Salon der Hochschule für Gestaltung. Weitere Lesungen: am 18. Januar in Christian-Wagner- Haus in Leonberg und am 24. Januar im Sony-Center in Berlin.